„Ich bin mir sicher, in Frankreich gibt es Tausende wie mich, denen es genauso geht."

100.000 Beschäftigte der kanadischen Bundesbehörden seit Mittwoch im Streik

Letzten Mittwoch begann in Kanada ein Streik von über 100.000 Beschäftigten der Bundesbehörden. Die liberale Trudeau-Regierung betont, sie habe nicht die Absicht, den Forderungen der Arbeiter nachzugeben. Die Beschäftigten der Steuer-, Einwanderungs- und Meldebehörden sowie des Amts für Veteranenangelegenheiten und vom Service Canada fordern der Inflation entsprechende Lohnerhöhungen, besseren Schutz ihrer Arbeitsplätze und das Recht auf mobiles Arbeiten.

Die Streikenden, die seit zwei Jahren keinen Tarifvertrag haben, werden bei den Tarifverhandlungen von der Public Service Alliance of Canada (PSAC) vertreten. Die PSAC fordert eine jährliche Lohnerhöhung von 4,5 Prozent bei drei Jahren Laufzeit, was eine deutliche Reallohnsenkung bedeuten würde. Letztes Jahr lag die Inflation bei über acht Prozent und derzeit noch bei über fünf Prozent, wobei die Lebensmittelpreise doppelt so stark steigen. Die Trudeau-Regierung hat sich während der gesamten Tarifverhandlungen provokativ verhalten und wird dabei von einer bösartigen Hetzkampagne der herrschenden Klasse unterstützt, die die Streikenden als überbezahlt verunglimpft und ihre Forderungen verächtlich zurückweist. Sie hat deutlich gemacht, dass sie nicht die Absicht hat, über ihren letzten, beleidigenden Vorschlag hinauszugehen, die Löhne über drei Jahre verteilt um magere neun Prozent zu „erhöhen“.

Der Ausstand fällt mit einem weltweiten Wiederaufleben des Klassenkampfs zusammen. In Europa und den USA streiken Arbeiter wegen der gleichen grundlegenden Probleme, die auch dem Streik der kanadischen Bundesbeschäftigten zugrunde liegen. In Frankreich haben in den letzten Monaten Millionen von Arbeitern mit Streiks gegen Präsident Emmanuel Macron protestiert, der einen brutalen Angriff auf die Rentenansprüche der Arbeiter durchgedrückt hat. In den USA stehen in den kommenden Wochen und Monaten Hunderttausenden von Arbeitern Tarifkämpfe bevor. Um dabei ihre Forderungen durchzusetzen, ist es notwendig, dass die Arbeiterklasse einen politischen Kampf gegen die kapitalistische Austeritäts- und Kriegspolitik aufnehmen. Genau wie bei den Streikenden in Kanada geht es um Lohnerhöhungen, die mit den Lebenshaltungskosten Schritt halten, und um den Schutz ihrer Arbeitsplätze.

Reporter der World Socialist Web Site sprachen in den letzten Tagen an den Streikposten in Kitchener und Mississauga in der Provinz Ontario sowie in Québec mit Arbeitern über diese Fragen und den Weg vorwärts in ihrem Kampf. Die Arbeiter äußerten ihre Entschlossenheit, für Lohnerhöhungen auf Höhe der Inflationsrate zu kämpfen und wiesen darauf hin, was ihr Kampf mit denen der Arbeiter überall in der Welt gemeinsam hat.

Die Streikenden äußerten sich ausführlich zu den Schwierigkeiten, angesichts der galoppierenden Inflation ihre Lebenshaltungskosten abzudecken. Die Angriffe der Leitmedien auf ihren Kampf wiesen sie wütend zurück.

Ein Streikender sagte zu der Lohnforderung der PSAC: „Wenn man es genau betrachtet, hatten wir seit 2020 keine Angleichung an die Lebenshaltungskosten mehr. Wenn man die Inflation und die Pandemie berücksichtigt, ist das nicht wirklich viel Geld.“

Ein anderer fügte hinzu: „Letzten Endes sind wir hier, um unsere Kollegen zu unterstützen. Es ist an der Zeit, dass wir nach zwei Jahren einen Vertrag bekommen. Wir sind im Rückstand, weil wir das nächstes Jahr wieder tun werden. Es geht einfach darum, dass wir in der Lage sein wollen, unsere Familien zu unterstützen.“

Olivia (rechts) und Diana (links), zwei streikende Beschäftigte der Bundesbehörden in Mississauga (Foto: WSWS)

Diana, eine Streikende in Mississauga, erklärte zu den Herausforderungen durch die steigenden Lebenshaltungskosten: „Ich gehe überhaupt nicht auswärts essen, ich gehe nicht mehr ins Kino. Ich unternehme buchstäblich gar nichts mehr. Ich arbeite nur noch, zahle meine Rechnungen und gehe mit dem Hund im Park spazieren, das war’s.“

Die Arbeiter stellten ihre finanzielle Lage den riesigen Summen gegenüber, die für die Superreichen zur Verfügung gestellt wurden. Auf die Frage nach ihrer Meinung zur Behauptung der Regierung, sie habe kein Geld für eine Gehaltserhöhung für die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes auf Höhe der Inflationsrate, während sie gleichzeitig den Banken, Unternehmen und reichen Investoren seit Beginn der Pandemie 650 Milliarden Dollar ohne jede Bedingung zur Verfügung gestellt hat, antwortete Olivia: „Verdienen wir nicht auch etwas? Wir haben während der Pandemie durchgearbeitet. Wir sind systemrelevante Dienstleister. Alles von der Wiege bis zur Bahre. Wir wollen bloß eine bescheidene Gehaltserhöhung.“

Sie fuhr fort: „Die Regierung kommt mit ihren Entscheidungen durch. Diejenigen aus der Welt der Unternehmer, die betroffen sind, kommen auch mit allem durch. Nur der kleine Mann wird über den Tisch gezogen. Und wir sind die Kleinen. Wir sind nur Beschäftigte im öffentlichen Dienst und werden genauso über den Tisch gezogen wie alle anderen am unteren Ende.“

Ein Streikführer in Kitchener äußerte sich über die arrogante Haltung der Regierung bei den Tarifverhandlungen und wies darauf hin, wie die Tarifverhandlungsrechte der Arbeiter immer weiter verschlechtert wurden: „Eine Sache, die die die Öffentlichkeit nicht weiß, ist, dass es Jahre dauert, bis unsere Tarifverträge neu ausgehandelt sind, wenn sie auslaufen. Deshalb verhandeln wir unsere Tarifverträge nicht mehr, bevor sie auslaufen, wie wir es gemacht haben, als ich vor 15 Jahren angefangen habe. Heute dauert es vier Jahre, bevor wir neu verhandeln. Sie können sich also vorstellen, dass das nächste Mal in zwei oder drei Jahren sein wird. Dieser Tarifvertrag ist 2021 ausgelaufen.“

Ein Streikposten in Québec City sagte über die bösartige Propaganda der Medien gegen den Streik: „Ich habe einen Zeitungsartikel gelesen, in dem es hieß: ,Die Liste der Forderungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist lang. ...‘ Nein! Das ist keine lange Liste. Es geht um zwei Dinge: Gehalt und mobiles Arbeiten. Bei diesen zwei Dingen hakt es. Es gibt keine lange Liste... als würden wir ständig rumjammern.“

Was die Pandemie betrifft, die offiziell mehr als 50.000 Todesopfer gefordert hat und dafür gesorgt hat, dass zahllose weitere Menschen unter Long Covid leiden, betonten die Streikenden die zusätzliche Belastung, die ihnen auferlegt wurde. Zwei Arbeiter aus Québec, die sich nach eigenen Angaben zwei- bzw. viermal mit Covid-19 infiziert haben, schilderten, wie sie Überstunden machen mussten, um die Zahlungen von Arbeitslosenhilfe und anderen Sozialleistungen zu organisieren.

Bei den Diskussionen mit den Arbeitern kam schnell der internationale Kontext zur Sprache, in dem der Streik stattfindet. Obwohl die PSAC und die gesamte Gewerkschaftsbürokratie darauf beharren, den Streik als rein nationale Angelegenheit darzustellen, erkannten die Arbeiter ohne Probleme die Gemeinsamkeiten zwischen ihrem Kampf und den Kämpfen der Arbeiter und Jugendlichen in anderen Ländern gegen den kapitalistischen Austeritätskurs.

Olivia aus Mississauga erklärte: „Mit einer Familie mit drei Jungs, wie ich sie habe, war es noch nie einfach, aber jetzt wird es unmöglich. Und ich bin sicher, in Frankreich gibt es Leute wie mich, vielleicht Tausende, denen es genauso geht. Wir dürfen es uns einfach nicht mehr bieten lassen.“

Diana erklärte: „Die Mittelschicht verschwindet. Wir werden alle immer tiefer in Not oder sogar in die Armut getrieben.“

Arbeiter erklärten, wie ihre Forderung nach dem Recht auf mobiles Arbeiten ihnen zu einem besseren Gleichgewicht zwischen Berufs- und Familienleben verhelfen würde. Sie wiesen auch auf die finanziellen Vorteile hin, weil ihre Gehaltsschecks knapp bemessen sind. Olivia erklärte: „Wir müssten nicht mit dem Auto fahren, wenn wir von zu Hause arbeiten können. Andernfalls kämen nochmal 500 Dollar für das Auto und 300 Dollar für Benzin dazu. ... Das sind allein für die Fahrten 800 Dollar pro Monat.“

Streikende Beschäftigte der Bundesbehörden in Kitchener, Ontario (Foto: WSWS)

Die Trudeau-Regierung verweigert jedes Zugeständnis beim Thema mobiles Arbeiten, ermutigt die Arbeiter aber zynisch, durch Homeoffice Streikbruch zu begehen. Laut einem Bericht der Globe and Mail betonten Vertreter der Regierung in Pressemitteilungen, die Arbeiter könnten während des Streiks den vollen Lohn erhalten, wenn sie sich von zu Hause aus in ihre Arbeits-Accounts einloggen.

Dies ist Teil einer bewussten Strategie, mit der die Trudeau-Regierung den Streik schwächen und isolieren will. Ihre Verbündeten in den Gewerkschaften unterstützen diese Strategie. Streikende erklärten gegenüber der WSWS, die PSAC zahle nur ein lächerlich niedriges Streikgeld und untergrabe damit die Fähigkeit der Arbeiter, einen langen Streik zu führen, während die Regierung unnachgiebig und entschlossen ist, bei den Personalkosten und Dienstleistungen zu sparen. Gleichzeitig gibt sie zweistellige Milliardenbeträge für den Krieg in der Ukraine und die Vorbereitungen auf einen Krieg gegen China aus. Ein Streikposten in Mississauga erklärte: „Ich glaube, die wollen es uns aussitzen lassen, bis wir nicht mehr weitermachen können.“

„Vom Streikgeld können wir nicht leben“, berichtete er. „Die PSAC zahlt uns nur 75 Dollar pro Tag. Einige Ortsverbände zahlen mehr, wenn sie das Geld haben, aber nicht alle. Die meisten von uns werden also nur einen Bruchteil ihres Gehalts bekommen, und auch nur dann, wenn sie auf Streikposten stehen.“

Weiter erklärte er: „Ich wohne in Toronto, da reicht es nicht lange. Also, wie lange kann ich mir das leisten? Ich darf den Streikposten nicht passieren, dafür würde ich eine Geldstrafe bekommen, und das will ich auch nicht. Aber ich will auch meine Rechnungen zahlen. Also weiß ich nicht, worauf es hinausläuft, aber es sieht nicht gut aus. Ich hoffe auf eine Einigung, aber ich weiß nicht, ob wir bekommen, was wir wollen.“

Das größte Hindernis für die Entwicklung eines echten Kampfs für Lohnerhöhungen über der Inflationsrate und sichere Arbeitsplätze ist die Gewerkschaftsbürokratie und ihr Bündnis mit der herrschenden Liberal Party und der sozialdemokratischen New Democratic Party. Dieses Bündnis, das jetzt durch ein „Versorgungs- und Vertrauensabkommen“ festgeschrieben wurde, in dem sich die NDP dazu verpflichtet, die Minderheitsregierung der Liberal Party bis Juni 2025 an der Macht zu halten, war jahrzehntelange ein wichtiges Werkzeug zur Unterdrückung des Klassenkampfs und die treibende Kraft bei der Umsetzung der Pläne der herrschenden Elite, imperialistische Kriege im Ausland zu führen und die eigenen Arbeiter zu unterdrücken.

Um aus der erstickenden politischen Kontrolle der Gewerkschaften, der NDP und ihrer liberalen Verbündeten auszubrechen, müssen die Arbeiter der Gewerkschaftsbürokratie die Kontrolle über den Streik entreißen und Aktionskomitees bilden. Diese müssen alles in ihrer Macht Stehende tun, um den Kampf auf andere Teile der Arbeiter des öffentlichen Diensts und der Privatwirtschaft auszuweiten, massiven Widerstand gegen alle Versuche der Regierung organisieren, sie per Gesetz an die Arbeit zu zwingen, und für eine politische Gegenoffensive der Arbeiterklasse kämpfen. Das Ziel muss sein, die immensen Mittel der Gesellschaft umzuverteilen, damit sie den sozialen Bedürfnissen und nicht dem privaten Profit dienen.

Unter den Streikenden herrscht große Zustimmung für eine Ausweitung des Kampfs, da sie erkennen, dass sie für die gesamte Arbeiterklasse kämpfen.

Ein Streikender erklärte: „Wenn ich gezwungen wäre, einen schlechten Tarifvertrag anzunehmen, und eine andere Gewerkschaft mich auffordern würde, ihn zu zerreißen und mich an einem gemeinsamen Streik zu beteiligen, würde ich 100-prozentig dahinter stehen. Das weiß ich.“

Weiter erklärte er: „Als Letztes möchte ich noch sagen, dass wir nicht nur für uns kämpfen. Wir kämpfen für alle Arbeiter in Kanada. Wir opfern uns, um zu versuchen, dass es für alle besser wird.“

Loading