Perspektive

„Gebt die Suche nach halben Sachen auf!“

Sozialismus und der Kampf gegen Krieg und Völkermord

Am 9. Oktober veranstaltete die Socialist Equality Party anlässlich des ersten Jahrestages des Völkermords im Gazastreifen eine Live-gestreamte Diskussion, in der sie die historischen Wurzeln des US-israelischen Amoklaufs im Nahen Osten untersuchte und eine sozialistische Strategie zu seiner Beendigung vorschlug.

Als Sprecher nahmen Joseph Kishore, der Kandidat der Partei für die Präsidentschaftswahlen 2024, Jerry White, der Vizepräsidentschaftskandidat der SEP, und David North, der Vorsitzende der Internationalen Redaktion der World Socialist Web Site, an der Veranstaltung teil.

Seit einem Jahr bemühen sich die US-Medien, den Völkermord in Gaza als Nebenprodukt der Angriffe vom 7. Oktober 2023 darzustellen. Diese Angriffe stellen angeblich eine nicht erklärbare Manifestation des „reinen Bösen“ dar. Die gesamte Geschichte der jahrhundertelangen Kolonialherrschaft über den Nahen Osten, das Erbe der ethnischen Säuberung Palästinas, die Tatsache, dass Israel seit 1967 palästinensisches Gebiet illegal besetzt hält, und die Kriege der USA in der gesamten Region seit 1991 werden einfach ignoriert.

Die Veranstaltung am Mittwoch präsentierte jedoch das genaue Gegenteil dieser grob vereinfachenden und ahistorischen Herangehensweise. Sie erklärte den Völkermord im Gazastreifen als Produkt der tiefen Krise der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die mit allen großen sozialen und politischen Problemen der Menschheit verbunden ist.

Auf diese Weise demonstrierte die Veranstaltung die Stärke und brennende Relevanz der marxistischen politischen Methode und der Geschichte der trotzkistischen Bewegung.

In seinen einleitenden Worten bezeichnete Kishore den Völkermord in Gaza als Teil einer umfassenderen „Normalisierung der Barbarei“ durch die kapitalistische Gesellschaft. Er wies darauf hin, dass die offizielle Zahl der Todesopfer zwar bei 41.000 liegt, die tatsächliche Zahl jedoch eher bei 200.000 liege, wenn man die unter Trümmern begrabenen oder durch Hunger und Krankheit getöteten Menschen berücksichtigt. Er schilderte das vorsätzliche Auslöschen des Bildungs- und Gesundheitswesens im Gazastreifen und verwendete für die absichtliche Vernichtung von Universitäten und Schulen den Begriff „Scholastizid“.

So zeigt sich eine Gesellschaft, die in einer historischen Sackgasse steckt: der Kapitalismus. Man kann das, was geschieht, nicht einfach als Ausdruck krimineller Individuen begreifen. Alle Verantwortlichen gehören hinter Gitter, aber sie sind Ausdruck einer Gesellschaftsschicht und eines Gesellschaftssystems, das in eine historische Sackgasse geraten ist und gestürzt werden muss. Und das ist das zentrale Problem, das sich aus einem Jahr Völkermord in Gaza ergibt.

Am Beginn der Diskussion erklärte North: „All diese Ereignisse sind in der Geschichte verwurzelt.“

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Nach der Auflösung der Sowjetunion im Jahr 1991 sahen die Vereinigten Staaten, die wichtigste imperialistische Macht, die Zeit gekommen, um alles wieder so herzustellen, wie es ohne die Oktoberrevolution [1917] in Russland gewesen wäre: den Kolonialismus wieder einzuführen, die uneingeschränkte Vorherrschaft des imperialistischen Systems auf der ganzen Welt wiederherzustellen.

North fügte hinzu: „Wir stehen heute vor einer historischen Krise, die im Wesentlichen auf die Unhaltbarkeit des kapitalistischen Systems zurückzuführen ist, und diese Krise hat tiefe Wurzeln.“

Er fuhr fort: „Marx sagte einst: ‚Radikal sein ist die Sache an der Wurzel fassen.‘ Was ist die Wurzel dieser Krise? Wie können wir die gegenwärtigen Gräueltaten so einordnen, dass wir sie verstehen und wirksame Maßnahmen entwickeln können, um sie zu bewältigen?“

North wies darauf hin, dass Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gegen den Völkermord in Gaza protestierten, aber „bisher beschränkten sich die Proteste auf den Ausdruck moralischer Empörung. Sie haben kein klar definiertes politisches Programm vorgebracht, um die eigentliche Ursache anzugehen, d. h. zu verstehen, was die Triebkräfte sind.“

North ging auf die von Marxisten erkannten Grundwidersprüche des kapitalistischen Systems ein, nämlich den Widerspruch zwischen der Weltwirtschaft und dem Nationalstaatensystem, sowie denjenigen zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der Produktion und ihrer Beherrschung durch das Privateigentum.

Wie können diese Widersprüche gelöst werden? Die Geschichte zeigt uns, dass es dafür nur zwei Möglichkeiten gibt. Entweder werden sie, wie wir sehen, auf globaler Ebene durch Krieg und im Inland durch diktatorische, gar faschistische Herrschaftsformen gelöst. Oder sie werden durch einen Aufstand der internationalen Arbeiterklasse gelöst, durch soziale Revolution, die eine globale Föderation der Menschheit hervorbringt und alle Grenzen niederreißt.

Das ist die große Herausforderung unserer Zeit. Wer wird gewinnen? Werden die Tendenzen zur Zerstörung – oder die Tendenzen zur gesellschaftlichen Erneuerung siegen? Anders ausgedrückt: Werden die herrschenden Klassen ihre Ziele durch Krieg und Massenrepression erreichen? Oder wird die Arbeiterklasse die historischen Probleme, mit denen sie konfrontiert ist, durch den Sturz des kapitalistischen Systems lösen?

North schloss: „Auf die Probleme unserer Zeit gibt es keine gemäßigte, reformistische Antwort.“

Ein zentrales Thema der Treffens war die Frage, welche Beziehung zwischen der Eskalation der weltweiten Kriege und dem Krieg gegen die Arbeiterklasse im Inland besteht. Hierbei handelt es sich um zwei Seiten derselben kapitalistischen Krise.

Jerry White wies darauf hin, dass die Autoarbeiter in Detroit vollkommen gegen den Völkermord sind. „Die Arbeiter verabscheuen ihn zutiefst“, sagte er. „Ich kenne einen Arbeiter von Warren Truck [GM-Montagewerk außerhalb von Detroit], der in der Kantine seine Kollegen ansprach: „Was glaubt ihr, wohin eure Steuergelder fließen? Sie werden für den Kauf von Raketen verwendet, um die Palästinenser zu ermorden.“

White verwies auf die Rolle des Gewerkschaftsapparats, der versucht, die Arbeiterklasse der Kriegspolitik der herrschenden Elite unterzuordnen. Er sagte, die Arbeiter müssten „ihren täglichen Kampf gegen Inflation, gegen Werksschließungen und Entlassungen, ihren Kampf zur Verteidigung eines angemessenen Lebensstandards und für die Wiederherstellung der Renten, wie bei Boeing – mit dem Verständnis verbinden, dass dies alles eng mit dem Kampf gegen den Kapitalismus und gegen den Krieg zusammenhängt. Denn letzten Endes sind dafür genau dieselben Konzerne verantwortlich, die den Arbeitern den Krieg erklärt haben.“

Die Redner betonten, dass man die Arbeiterklasse gegen den Imperialismus mobilisieren müsse und seine Hoffnungen nicht auf den einen oder anderen kapitalistischen Staat setzen dürfe.

Auf die Frage eines Zuhörers ob China und Russland zugunsten der Palästinenser intervenieren würden, indem sie den Libanon, Syrien, Jordanien, die Türkei, den Irak und den Iran mit modernen Waffen unterstützen, antwortete North:

Wir haben kein Programm für einen Weltkrieg. Wir sind weder für einen Krieg Russlands gegen die USA, noch für einen Krieg Chinas gegen die USA. Das unterstützen wir nicht. Die Antwort darauf liegt nicht in einem Programm der Landesverteidigung auf der Grundlage bestehender Regime, sondern in der internationalen Mobilisierung der Arbeiterklasse.

Kishore entwickelte das Thema der revolutionären Rolle der Arbeiterklasse weiter und erklärte, die entscheidende Frage sei: „Gibt es eine soziale Kraft, die sich dem Imperialismus widersetzen kann?“ Die Antwort, so sagte er, laute: „Ja, die internationale Arbeiterklasse“. Er erklärte: „Objektiv hat sie diese Macht, aber diese Macht kann nur durch Organisation, durch den Kampf um die Vereinigung der Arbeiterklasse und vor allem durch politische Perspektive und Bewusstsein realisiert werden. Dieses Verständnis muss in die Arbeiterklasse getragen werden.“

Gegen Ende der Versammlung erklärte North: „Die grundlegende Frage, die sich in der einen oder anderen Form stellt, lautet: ‚Habt ihr nicht einen etwas einfacheren Weg anzubieten? Gibt es keine einfachere Lösung?‘ Nun, darauf antworten wir mit einer Frage: ‚Könnt ihr euch eine ernsthafte Lösung für eins der Probleme vorstellen, vor denen wir stehen, ohne eine enorme Umverteilung von Reichtum von der Spitze der kapitalistischen Gesellschaft hin zur breiten Bevölkerungsmehrheit?‘“

Könnt ihr euch eine Situation vorstellen, in der die Reichen, die Superreichen, die abartig Reichen akzeptieren werden, dass man ihre Bereicherung einschränkt? Diese Klassen werden solche Entscheidungen niemals akzeptieren. Und es geht nicht allein um ihre individuellen Wünsche. Es geht um das Funktionieren eines Wirtschaftssystems. Der Kapitalismus strebt nach Herrschaft.

North schloss: „Wir befinden uns an einem historischen Punkt, an dem die dramatischste Wende in der Geschichte der Menschheit möglich wird. Deshalb gilt wie in jeder großen Epoche: entweder – oder. Entweder die Menschheit schreitet voran, oder sie steht vor dem Untergang. Wenn sich die soziale Revolution als unmöglich erweist, bedeutet dies, dass die Menschheit nicht überleben kann.“

Er appellierte an das Publikum: „Lasst die Suche nach halben Sachen, falschen Lösungen und einfachen Wegen, die von niemandem viel verlangen, hinter euch.“

Der Völkermord in Gaza ist für eine ganze Generation zur prägenden Erfahrung geworden. Arbeiter und junge Menschen erleben in Echtzeit, wie eine eingekesselte, drangsalierte Bevölkerung von den kapitalistischen „Demokratien“ der Welt vernichtet wird. Die schrecklichen Bilder, die sie täglich sehen, zerstören immer mehr die Illusionen, die frühere Generationen beherrschten. Eine solche Illusion ist die Überzeugung, dass der Holocaust eine Verirrung im 20. Jahrhunderts gewesen sei, die sich niemals wiederholen könne.

Nach einem Jahr Völkermord in Gaza wächst das Verlagen nach einer ernsthaften und historisch fundierten Analyse und Antwort auf die Krise, die die Menschheit durchmacht. Aus dieser schrecklichen Tragödie und diesem schrecklichen Verbrechen wird ein neues Interesse an der marxistischen Tradition hervorgehen, wie sie allein das Internationalen Komitee der Vierten Internationale verkörpert.

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