Seit Montagabend nahmen in Städten in ganz Israel hunderttausende Menschen an Demonstrationen teil und blockierten Straßen und den wichtigsten internationalen Flughafen des Landes. Der Dienstag wurde zum „Tag des Widerstands“ erklärt. Die Demonstrationen richteten sich gegen die rechtsextreme und ultrareligiöse Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, die ein Gesetz eingebracht hatte, das die Befugnisse der Justiz beschneiden soll und den entscheidenden Schritt zur Übernahme diktatorischer Vollmachten darstellt.
Die Polizei war an 100 verschiedenen Orten im Einsatz und ging aggressiv gegen die Demonstrationen vor. In Tel Aviv wurden Tausende von Demonstranten mit Wasserwerfern auseinandergetrieben und zahlreiche Personen wegen Verstößen gegen die öffentliche Ordnung verhaftet. Auf einem Video ist zu sehen, wie ein berittener Polizist einen Demonstranten auf der Kaplan Street in Tel Aviv zu Fall bringt und sein Pferd auf ihm herumtrampeln lässt. Andere drängten Umstehende auf den Bürgersteigen zur Seite.
Am Ben-Gurion-Flughafen in Tel Aviv, wo sich mehr als zehntausend Menschen versammelt hatten, schlug die Polizei auf einen Demonstranten ein und brach ihm die Nase.
In Haifa erklärte die Polizei die Proteste für illegal und trieb Tausende von Demonstranten auseinander, die eine Zufahrtsstraße zum Carmel-Tunnel blockiert hatten. Zwei Personen wurden wegen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung verhaftet.
Nur wenige Tage zuvor hatten mehrere leitende Ärzte die Polizei schriftlich aufgefordert, auf den Einsatz von Wasserwerfern bei der Auflösung von Menschenmengen zu verzichten, nachdem 15 Menschen ernsthaft verletzt wurden. Sie hatten erklärt, Wasserwerfer seien „Waffen, die außergewöhnliche und schwerwiegende“ Schäden verursachen.
Der massive Widerstand der Bevölkerung ist nicht nur ein Ausdruck der Wut über die geplante Justizreform, den Übergang zu diktatorischen Vollmachten und die wachsende Rolle religiöser Kräfte im Alltagsleben, sondern auch der sehr realen Angst wegen zunehmender Ungleichheit und den rasant steigenden Lebenshaltungskosten, darunter den exorbitanten Immobilienpreisen, sowie der zunehmenden Sorge um Missstände bei öffentlichen Dienstleistungen wie Bildung, Gesundheit und öffentlichen Verkehrsmitteln.
Die israelische Gesellschaft ist so stark polarisiert, dass der Vorsitzende des Gewerkschaftsbunds Histadrut, Arnon Bar-David, erklärte, er sehe sich möglicherweise gezwungen, einen Generalstreik auszurufen, wenn die geplante Justizreform nicht verhindert wird und Verhandlungen über einen Kompromiss geführt werden.
Netanjahus faschistische Koalitionspartner wetterten gegen Generalstaatsanwältin Gali Baharov-Miara, weil sie eine regierungsfeindliche Demonstration auf dem Ben-Gurion-Flughafen am Dienstag erlaubt hat. Verkehrsministerin Miri Regev kündigte eine Gesetzesänderung an, um solche Proteste in Zukunft zu verhindern. Sie hatte bereits zuvor Baharov-Miaras Entlassung gefordert, weil die Strafverfolgungsbehörden die Proteste gegen die Justizreform nicht unterdrücken konnten. Anhänger dieser rechtsextremen Politiker haben vor dem Haus der Generalstaatsanwältin demonstriert, die vor der Zerstörung der israelischen Demokratie gewarnt hatte.
Der Minister für nationale Sicherheit und Chef der Partei Jüdische Stärke, Itamar Ben Gvir, der zudem ein Führer der rechtsextremen Siedler im besetzten Westjordanland ist, griff ebenfalls die Generalstaatsanwältin an und warf den Demonstranten vor, sie hätten „alle Linien überschritten“. Er forderte Baharov-Miara auf: „Unterstützen Sie die Randalierer nicht mehr“ und „Fangen Sie an das Gesetz durchzusetzen!“ Das kommt von dem Mann, der jetzt die neu gegründete Nationalgarde befehligt, die laut dem im Juni verabschiedeten Haushalt durch eine 1,5-prozentige Kürzung der Mittel für mehr als 40 Ministerien und Regierungsstellen finanziert werden soll.
Am Montag fand die erste Lesung des „Angemessenheits“-Gesetzes in der Knesset statt, danach soll es noch vor der Sommerpause des Parlaments Ende Juli verabschiedet werden und den Status eines neuen Grundgesetzes haben. Es sieht vor, dass der Oberste Gerichtshof Entscheidungen von gewählten Beamten nicht mehr als „unangemessen“ aushebeln kann. Damit wird Netanjahu seinen wichtigsten Verbündeten, den Parteiführer von Shas, Arjeh Deri, zum Gesundheits- und Innenminister ernennen können. Zuvor hatte der Oberste Gerichtshof dessen Ernennungen als „unangemessen“ abgelehnt, weil Deri wegen Betrugs, Bestechung und Steuerhinterziehung verurteilt worden war und zugesagt hatte, kein öffentliches Amt mehr anzustreben.
Noch wichtiger ist jedoch, dass das Gesetz es Netanjahu ermöglichen wird, andere diktatorische Maßnahmen zu forcieren, da der Oberste Gerichtshof – die einzige staatliche Institution, die das israelische Einkammerparlament zur Verantwortung ziehen kann, und das nicht von seiner rechten Kabale kontrolliert wird – sie nicht für ungültig erklären kann. Allerdings wird erwartet, dass der Oberste Gerichtshof das Gesetz nach seiner Verabschiedung überprüft und für ungültig erklären wird, was zu einem verfassungsrechtlichen Showdown mit der Regierung führen wird.
Im März hatte Netanjahu angesichts der bisher größten Proteste in der Geschichte Israels, darunter massive Straßenproteste und einer umfangreichen Arbeitsniederlegung großer Teile der israelischen Arbeiterklasse, versprochen, die Maßnahmen auszusetzen und einen Kompromiss mit den Oppositionsparteien in Aussicht gestellt. Da sich seine rechtsextremen Kollegen jedoch weigerten, einem Kompromiss zuzustimmen, wurden die Verhandlungen ausgesetzt. Seither hat Netanjahu seinen Kurs ungeachtet der anhaltenden Massenproteste, die seit Beginn des Jahres das Land erschüttert haben, fortgesetzt.
Netanjahu hat die drei Monate seither genutzt, um eine Reihe von kriminellen Provokationen gegen die Palästinenser im Westjordanland zu organisieren, das Israel seit 56 Jahren rechtswidrig besetzt hält. Er führte außerdem Militäroperationen gegen den Iran, Syrien und den Libanon, die einige der militanten Widerstandsgruppen gegen Israel unterstützen. Auf diese Weise hofft er, die Spannungen nach außen abzulenken und ein Gefühl nationaler Einheit zu schaffen.
Erst letzte Woche griff Israel zwei Tage lang das dicht besiedelte Flüchtlingslager außerhalb von Dschenin an, in dem 14.000 Palästinenser leben. Es kam zu erbitterten Kämpfen mit palästinensischen Kämpfern und zur vorsätzlichen Zerstörung großer Teile der zivilen Infrastruktur, u.a. für Wasser, Abwasser, Telekommunikation, Strom und von Gesundheitseinrichtungen. Diese Aktion fand größtenteils im Schutz von Luftangriffen durch Hubschrauber und Drohnen statt. Mindestens zwölf Palästinenser wurden getötet, darunter vier Jugendliche. Mehr als 100 wurden verwundet und ein Viertel der Lagerbewohner mussten fliehen.
Ein Gremium von Menschenrechtsexperten der Vereinten Nationen erklärte, dass Israels Vorgehen ein „eklatanter Verstoß gegen das Völkerrecht und gegen die Normen für die Anwendung von Gewalt sei, möglicherweise auch ein Kriegsverbrechen... Die Angriffe stellen eine kollektive Bestrafung der palästinensischen Bevölkerung dar, die von den israelischen Behörden als ,kollektives Sicherheitsrisiko‘ eingestuft wurde.“
Zweifellos zielt diese kriminelle Terror- und Mordkampagne darauf ab, eine neue Welle von palästinensischen Anschlägen zu provozieren, die dann den Vorwand liefern soll für weitere gewaltsame Vertreibungen und ethnische Säuberungen von Palästinensern, die Eingliederung des Westjordanlands in Israel, die Internierung der verbliebenen Palästinenser in isolierten Bantustans ohne Zugang zu den grundlegendsten Dingen des modernen Lebens und die Errichtung eines jüdisch-chauvinistischen Staats, in dem die arabischen Staatsbürger nur noch Bürger zweiter Klasse sind.
Dabei genießt die Netanjahu-Regierung die uneingeschränkte Unterstützung der selbsternannten Führer der Massenproteste, die nahezu allesamt schon einmal Ministerposten unter Netanjahu innehatten oder kaum politische Differenzen mit ihm haben. Genau wie der ehemalige Ministerpräsident Yair Lapid und Ex-Verteidigungsminister Benny Gantz stehen sie ebenso uneingeschränkt hinter dem zionistischen Staat und der Unterdrückung der Palästinenser wie die rechtsextreme Regierung.
Sie repräsentieren keine „progressive“ Alternative, sondern sind nur gegen Netanjahus Justizreform, weil sie befürchten, diese und die zunehmende Vorherrschaft religiöser Kräfte werde den Mythos zerstören, Israel sei die „einzige Demokratie im Nahen Osten“ und damit die Interessen des Staats gefährden. Sie haben sich geweigert, die Unterstützung der arabischen Bevölkerung Israels zu mobilisieren, ganz zu schweigen von der Unterstützung der Palästinenser in den besetzten Gebieten. Stattdessen ertränken sie die Demonstrationen in einem Meer israelischer Flaggen.
Selbst jetzt, angesichts einer Regierung, die jedes Zugeständnis ablehnt und ihre Unterdrückung der Palästinenser verschärft, fordern Lapid und Gantz die Wiederaufnahme von Verhandlungen über einen „Kompromiss“.
Damit wird es noch dringlicher, die reaktionäre zionistische Führung der Protestbewegung zu überwinden und für die Einheit der arabischen und jüdischen Arbeiter in einem gemeinsamen Kampf zur Verteidigung von Arbeitsplätzen, Lebensstandard und demokratischen Rechten zu kämpfen, einschließlich der nationalen Rechte der Palästinenser. Dies ist nur möglich auf der Grundlage des Programms und der Perspektive des internationalen Sozialismus.