Der Wahlsieger im Iran: ein „Reformer“, der für die Annäherung an den US-Imperialismus eintritt

Massud Peseschkian hat die Stichwahl vom 5. Juli um das Amt des iranischen Präsidenten gewonnen. Er ist ein Vertreter des „Reform“-Flügels des bürgerlich-klerikalen Establishments der Islamischen Republik.

Peseschkians verband in seinem Wahlkampf die Anprangerung von Korruption und der staatlichen Durchsetzung konservativer islamischer Sitten (z.B. das obligatorische Kopftuchtragen in der Öffentlichkeit) mit der Forderung nach einer Annäherung an die Vereinigten Staaten und die europäischen imperialistischen Mächte.

Der gewählte iranische Präsident Massud Peseschkian nach den Präsidentschaftswahlen am Schrein des verstorbenen Revolutionsgründers Ayatollah Khomeini, bei Teheran, 6. Juli 2024 [AP Photo/Vahid Salemi]

Im Mittelpunkt seines Wahlkampfs stand die ausdrückliche Forderung an die USA nach einer Wiederbelebung des Atomabkommens von 2015 mit dem Iran. Im Mai 2018 hatten die Vereinigten Staaten unter Trump das Abkommen einseitig aufgekündigt. Das Ziel dabei war, durch brutale Wirtschaftssanktionen die iranische Wirtschaft zu zerstören und einen „Regimewechsel“ zu erzwingen.

Sechs Jahre später hat der US-Imperialismus seinen israelischen Kampfhund von der Leine gelassen, um das Terrain für einen umfassenden Krieg vorzubereiten, der sich gegen den Iran und dessen angeblicher „Achse des Widerstands“ richten wird. Den völkermörderischen Angriff des Netanjahu-Regimes auf die Palästinenser unterstützen die USA voll und ganz. In dieser Situation hat Peseschkian keine Erklärung dafür vorgebracht, wie das Atomabkommen wiederbelebt und die Wirtschaftssanktionen aufgehoben werden könnten.

Stattdessen verlässt er sich auf die Unterstützung von Teilen der Bourgeoisie und der oberen Mittelschicht, die darauf spekulieren, dass die vollständige Kapitulation des Irans vor den imperialistischen Mächten zu ihrer persönlichen Bereicherung führen werde. Diese Kreise fürchten die tief sitzende Wut in der Bevölkerung über soziale Ungleichheit, einen inflationsbedingten Einbruch des Lebensstandards und die brutale staatliche Unterdrückung der Proteste gegen die Regierung in den Jahren 2018, 2019 und 2022.

In der Stichwahl vom 5. Juli erhielt Peseschkian 16,4 Millionen Stimmen (53,6 Prozent) gegenüber 13,5 Millionen (44,2 Prozent) für Saeed Dschalili; etwa 600.000 Stimmen waren ungültig. Dschalili, ein langjähriges Mitglied des iranischen Sicherheitsapparats, ist für sein vehementes Eintreten für sozialkonservative Ansichten berüchtigt. Er gilt selbst innerhalb der dominierenden „Konservativen“, der orthodoxen Fraktion, als Hardliner.

Der andere Hauptkandidat in der ersten Runde, der derzeitige Sprecher des iranischen Parlaments und ehemalige Kommandeur des Korps der Islamischen Revolutionsgarden (IRGC), Mohammad Bagher Ghalibaf, unterstützte Dschalili in der Stichwahl, aber es ist offensichtlich, dass nicht alle seine Wähler diesem Beispiel folgten. Dies und eine deutlich erhöhte Wahlbeteiligung ermöglichten es Peseschkian, seine Stimmenzahl im zweiten Wahlgang um fast 6 Millionen zu steigern und seinen Vorsprung vor Dschalili von etwa 4 auf 9 Prozentpunkte zu vergrößern.

Insgesamt beteiligten sich fast 31 Millionen Menschen an der zweiten Runde der Präsidentschaftswahlen, ein Anstieg um fast 10 Prozent gegenüber der ersten Runde, bei der mit 40 Prozent eine extrem niedrige Wahlbeteiligung verzeichnet wurde. Das war die niedrigste Wahlbeteiligung bei einer Präsidentschafts- oder Parlamentswahl seit der Revolution von 1979, mit der die despotische, US-gestützte Schah-Herrschaft gestürzt worden war. Auch in der zweiten Runde haben nach Regierungsangaben nur 49,8 Prozent der Iraner gewählt.

Ayatollah Khamenei, seit 1989 der oberste Führer der Islamischen Republik, hatte während des Wahlkampfs seine starke Präferenz für einen „konservativen“ Präsidenten bekanntgegeben.

In einer Erklärung lobte er das iranische Volk dafür, dass es an die Urnen gegangen sei. Damit habe es „dem Wahlboykott die Stirn geboten, den die Feinde des iranischen Volkes inszenierten, um Verzweiflung und Stillstand zu erzeugen“. Khamenei traf sich am Samstag mit dem gewählten Präsidenten, nur Stunden nachdem dieser zum Wahlsieger erklärt worden war.

Mehrere Kommandanten der Revolutionsgarden und der Armee, Spitzenvertreter der scheidenden Regierung und auch Dschalili gaben ähnliche Erklärungen ab, in denen sie die Einheit der Nation beschworen und die Bereitschaft erklärten, mit einer von Peseschkian geführten Regierung zusammenzuarbeiten.

Schrumpfende Unterstützerbasis in der Bevölkerung

All dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Wahlen eins deutlich gemacht haben: Die Basis des bürgerlich-nationalistischen iranischen Regimes in der Bevölkerung schrumpft, und in seinen Reihen tun sich immer größere Risse auf. Das Regime gerät von zwei Seiten her unter Druck: Einerseits durch die imperialistischen Mächte, die den Nahen Osten als zentrales Schlachtfeld in ihrem Streben betrachten, die Welt durch einen globalen Krieg neu aufzuteilen. Und andererseits von Seiten der zunehmend unruhigen Arbeiterklasse.

In seiner Glückwunschbotschaft forderte Khamenei den neuen Präsidenten auf, in die Fußstapfen seines Vorgängers, des orthodoxen Geistlichen Ebrahim Raisi, zu treten, dessen Tod bei einem Hubschrauberabsturz am 19. Mai die besondere Präsidentschaftswahl erforderlich gemacht hatte. Der Oberste Führer forderte den gewählten Präsidenten auf, „den Weg des Märtyrers Raisi fortzusetzen, um die enormen Kapazitäten des Landes bestmöglich zu nutzen“.

Der 2021 zum Präsidenten gewählte Raisi hatte die Bemühungen seiner Regierung auf den Aufbau einer „Wirtschaft des Widerstands“ konzentriert, um dem Wirtschaftskrieg standzuhalten, den der US-Imperialismus gegen den Iran entfesselt hatte, und den Großbritannien, Deutschland, Frankreich und die ganze EU bis heute unterstützen. Dazu gehörte auch die Stärkung der wirtschaftlichen und militärisch-strategischen Beziehungen zu Russland und China.

Gleichzeitig hatte Raisi seinen Außenminister Hossein Amir-Abdollahian (der ebenfalls bei dem Hubschrauberabsturz am 19. Mai ums Leben kam) beauftragt, mit der Biden–Regierung und Vertretern der europäischen Imperialisten Gespräche über eine mögliche Wiederbelebung des Atomabkommens aufzunehmen. Während des Wahlkampfs 2020 hatten Biden und seine Berater Trump scharf für die Aufkündigung des Abkommens kritisiert und behauptet, es destabilisiere den Nahen Osten und dränge den Iran in die Arme von Russland und China, den Hauptrivalen der USA. Nach Beginn der Verhandlungen erhob die Biden–Regierung jedoch mit Unterstützung ihrer Verbündeten immer höhere Forderungen an den Iran.

Nach August 2022 scheiterten die Gespräche zur Wiederbelebung des Abkommens. Der Ausbruch des von den USA und der Nato provozierten Krieges in der Ukraine und die Wut der imperialistischen Mächte auf Teheran wegen seiner Lieferung von Drohnen an Russland trugen wesentlich dazu bei, dass die Europäer Washingtons Kampagne des „maximalen Drucks“ gegen den Iran immer begeisterter unterstützten.

Der US-Imperialismus plant Krieg gegen den Iran

Seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges im vergangenen Oktober hat Washington begonnen, seine seit langem bestehenden Pläne für einen Krieg gegen den Iran in die Tat umzusetzen.

Bisher bestand die bevorzugte amerikanische Strategie darin, die außerhalb des Irans stationierten Revolutionsgarden und die mit dem Iran verbündeten Hisbollah und Houthis zu schwächen, sei es direkt oder mittels ihres israelischen Kampfhundes. Gleichzeitig wurden der Iran und seine Verbündeten fälschlicherweise der „Eskalation“ beschuldigt, sobald sie auch nur die geringsten Maßnahmen zur Selbstverteidigung ergriffen. Dieser schrittweise Krieg oder „Krieg niedriger Intensität“ zielte darauf ab, militärisch und politisch den Boden für einen umfassenden Angriff auf die iranisch geführte „Achse des Widerstands“ vorzubereiten. Dieser Angriff soll zu einem von Washington gewählten Zeitpunkt und mit dem Ziel geführt werden, eine uneingeschränkte imperialistische Vorherrschaft über den Nahen Osten wiederherzustellen.

Auf die zunehmende imperialistische Aggression und den israelischen Amoklauf hat keine Fraktion des bürgerlich-klerikalen Regimes irgendeine fortschrittliche Antwort. Seine Herrschaft beruht darauf, dass es den antiimperialistischen Aufstand, der das Schah-Regime damals hinweggefegt hatte, für sich vereinnahmt hat und die Linke und jeden unabhängigen Ausdruck der Arbeiterklasse brutal unterdrückt.

Keine der konkurrierenden Fraktionen ist in der Lage, die Arbeiterklasse zu mobilisieren, da jede einzelne von ihnen deren Kämpfen und dem antiimperialistischen Kampf der unterdrückten Arbeiter des Nahen Ostens – der iranischen, kurdischen, türkischen und israelischen Arbeiterklasse – organisch feindlich gegenübersteht. Eine solche Einheit könnte nur auf der Grundlage eines Appells an ihre gemeinsamen Klasseninteressen, ihr Streben nach sozialer Gleichheit und nach demokratischen Rechten hergestellt werden. Sie müsste sich gegen alle kapitalistischen Regierungen und ihre diversen politischen Vertreter richten.

Ob nun im Iran die orthodoxe, die „reformistische“ oder die mit dem verstorbenen Präsidenten Haschemi Rafsandschani und seinem Adepten, dem ex–Präsidenten Hassan Rouhani verbundene „Zentrums“–Fraktion an der Regierung war – jede Fraktion hat auf den zunehmenden imperialistischen Druck stets reagiert, indem sie das angriff, was von den sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse aus der Zeit der Revolution von 1979 noch übrig war.

Unter Chamenei schwankte die Islamische Republik zwischen einer Taktik des Druckausübens und der Anbiederung an die imperialistischen Mächte, um die Anerkennung der iranischen Bourgeoisie als Regionalmacht zu erreichen. Sie kombinierte schiitisch-populistische Appelle an die „Besitzlosen“ in der Region und militärische Manöver, selbst eine Pose als wichtigster Verteidiger des palästinensischen Volkes, mit immer neuen, aber gescheiterten Versuchen der Annäherung. Unter Präsident Rafsandschani machte Teheran der Clinton-Regierung Avancen. Im Jahr 2003 unterstützte das iranische Regime im „großen Geheimabkommen“ mit George W. Bush die US-Invasion im Irak. Und schließlich kam es zum Atomabkommen von 2015.

In seiner Rolle als Bonapartist hat der Oberste Führer versucht, die Fraktionen gegeneinander auszuspielen. Er nutzte die Spaltungen zwischen ihnen, um diplomatische Vorstöße und politische Veränderungen durchzusetzen, ohne das Regime unwiderruflich festzulegen. So gab Chamenei grünes Licht für das von Rouhani und seinem Außenminister Javad Zarif ausgehandelte Nuklearabkommen, während er behauptete, er verstehe die Skepsis der vielen „konservativen Kritiker“. Als dann der erhoffte Investitionsboom des europäischen Imperialismus ausblieb, und die Trump-Administration das Atomabkommen torpedierte, distanzierte sich Chamenei schnell von Rouhani und Zarif und schob ihnen die Verantwortung zu.

Bei den Wahlen 2021, bei denen Rouhanis Nachfolger gewählt wurde, schloss der antidemokratische Wächterrat Peseschkian und fast alle andern aus und ließ nur eine Handvoll orthodoxer Kandidaten zu.

Auch in diesem Jahr hat der Wächterrat erneut rund 80 Kandidaten ausgeschlossen, darunter mehrere Orthodoxe wie den ehemaligen Präsidenten Mahmud Ahmadinedschad, ließ aber Peseschkians Kandidatur zu, um die Glaubwürdigkeit der Wahl zu erhöhen.

Peseschkian (69), ein ehemaliger Herzchirurg und früherer Gesundheitsminister, hatte die offizielle Unterstützung der beiden Architekten des gescheiterten iranischen Versuchs, neue Beziehungen zu den imperialistischen Mächten zu knüpfen. Das sind Ex-Präsident Rouhani und sein Außenminister Zarif. Zarif spielte im Wahlkampf eine so herausragende Rolle, dass der Guardian  ihn schon als Peseschkians „Mitkandidaten“ bezeichnete.

In den Wahldebatten behauptete Peseschkian, dass die einzige Möglichkeit zur Bewältigung der iranischen Wirtschaftskrise darin bestehe, sich massive Investitionen der westlichen Imperialisten zu sichern. Er rief zu freundschaftlichen Beziehungen mit allen Ländern außer Israel auf, während er jede Diskussion darüber vermied, warum die USA und ihre europäischen Verbündeten den Iran bedrohen und einen Wirtschaftskrieg gegen ihn führen.

Er machte auch deutlich, dass er die unter Rouhani verfolgte neoliberale Wirtschaftspolitik und die Annäherungsversuche seiner Regierung an den IWF unterstützt.

Gleichzeitig versuchte Peseschkian, seine reaktionären Absichten zu verschleiern, indem er die harte Unterdrückung der regierungsfeindlichen Proteste kritisierte. Auch betonte er seinen familiären Hintergrund als Sohn eines aserbaidschanischen Vaters und einer kurdischen Mutter und seine Kenntnisse mehrerer Sprachen, um anzudeuten, dass er den Minderheiten im Iran mehr Aufmerksamkeit schenken werde.

Der chinesische Präsident Xi und der russische Präsident Putin haben dem neuen iranischen Präsidenten gratuliert und in ihren Glückwunschbotschaften zu einer verstärkten wirtschaftlichen und strategischen Zusammenarbeit aufgerufen.

Die Reaktion der westlichen Mächte war vorsichtig und zurückhaltend. Die EU–Sprecherin Nabila Massrali beglückwünschte Peseschkian und fügte hinzu, die EU sei „bereit, mit der neuen Regierung im Einklang mit der EU-Politik eines kritischen Engagements zusammenzuarbeiten“. Der Sprecher des US-Außenministeriums, Vedant Patel, sagte, man erwarte „keine grundlegende Änderung des iranischen Kurses“.

Der globale Krieg, der sich jetzt entwickelt, und die Krise der Islamischen Republik unterstreichen die Notwendigkeit, dass die iranische Arbeiterklasse als unabhängige Kraft eingreift und alle Werktätigen und Unterdrückten im Kampf um die Arbeitermacht hinter sich vereinigt und mobilisiert.

Der tragische Ausgang der Revolution von 1979 und die 45 Jahre bürgerlich-nationalistisch-klerikalen Regimes im Iran seither haben auf negative Weise die Gültigkeit von Trotzkis Programm der Permanenten Revolution bewiesen. In Ländern mit verspäteter kapitalistischer Entwicklung, wie dem Iran, können die grundlegenden Probleme der demokratischen Revolution, einschließlich des Abschüttelns der imperialistischen Unterdrückung und der Trennung von Kirche und Staat, nur gelöst werden, wenn eine Arbeiterrepublik als Teil des Kampfes für die sozialistische Weltrevolution errichtet wird.

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