Bis Freitagmittag um zwölf konnten die Mitglieder der Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) in einer Urabstimmung gegen oder für das Schlichtungsangebot bei der Deutschen Bahn stimmen. Klar dürfte sein, dass die Mehrheit das Angebot ablehnt. Die Empörung darüber ist groß. Zehntausende haben die kritischen Artikel der WSWS gelesen. Allein der letzte Bericht, in dem Beschäftigte über ihre Arbeitsbedingungen berichten, wurde mehr als 30.000 Mal aufgerufen.
Auf diese Artikel hin haben sich viele gemeldet und registriert, um am Aufbau des Aktionskomitees Bahn mitzuwirken. Viele schildern ihre Motivation so wie René: „Sehe es wie ihr, dass die Gewerkschaften nicht wirklich was bringen, der Tarifabschluss eine Verarsche ist und wir als Bahn-Mitarbeiter es selbst in die Hand nehmen sollten.“
Viele haben daher ihre Teilnahme am bundesweiten Online-Treffen des Aktionskomitees am kommenden Dienstag um 19 Uhr zugesichert, das über diesen Link zu erreichen ist: https://meet.wsws.org/Aktionskomitee
Die Schilderung der schlechten Arbeitsbedingungen im letzten Bericht durch Torsten, einen Busfahrer in Ostwestfalen-Lippe, dessen Gehalt dramatisch gesunken ist, hat viele angesprochen.
Ein Busfahrer-Kollege aus dem Sauerland war extrem wütend darüber, „dass die Busfahrer bald nicht mehr wissen, wie sie mit dem Geld auskommen sollen – und oben stopfen sie sich die Taschen voll“. Die Rede vom „besten Abschluss aller Zeiten“ hält er für einen Witz. „Allein aktuell in den letzten beiden Jahren ist doch schon die Inflation bei 15 Prozent,“ das bedeute „einen heftigen Reallohnverlust“. „Wir Busfahrer müssen jede Sekunde hellwach sein, und jetzt bekommen wir auch noch Reallohnsenkungen, das geht gar nicht“, sagt er. Manchmal habe er 120 Schulkinder im Gelenkbus, „für diesen verantwortungsvollen Job wird man nicht entsprechend bezahlt“.
Tom, Elektroniker bei der DB Netze AG, fühlte sich von der Schilderung Franks angesprochen, der bei der Instandhaltung Oberleitung arbeitet. „Als ich das von Frank gelesen hatte, dachte ich, das ist genauso wie bei uns.“ Er arbeitet bei der Leitungssicherungstechnik (LST) im Ruhrgebiet. Das ziehe sich offenbar durch alle Bereiche. „Viel Arbeit, niedrige Löhne, schlechte Stimmung“, so sein Fazit. „Das ganze Schlichtungsverfahren war ein Witz. Anfang des Jahres lief der Tarifvertrag aus, jetzt kommt das erste Geld erst im Oktober.“
Alex, offensichtlich ein Funktionär der EVG, sandte eine Mail, in der er das von Frank genannte niedrige Gehalt bestritt. „Frank von der DB Netz verdient keine 2400 Euro brutto“, schrieb er, sondern vermutlich 2.836,67 Euro, das sei das Einstiegsgehalt bei der Lohngruppe 108. Das zeigt nur, wie abgehoben die EVG-Funktionäre sind. Frank zeigte uns seine letzte Abrechnung, auf der ein Bruttogehalt von 2477,04 Euro ausgewiesen ist!
Beim Aktionskomitee haben sich nicht nur EVG-Mitglieder, sondern auch GDL-Mitglieder und Beschäftigte, die in keiner Gewerkschaft sind, gemeldet.
Ein Eisenbahner aus Hessen berichtete, er sei erst im Juni in die EVG eingetreten, nachdem sie gestreikt und das nach Gruppen differenzierte DB-Angebot von 8, 10 und 12 Prozent Lohnerhöhung abgelehnt hatte. „Da habe ich gedacht, dass die EVG diesmal Ernst macht und für unsere Forderungen kämpft. Jetzt stehe ich schon wieder vor dem Austritt, nach diesem Ergebnis“, stellte er ernüchtert fest.
Oliver arbeitet für die DB Cargo im Rangierbahnhof Maschen, südlich von Hamburg. Dabei handelt es sich um den größten Rangierbahnhof in Europa und nach dem Rangierbahnhof in Bailey Yard im US Bundesstaat Nebraska den zweitgrößte der Welt. Ein Streik in Maschen würde in kurzer Zeit den Containerbetrieb am Hamburger Hafen lahmlegen. Aber genau das will die EVG verhindern.
Oliver ist wütend über das Schlichtungsergebnis, hat dagegen gestimmt und geht davon aus, dass dies auch die meisten seiner Kollegen getan haben. „Mit welcher Berechtigung soll mein Lohn weniger steigen, nur weil ich das ‚Urlaubsprogramm’ gewählt habe – und daher zwölf Tage mehr Urlaub habe – das ist eine Frechheit!“ Beschäftigte, die in der Vergangenheit zusätzliche Urlaubstage statt Lohnerhöhungen gewählt haben, erhalten nicht die 410 Euro Lohnerhöhung in den nächsten zwei Jahren, sondern nur 399 bzw. 389 Euro.
Er berichtet, dass aufgrund der Löhne bei der DB „viele lieber bei der Privatbahn arbeiten, dort verdient man mehr“. Erst recht, wenn man die unmöglichen Zustände in Maschen berücksichtige. Oliver sagt: „Entweder haben wir keine Lokführer oder keine Loks. Lokführer kommen zur Schicht und werden dann erst mal dorthin geschickt, wo sie gerade gebraucht werden, das kann auch schon mal Padborg in Dänemark sein, wo DB Cargo Scandinavia seinen Sitz hat – wenn sie dort ankommen, ist die halbe Schicht eigentlich schon rum.“
Auch GDL-Mitglieder haben sich gemeldet, weil sie die unabhängige Ausrichtung des Aktionskomitees unterstützen.
Ein 55-jähriger Lokführer der DB Cargo, der seit 38 Jahren bei der Bahn arbeitet, sagt, er „verfolge das Elend, das die EVG produziert“. Er sei schon vor vielen Jahren aus der damaligen Transnet raus und zur GDL gewechselt. „Das ist zwar auch nicht die beste, aber wir kriegen einigermaßen, was wir fordern,“ sagt er, auch in Hoffnung auf die kommende Tarifverhandlung zwischen DB und GDL ab Oktober, für die die GDL eine niedrigere Forderung aufgestellt hat als die EVG.
Alexander ist auch Lokführer und berichtet, dass er früher schon mal in der Gastronomie gearbeitet habe. Dort gebe es auch lange Arbeitszeiten, aber die Art und Weise, wie in letzter Zeit bei der Bahn mit den Beschäftigten umgesprungen werde, sei schlimmer: Ständig zu lange Schichten und zu kurze Übergänge, und angeblich sei es die Schuld des Computers.
Er gibt ein Beispiel: „Ruhezeit ist mindestens 48 Stunden, aber im Endeffekt arbeite ich z. B. freitags bis um zwei Uhr nachts, und muss Montag früh schon um drei wieder anfangen. Das ergibt keine zwei vollen Ruhetage.“ Bis er zuhause sei und geduscht habe, sie es schon Samstagmorgen, und am Sonntagabend müsse er sehen, dass er früh genug wieder zum Schlafen komme.
Für die Lokführer im Fernverkehr seien 14-Stunden-Schichten mittlerweile normal, dabei könnten sie die vorgeschriebenen Ruhestunden oft nicht einhalten. Dabei sei dann einer allein auf einem ganzen Zug – auch oft nur gemeinsam mit einem Zugbegleiter.
Alexander ist auch gegen die Waffenlieferungen an die Ukraine und die aggressive Politik gegen Russland. „Ich will Putin nicht entschuldigen, aber man hat ihn vor einigen Jahren noch in den Bundestag eingeladen und ihm hoch und heilig versprochen, dass die EU nicht in den Osten vordringen werde. Aber genau das hat man getan.“ Zwei Weltkriege seien genug, drückt er seine Sorge aus.
Es sind tatsächlich die hunderte Milliarden, die für Aufrüstung und Krieg sowie für die Geschenke an die Konzerne ausgegeben werden, die nun durch Reallohnsenkungen von den Arbeiterinnen und Arbeitern refinanziert werden sollen, nicht nur bei der Bahn und nicht nur in Deutschland. Umso wichtiger ist der Aufbau des Aktionskomitees Bahn, dass Arbeiterinnen und Arbeiter über die Grenzen von Gewerkschaften, Branchen und Ländern hinweg gegen diese Angriffe vereint.
Am kommenden Montag verkündet der Vorstand der EVG das Ergebnis der Urabstimmung. Die EVG hat die Frage nach Annahme oder Ablehnung des Schlichterspruchs bewusst mit einer Urabstimmung über einen unbefristeten Streik gekoppelt. Daher wird nicht einfach über das Schlichtungsangebot abgestimmt, bei dem eine einfache Mehrheit zur Ablehnung gereicht hätte. Da es sich um eine Urabstimmung handelt, sind laut Satzung 75 Prozent erforderlich, um das Schlichtungsangebot abzulehnen und einen Streik zu ermöglichen.
Die EVG hat bereits bei der Formulierung der Urabstimmungsfrage unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass sie einen Streik mit allen Mitteln verhindern will. Im Text heißt es: „Mit einem ‚JA‘ nimmst du die Schlichtungsempfehlung an. […] Du bekommst im Oktober eine Inflationsausgleichsprämie, ab Dezember 2023 werden die Löhne erhöht, du kannst die Fondsleistungen weiterhin in Anspruch nehmen.“ Mit einem „Nein“ dagegen sei „der Ausgang dann wieder offen“. Es erfolge „erstmal keine Auszahlung einer Inflationsausgleichsprämie mit anschließender Erhöhung der Tabellenentgelte“.
So wie Tanja und ihre Kolleginnen und Kollegen trauen daher viele der EVG und der Stimmenauszählung nicht. Tanja arbeitet seit 2002 bei der Bahn im Sicherheitsdienst, viele Jahre im Ruhrgebiet und nun in Wolfsburg. „Wir haben jetzt das Problem, dass die EVG bei der Auszählung der Urabstimmung es so drehen wird, dass ihnen das Ergebnis passt,“ sagte sie am Telefon. „Wir trauen denen nicht über den Weg und wissen längst, dass sie mit der Bahn und der Bundesregierung gemeinsame Sachen machen und keine Arbeitnehmervertreter sind.“ Während des Telefonats kamen einige Kolleginnen und Kollegen vorbei und stimmten ihr zu.
Was nach der Bekanntgabe des Urabstimmungsergebnis zu tun ist, und welche nächsten Schritte eingeleitet werden müssen, darüber wird auf dem kommenden Treffen des Aktionskomitees diskutiert und abgestimmt.
Wir laden alle Eisenbahner ein, am Dienstag um 19 Uhr am Online-Treffen teilzunehmen. Meldet euch gerne auch schon vorher per Whatsapp bei dieser Nummer +49-163-337 8340 und registriert euch über das folgende Formular.