60. Der Erste Weltkrieg löste keines der Probleme, die ihn verursacht hatten. Europa blieb in verfeindete Mächte gespalten. Der deutsche Imperialismus, der versucht hatte, Europa nach seinen Bedürfnissen neu zu organisieren, war durch den Versailler Vertrag geknebelt, England und Frankreich durch den Krieg ausgeblutet. Die aufsteigende amerikanische Großmacht setzte Europa auf Rationen. Der europäische Kapitalismus litt an ständigen Fieberattacken in Form von Inflation, Börseneinbrüchen, politischen Krisen und Klassenkämpfen. Ihre bösartigste Form fand seine Krankheit im Wachstum des Nationalsozialismus.
61. Der Nationalsozialismus war Ausdruck der reaktionärsten und brutalsten Tendenzen des deutschen Kapitalismus. Das ist der Schlüssel zu seinem Verständnis. Die soziale Zusammensetzung und Psychologie seiner Anhänger kann Hitlers Aufstieg aus einem Wiener Obdachlosenasyl und den Schützengräben des Weltkriegs zum größenwahnsinnigen Diktator nicht erklären. Er verdankte seine Macht der herrschenden Elite, die ihn an die Spitze des Staates setzte. Die Millionenbeträge, die Thyssen, Krupp, Flick und andere Großindustrielle an die NSDAP spendeten, Hitlers Ernennung zum Kanzler durch Hindenburg, die Symbolfigur des Heeres, und schließlich die Zustimmung aller bürgerlichen Parteien zum Ermächtigungsgesetz legen beredtes Zeugnis ab, dass sich die große Mehrheit der herrschenden Elite hinter Hitler stellte, als alle anderen Mechanismen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse versagten.
62. Was die Nationalsozialisten von den anderen bürgerlichen Parteien unterschied, war ihre Fähigkeit, die Verzweiflung des ruinierten Kleinbürgertums und die Wut des Lumpenproletariats zum Rammbock gegen die organisierte Arbeiterbewegung zu machen und in den Dienst des deutschen Imperialismus zu stellen. „Um zu versuchen, einen neuen Ausweg zu finden, muss sich die Bourgeoisie vollends des Drucks der Arbeiterorganisationen entledigen, sie hinwegräumen, zertrümmern, zersplittern“, warnte Trotzki 1932. „Hier setzt die historische Funktion des Faschismus ein. Er bringt jene Klassen auf die Beine, die sich unmittelbar über das Proletariat erheben und fürchten, in dessen Reihen gestürzt zu werden, organisiert und militarisiert sie unter Deckung des offiziellen Staates mit den Mitteln des Finanzkapitals und treibt sie zur Zertrümmerung der proletarischen Organisationen, der revolutionären wie der gemäßigten.“ [31]
63. Der Nationalsozialismus konnte sich nicht damit begnügen, die Kommunistische Partei zu unterdrücken: „Der Faschismus ist nicht einfach ein System von Repressionen, Gewalttaten, Polizeiterror. Der Faschismus ist ein besonderes Staatssystem, begründet auf der Ausrottung aller Elemente proletarischer Demokratie in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Aufgabe des Faschismus besteht nicht allein in der Zerschlagung der proletarischen Avantgarde, sondern auch darin, die ganze Klasse im Zustand erzwungener Zersplitterung zu halten. Dazu ist die physische Ausrottung der revolutionärsten Arbeiterschicht ungenügend. Es heißt, alle selbständigen und freiwilligen Organisationen zu zertrümmern, alle Stützpunkte des Proletariats zu zerstören und die Ergebnisse eines dreiviertel Jahrhunderts Arbeit der Sozialdemokratie und der Gewerkschaften zu vernichten. Denn auf diese Arbeit stützt sich in letzter Instanz auch die Kommunistische Partei.“ [32]
64. Die Mitglieder der nationalsozialistischen Bewegung stammten – zumindest bis zu ihrer Machtübernahme – fast ausschließlich aus den Mittelklassen. Sie rekrutierten sich aus den Handwerkern, Krämern, Angestellten und Bauern, denen Krieg, Inflation und Krise den Glauben an den demokratischen Parlamentarismus geraubt hatten und die sich nach Ordnung und einer eisernen Hand sehnten. An der Spitze der Bewegung standen Offiziere und Unteroffiziere des alten Heeres, die sich nicht mit der Niederlage im Weltkrieg abfinden wollten. Das Programm der nationalsozialistischen Bewegung war dagegen alles andere als kleinbürgerlich. Es übersetzte die Grundbedürfnisse des deutschen Imperialismus in die Sprache der Mythologie und der Rassentheorie. Der Traum vom „tausendjährigen Reich“ und der Hunger nach „Lebensraum im Osten“ verliehen dem Expansionsdrang des deutschen Kapitals Ausdruck, dessen dynamische Produktivkräfte durch das engmaschige Staatensystem Europas erwürgt wurden. Der Rassenwahn tröstete den deutschen Kleinbürger über seine reale Ohnmacht hinweg und bereitete ihn auf den Vernichtungskrieg vor.
65. Selbst der Antisemitismus der Nazis hatte einen rationalen Kern. Die systematische Vernichtung von mehr als sechs Millionen Juden, Sinti und Roma durch Hitlers Regime wird oft als historisch „einzigartig“ bezeichnet. Soweit damit das Ausmaß der kriminellen Energie gemeint ist, die systematische, industriell durchorganisierte, unter Einsatz von Teilen des Staatsapparats geplante Massenvernichtung, trifft diese Charakterisierung ohne Zweifel zu. Soll damit aber gesagt werden, der Holocaust sei unerklärlich und keiner historisch-materialistischen Analyse zugänglich, ist sie falsch. Auch wenn die antisemitischen Vorurteile, deren sich Hitler bediente, teilweise auf das Mittelalter zurückgingen, war der Antisemitismus der Nazis ein modernes Phänomen. Er war untrennbar mit der Zerstörung der Arbeiterbewegung und dem Krieg gegen den Sozialismus verbunden.
66. Hitlers eigener Antisemitismus stand in engem Zusammenhang mit seinem Hass auf die sozialistische Bewegung. „Die Arbeiterbewegung stieß ihn nicht ab, weil sie von Juden geführt wurde, sondern die Juden stießen ihn ab, weil sie die Arbeiterbewegung führten“, schreibt der Historiker Konrad Heiden. „Nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist schürten Adolf Hitlers Antisemitismus.“ [33] Hitler hatte in Wien persönlich erfahren, dass viele Juden in der Führung der Arbeiterbewegung aktiv waren. Ebenfalls in Wien lernte er die Christlichsoziale Partei Karl Luegers kennen und bewundern, die den Antisemitismus gezielt einsetzte, um einen Keil zwischen die Arbeiterbewegung und das verunsicherte Kleinbürgertum zu treiben. Lueger gewann mit einer Mischung von Antisemitismus und antikapitalistischer Rhetorik eine große Anhängerschaft im kleinen und mittleren Bürgertum und war von 1897 bis 1910 Bürgermeister von Wien.
67. Völlig abwegig ist die Behauptung, der Holocaust sei das Endprodukt eines in der gesamten deutschen Bevölkerung weit verbreiteten, latenten Antisemitismus, wie sie vor allem der amerikanische Historiker Daniel Goldhagen in seinem Buch „Hitlers willige Vollstrecker. Ganz gewöhnliche Deutsche und der Holocaust“ vertritt. Die marxistische Arbeiterbewegung hatte den Antisemitismus energisch bekämpft. So konnte die antisemitische christlich-soziale Arbeiterpartei Adolf Stöckers im wilhelminischen Reich keinen Einfluss auf Arbeiter gewinnen, weil sie auf den erbitterten Widerstand der SPD stieß. „Opposition gegen den Antisemitismus war für die Arbeiterbewegung zur Ehrensache geworden“, berichtet der Historiker Robert Wistrich. „Die energische Kampagne der deutschen Sozialdemokratie gegen Adolf Stöckers Bewegung in Berlin machte die Arbeiterklasse weitgehend immun gegen den Antisemitismus.“ [34] Die Zerschlagung von KPD und SPD war die Voraussetzung dafür, dem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Bevor der Begriff KZ zum Synonym für Judenverfolgung und Massenmord wurde, errichteten die Nazis das erste Konzentrationslager in Dachau für die Arbeiterführer. Aber auch danach gab es zahlreiche Fälle von selbstloser Hilfe und Solidarität, die lediglich aufgrund des allgegenwärtigen Terrors der Gestapo keine breitere, organisierte Form annahmen. Das Schicksal der Juden war untrennbar mit dem der sozialistischen Arbeiterbewegung verbunden.
68. Auch nachdem die Nazis die Staatsmacht fest in den Händen hielten, konnten sie ihre mörderischen Phantasien einer rücksichtslosen Ausrottung „des gesamten Juden-, Freimaurer-, Marxisten – und Kirchentums der Welt“ noch nicht ungehemmt in die Tat umsetzen. [35] Dazu war der Krieg nötig. Nun verschmolz der Judenmord mit dem Vernichtungskrieg im Osten, der von Anfang an darauf abzielte, die gesamte politische und intellektuelle Führungsschicht der Sowjetunion – den „jüdischen Bolschewismus“ in Hitlers Worten – physisch auszurotten, um die deutsche Vorherrschaft für Jahrhunderte zu sichern. Die kaltblütige Ermordung von sechs Millionen Juden war der Höhepunkt eines Vernichtungsfeldzugs, dem in Polen, Osteuropa und der Sowjetunion Millionen Kommunisten, Partisanen, Intellektuelle und einfache Leute zum Opfer fielen. Der barbarische Charakter des Imperialismus, des höchsten Stadiums des Kapitalismus, fand in diesem Vernichtungsfeldzug seinen höchsten Ausdruck.
Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in: Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 69
ebd., S. 69
Konrad Heiden, Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biografie, Europa Verlag: Zürich . 1936
Zitiert in: David North, Antisemitismus, Faschismus und Holocaust. Eine kritische Besprechung des Buchs ,Hitlers willige Vollstrecker‘ von Daniel Goldhagen, Essen 1997, S. 18
SS-Führer Heinrich Himmler am 9. November 1938, dem Tag der Reichspogromnacht, zitiert bei Ian Kershaw, Hitler 1936-1945, 2000 Stuttgart, S. 186