Frankreich: Mehr als 1,5 Millionen Menschen demonstrieren erneut gegen Macrons Rentenkürzungen

Nach Angaben der Gewerkschaften haben am Mittwoch mehr als 1,5 Millionen Menschen an einem zwölften landesweiten Proteststreiktag gegen die Rentenkürzungen des französischen Präsidenten Emmanuel Macron demonstriert. Die wesentlichen Elemente der Rentenreform wurden vom französischen Verfassungsgericht gestern in den entscheidenden Aspekten gebilligt, womit alle Hindernisse für die Verabschiedung des Gesetzes beseitigt sind.

Die Proteste offenbarten erneut den explosiven Konflikt zwischen der Arbeiterklasse und dem kapitalistischen Staat. Macron, der „Präsident der Reichen“, setzt eine Rentenkürzung durch, die von drei Vierteln der Franzosen abgelehnt wird. In den sozialen Medien zirkulieren Aufnahmen von den gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Bereitschaftspolizisten, die wiederholt friedliche Demonstranten angegriffen haben. Es ist offensichtlich, dass Macron damit das Ziel verfolgt, Streiks und Proteste gegen die Kürzungen zu verhindern und sie trotz des überwältigenden Widerstands der Bevölkerung durchzusetzen.

Eine Demonstrantin trägt eine gelbe Weste mit der Aufschrift „Das Virus im Elysée-Präsidentenpalast“ und „In Mexiko und Gaza: Mauern der Schande gegen Einwanderer“.

Wenn die Proteste etwas kleiner ausfielen als frühere Proteste, dann nicht, weil die Kürzungen populärer sind, sondern weil die Gewerkschaftsbürokratien wochenlang vor „Gewalt“ gewarnt und eine bankrotte „Vermittlung“ mit Macron gesucht hatten. Sie setzten sich über zwei Drittel der Franzosen hinweg, die einen Generalstreik befürworteten, um die Wirtschaft zu blockieren und die Macron-Regierung zu stürzen. Die Gewerkschaftsapparate versuchten, die Proteste zu demobilisieren, obwohl Arbeiter und Jugendliche Gespräche mit Macron – der eindeutig nicht die Absicht hatte, über irgendetwas zu verhandeln – mit überwältigender Mehrheit ablehnten.

Es existiert nach wie vor eine explosive Wut in ganz Frankreich und breite Schichten von Arbeitern sind bereit, gegen das Gesetz zu kämpfen. Die Arbeiterklasse muss Macron durch einen Generalstreik zu Fall bringen, und wie die Parti de l'égalité socialiste (PES) erklärt hat, kann das nur geschehen, indem sie eine von der Bürokratie unabhängige Bewegung von unten aufbaut.

Auch gestern gingen Polizeieinheiten in den frühen Morgenstunden mit mehreren Razzien gegen streikende Arbeiter vor, die ihre Arbeitsplätze blockierten, darunter eine Müllverbrennungsanlage in Aubervilliers bei Paris und die Feyzin-Raffinerie in Lyon.

Zehntausende demonstrierten in größeren Städten in ganz Frankreich, darunter in Toulouse (70.000), Bordeaux (50.000) und Lyon (22.000). Gewerkschaftsvertreter schätzten die Zahl der Demonstrationsteilnehmer in Marseille, wo die Demonstranten Parolen gegen Macron skandierten, auf 150.000. In Paris sahen sich 400.000 Demonstranten einem Aufgebot von mehreren tausend schwer bewaffneten Bereitschaftspolizisten gegenüber, die den Verfassungsrat mit einem Großaufgebot bewachten, um zu verhindern, dass die Demonstranten das Gebäude plündern.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

In Lyon griff die Polizei wiederholt Demonstranten an und schlug auf einen Journalisten ein, bis sein Kopf blutüberströmt war.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

In Paris drangen streikende Eisenbahner in die Zentrale von LVMH ein, dem Luxusgüterkonzern des Milliardärs Bernard Arnault, der vor kurzem erneut der reichste Mann der Welt wurde. Sie skandierten Slogans und forderten die Rücknahme von Macrons Kürzungen. Am Ende des Marsches in Paris kam es zu Zusammenstößen zwischen der Bereitschaftspolizei und den Demonstranten auf dem Bastille-Platz, wo die Bereitschaftspolizei wiederholt Blendgranaten und Tränengassalven auf die Menge abfeuerte.

Loading Tweet ...
Tweet not loading? See it directly on Twitter

WSWS-Journalisten interviewten Demonstranten auf dem Marsch in Paris. Brandon, der als Maurer arbeitet und 2018 die „Gelbwesten“-Proteste gegen Macron unterstützte, sagte, er sei entschlossen, dass der Widerstand gegen die Kürzungen weitergehen müsse.

„Wir sind heute hier, weil wir unsere Renten zwei Jahre später bekommen werden, und wir wissen nicht, was das für unsere Kinder und Enkelkinder bedeutet. Werden die Menschen arbeiten müssen, bis sie 100 sind? Das ist unmöglich, wir sind zu müde“, sagte er.

Brandon

Brandon sagte, er sehe keinen Sinn in Gesprächen der Gewerkschaften mit Macron: „Sie haben hunderte Male versucht zu verhandeln. Macron ist einfach stur.“

„Er regiert Frankreich, aber ein Präsident sollte die Forderungen des Volkes erfüllen und es nicht nur verärgern“, so Brandon weiter. Er fügte hinzu, dass Macron die Verantwortung für die enorme Welle der Polizeibrutalität trägt, die bei den Protesten gegen seine Rentenkürzungen entfesselt wurde: „Die Polizeikräfte sind Beamte des Staates. Macron leitet das alles. Wenn wir also etwas erzwingen müssen, werden wir etwas erzwingen; wenn wir schreien müssen, werden wir das tun; wenn wir zuschlagen müssen, werden wir das tun, denn sie schlagen uns.“

Tess, eine Studentin, sagte der WSWS, sie protestiere gegen die Rentenkürzungen, weil „wir Jugendlichen unser ganzes Leben noch vor uns haben und wir nicht bei der Arbeit sterben wollen... Es ist unsere Zukunft, es ist meine Zukunft und die der jungen Leute in Frankreich“.

Dass Macron inmitten des Ukrainekrieges zwischen der Nato und Russland jährlich zig Milliarden Euro von den Renten in den Militärhaushalt umleitet, verurteilte Tess scharf. Sie sagte, der Krieg sei „sinnlos angesichts all dessen, was in diesem Land passiert... Die Menschen arbeiten bereits sehr hart, und dann wird ihnen gesagt, sie sollen in den Krieg ziehen? Nein, das ist wirklich sinnlos“.

Sie fügte hinzu: „Macron will alles machen, er will das ganze Geld. Er will alles haben, aber nichts dafür machen. Nun, das ist nicht möglich.“

Die WSWS befragte auch Christophe Farinet, einen Funktionär der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale des Travailleurs de Télécommunications).

Er berichtete über den Polizeiangriff auf die Müllverbrennungsanlage in Aubervilliers: „Heute wurden 17 Genossen abgeführt und drei ins Gefängnis gesteckt, ein Fahrer wurde verprügelt. Macron respektiert die Menschlichkeit nicht. Er ist verächtlich, er ist arrogant, er denkt, er kann alles von oben regeln, ohne auf die französische Demokratie Rücksicht zu nehmen, aber das wird ihm noch zum Verhängnis werden. Das französische Volk hat es in der Geschichte verstanden, sich gegen alle Formen der Diktatur zu erheben, und Macron ist eine diktatorische Kraft.“

CGT-Vertreter Christophe Farinet

In seiner Gewerkschaft, fügte Farinet hinzu, „sind die Arbeiter sehr, sehr wütend und motiviert zu kämpfen. Sie empfinden diese Kürzungen als extrem ungerecht, und dann ist da noch die Inflation, all das, was sie durchmachen müssen. Macron regiert gegen das Volk, er ist ein Vertreter des Kapitalismus.“

Farinet wies darauf hin, dass die stark ausgebeuteten Arbeiter in seiner Branche nach den Covid-19-Lockdowns im Jahr 2020 eine bessere Behandlung erwarteten: „Wir haben im Jahr 2020 eine Pandemie erlebt. Wir haben gesehen, ... dass es in diesem Land Arbeitsplätze gibt, die unverzichtbar sind, und dass die Menschen, die sie ausüben, nicht in den Lockdown gehen können. Ich denke dabei nicht nur an Arbeiter in der Kanalisation oder der Müllabfuhr, sondern auch an Kassierer und Wachpersonal. Unsere politischen Führer versprachen, dass sie die Gesellschaft danach mit anderen Augen sehen würden. Aber in Wirklichkeit sehen wir, dass die Arbeiter drei Jahre später zwei Jahre länger arbeiten müssen, bevor sie in Rente gehen, obwohl die Schwierigkeit ihrer Arbeit bekannt ist.“

Er stellte fest: „Diese Reform ist tödlich, denn derzeit haben wir Arbeiter, die als ‚aktive‘ Berufe eingestuft sind, die das Recht haben, mit 57 in Rente zu gehen. Dann gibt es die Kanalarbeiter und ihre Vorarbeiter, die mit 52 Jahren in Rente gehen können. Ihre Arbeit wird als ‚ungesund‘ eingestuft und sie haben eine um 12 bis 17 Jahre geringere Lebenserwartung als der Durchschnitt der französischen Bevölkerung. Wenn man ihnen zwei Jahre zusätzlich auferlegt, ist das einfach kriminell.“

Angesprochen auf die Versuche der Gewerkschaftsbürokratie, mit Macron zu verhandeln, rief er zu gewerkschaftlicher Geschlossenheit gegenüber Macron auf: „Bei dieser Vermittlung wird nichts herauskommen. Derzeit hält bleibt die gewerkschaftliche Einheit aufrecht. Aber es gibt keinen Grund, sich mit Macron an einen Tisch zu setzen. Er hat alles getan, was er konnte, um die Arbeiter zu strangulieren... Es kann keinen Dialog mit Macron geben.“

Angesichts der explosiven Wut breiter Schichten der Arbeiterklasse, von denen viele unter immer schrecklicheren Bedingungen arbeiten, haben die Gewerkschaften in der Tat weiterhin zu Streiks aufgerufen. Die Arbeiter stehen jedoch vor einem kritischen Problem, das nicht durch „Einigkeit“ zwischen den verschiedenen Gewerkschaftsverbänden gelöst werden kann: Alle Gewerkschaftsbürokratien verraten die Basis, indem sie eine „Vermittlung“ mit Macron fordern, vor „Gewalt“ durch Demonstranten warnen und so daran arbeiten, die überwältigende Opposition gegen Frankreichs „Präsidenten der Reichen“ zu demobilisieren.

Aus diesem langen und erbitterten Kampf müssen entscheidende politische Lehren gezogen werden. Für die Arbeiterklasse besteht die einzige praktikable Antwort auf Macrons polizeistaatliche Repression und seine beschleunigte Hinwendung zu Austerität und autoritärem Militarismus darin, die Kontrolle über ihre Kämpfe selbst in die Hand zu nehmen – durch den Aufbau von Aktionskomitees der Basis, die die Vorbereitung eines Generalstreiks koordinieren, um Macron zu stürzen und der von ihm vertretenen Finanzaristokratie die Macht über das Wirtschaftsleben zu entreißen.

Loading