Neue Volksfront gewinnt vorgezogene Wahlen – Parlament ohne klare Mehrheit

Jean-Luc Mélenchons Neue Volksfront (Nouveau Front populaire, NFP) ist gestern Abend in Frankreich aus der zweiten Runde der vorgezogenen Neuwahlen als Siegerin hervorgegangen. Die NFP erhielt 182 Sitze in der 577 Sitze zählenden Nationalversammlung, gegenüber 168 Sitzen für die Ensemble-Koalition von Präsident Emmanuel Macron und 143 Sitzen für den rechtsextremen Rassemblement National (Nationale Sammelbewegung, RN). Die endgültige Wahlbeteiligung lag bei 67 Prozent, der höchsten in der zweiten Runde der Parlamentswahlen seit 1997 und über 20 Prozent höher als bei den Parlamentswahlen von 2022.

Das Ergebnis, das der medial geschürten Erwartung eines Sieges des RN zuwiderläuft, zeugt von der linken Gesinnung breiter Schichten der Arbeiterklasse und der Jugend in Frankreich und ihrer Ablehnung des Neofaschismus.

Es ist ein Debakel für Macron, der während seiner gesamten Präsidentschaft behauptet hatte, einen Kampf gegen die extreme Rechte zu führen. In Wirklichkeit hat er systematisch gegen den Willen des Volkes regiert. Seine Partei wurde in der Nationalversammlung zu einer Rumpffraktion degradiert. Gut 70 Prozent der Bevölkerung lehnen seine unrechtmäßigen Rentenkürzungen ab, die er im letzten Jahr ohne Abstimmung durchsetzte, sowie seine Forderung, französische Truppen in die Ukraine zu schicken, um Russland zu bekämpfen.

Wenige Minuten nach der Bekanntgabe des Wahlergebnisses gestern um 20 Uhr meldete sich Mélenchon im nationalen Fernsehen zu Wort und appellierte an Macron, die NFP zur Bildung einer Regierung aufzufordern. „Der Präsident hat die Pflicht, die Neue Volksfront zum Regieren aufzufordern“, sagte Mélenchon und lobte die Wähler dafür, dass sie „ein Ergebnis errungen haben, das man für unmöglich gehalten hat“.

„Die Mehrheit hat eine andere Wahl für das Land getroffen“, fügte Mélenchon hinzu und argumentierte: „Der Wille des Volkes muss bestätigt werden... Der Präsident muss sich fügen.“

Mélenchon behauptete, die NFP werde „ihr Programm anwenden, nur ihr Programm, aber ihr ganzes Programm“. Maßnahmen wie die Aufhebung von Macrons Reform, die das Renteneintrittsalter auf 64 Jahre anhebt, der Stopp von Preiserhöhungen durch die Festsetzung von Preisen für wichtige Güter und die Erhöhung des Mindestlohns „können per Dekret, ohne Abstimmung, getroffen werden“, sagte er.

Bevor das Ergebnis bekannt gegeben wurde, traf Macron im Präsidentenpalast Élysée mit Premierminister Gabriel Attal und den Spitzen seines Ensemble-Bündnisses zusammen. Zuvor war berichtet worden, dass entweder Macron oder Attal nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses sprechen würden. Später teilte der Elysée-Palast jedoch mit, dass Macron am Sonntagabend nicht sprechen werde, sondern „die Ergebnisse der Parlamentswahlen, wie sie eintreffen, Wahlkreis für Wahlkreis, zur Kenntnis nimmt“.

Macron werde die „Strukturierung“ der neuen Versammlung abwarten, bevor er „die notwendigen Entscheidungen“ treffe, teilte der Elysée-Palast mit, darunter auch die Entscheidung, wen er zum neuen Premierminister ernennen wird, um zu versuchen, eine parlamentarische Mehrheit zusammenzustellen. Attal erklärte später gegenüber der Presse, er sei bereit, an der Macht zu bleiben, „solange es die Pflicht erfordert“.

Der Sitz des Präsidenten teilte auch mit, dass Macron seine Reise nach Washington zum morgen beginnenden Nato-Kriegsgipfel um einen Tag verschieben, aber nicht absagen werde. Auf dem Nato-Gipfel werden imperialistische Kriegstreiber wie Macron darüber diskutieren, wie der Krieg gegen Russland eskaliert werden kann, während gleichzeitig die Angriffe auf die Arbeiterklasse verstärkt werden, um die Kriegswirtschaft zu finanzieren. Macron hat trotz seines Wahldebakels eindeutig die Absicht, weiter gegen das Volk zu regieren.

Heute bat Macron Attal, „bis auf weiteres Premierminister zu bleiben“ – angeblich, um „die Stabilität des Landes zu gewährleisten“. Macron wird also nach Washington fliegen, um die Nato-Kriegspläne als Vertreter einer Regierung fortzusetzen, die vom französischen Volk abgelehnt wird.

Gestern Abend erklärte die RN-Vorsitzende Marine Le Pen im Fernsehsender TF1, dass ihre Partei nur einen vorübergehenden Rückschlag erlitten habe, und versprach, dass der Neofaschismus eines Tages Frankreich regieren werde. Sie sagte: „Die Flut steigt. Diesmal war sie nicht hoch genug, aber sie steigt weiter an, so dass unser Sieg nur aufgeschoben ist. Ich habe zu viel Erfahrung, um von einem Ergebnis enttäuscht zu sein, das es uns ermöglicht, die Zahl unserer Sitze zu verdoppeln“.

In der RN-Wahlzentrale machte sich jedoch rasch Frustration breit: RN-Vertreter stießen unflätige Drohungen aus und verurteilten das französische Volk, weil es sie nicht gewählt habe. „Die Franzosen sind Arschlöcher, ein Volk von Idioten“, sagte einer von ihnen den Medien, während der RN-Abgeordnete Julien Odoul sagte: „Sie werden den Preis für diesen Akt der Unterwerfung zahlen. Sie werden den Preis für diese Nicht-Entscheidung zahlen.“

Doch die Wählerschaft hat sich gegen die faschistisch-autoritäre Herrschaft und die verhasste Politik Macrons ausgesprochen. Der Wille der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung, die für ihren Lebensunterhalt arbeitet – die von Macron und seinen rechten Verbündeten wiederholt mit Füßen getreten wurde – muss umgesetzt werden. Die Kriegseskalation gegen Russland und der Völkermord in Gaza müssen gestoppt, Macrons Rentenkürzungen und andere Sparmaßnahmen zurückgenommen und die von ihm errichtete Polizeistaatsdiktatur der Banken abgebaut werden.

Die unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse im Kampf ist entscheidend, um diese Forderungen durchzusetzen. Arbeiter können sie nicht dem politischen Establishment Frankreichs überlassen, das von Wortführern des Militarismus und der Austerität dominiert wird.

Der RN hat sich als bedeutende Kraft etabliert, obwohl die Wahl dabei einen Rückschlag bedeutet. Dieser wird – wie frühere Rückschläge – wahrscheinlich dazu führen, dass Marine Le Pen in der RN für ihre bisherige Weigerung kritisiert werden wird, das Erbe des französischen Faschismus offen zu propagieren und Gewalt auf den Straßen zu befürworten.

Nach offiziellen Zahlen des französischen Innenministeriums lag der RN in absoluten Zahlen mit 8,7 Millionen Stimmen vorn, gefolgt von 7 Millionen Stimmen für die NFP und 6,3 Millionen für das Ensemble. Es gab 1,6 Millionen leere oder ungültige Stimmzettel und 1,5 Millionen Stimmen für die rechte Partei Les Républicains (Die Republikaner, LR). Der Rückgang der Stimmen für die NFP und der Anstieg der Stimmen für das Ensemble ist darauf zurückzuführen, dass die NFP das Ensemble durch taktische Wahlabsprachen begünstigte, um die Kandidaten der RN zu blockieren: Die NFP zog ihre Kandidaten zurück, um die Kandidaten des Ensembles in 125 Wahlkreisen zu unterstützen, während das Ensemble die Kandidaten der NFP nur in 80 Wahlkreisen unterstützte.

Innerhalb der NFP verschenkte Mélenchon bei seinen Wahlverhandlungen zudem wichtige Positionen an langjährige kapitalistische Regierungsparteien, die den Krieg gegen Russland unterstützen und die Opposition gegen den Völkermord in Gaza als „Antisemitismus“ anprangern. Während Mélenchons eigene Partei La France insoumise (LFI, Unbeugsames Frankreich) 72 Sitze erhielt, kam die von Konzerninteressen dominierte Sozialistische Partei (PS) auf 65, die Grünen auf 34 und die Kommunistische Partei Frankreichs (PCF) auf 9 Sitze. Die pablistische NPA errang keinen einzigen Sitz.

Innerhalb der NFP fordern Kräfte aus dem Umfeld der PS, dass die NFP weitreichende Zugeständnisse an Macron mache, weil sie dessen reaktionäre Politik unterstützen. Raphaël Glucksmann, der als Wahlkampfleiter der PS bei den Europawahlen im Frühjahr dieses Jahres einen Völkermord in Gaza leugnete, sagte den Medien: „Wir haben ein Parlament in der Schwebe, und wir haben keine Wahl: Wir befinden uns in einem Parlament ohne Mehrheit, und deshalb müssen wir uns wie Erwachsene verhalten, d.h. wir müssen reden, diskutieren, einen Dialog führen und über uns selbst hinauswachsen.“

Arbeiter und Jugendliche müssen den Aufrufen zu Kompromissen mit Macron, verachteten Figuren wie PS-Präsident François Hollande oder ihren Verbündeten bei den Grünen und der stalinistischen PCF-Bürokratie eine Absage erteilen. Die entscheidende Aufgabe besteht jetzt darin, Macrons Wahldebakel und den Rückschlag des RN in eine breitere Offensive der Arbeiterklasse gegen Krieg, Völkermord und Kapitalismus zu entwickeln.

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