Ein Jahr nach Beginn des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine sind die Lebensbedingungen für Arbeiter und Jugendliche im ganzen Land schlichtweg katastrophal.
Im November bezifferte US-Generalstabschef Mark Milley die Zahl der militärischen Opfer für die Ukraine und Russland auf jeweils 100.000. Monatelang lag die offizielle Zahl der täglichen Todesopfer auf Seiten der Ukraine bei Hunderten Soldaten. Ein pensionierter US-Marine, der an der Seite der ukrainischen Armee im Donbass kämpfte, erklärte gegenüber ABC News: „An der Front beträgt die Lebenserwartung etwa vier Stunden.“ Die Situation in der Stadt Bachmut verglich er mit einem „Fleischwolf“.
Doch die militärischen Verluste, so schrecklich sie auch sind, offenbaren nur einen Teil der Katastrophe eines gequälten Landes, das zum zentralen Schauplatz des Kriegs zwischen der Nato und Russland geworden ist. Schon vor dem Krieg galt die Ukraine als das ärmste Land Europas, dessen Bevölkerung infolge der stalinistischen Restauration des Kapitalismus und der immer weiteren Spardiktate des Internationalen Währungsfonds (IWF) bitter ausgebeutet wurde und verarmte.
Inmitten des Kriegs hat sich diese Entwicklung dramatisch beschleunigt. Während die Nato-Mächte mehrere zehn Milliarden Dollar in die ukrainische Armee und deren Ausrüstung gesteckt haben, wodurch Zehn- wenn nicht so sogar Hunderttausende Menschen ihr Leben verloren, wurde der Großteil der Bevölkerung buchstäblich dem Hungertod preisgegeben. Nach Angaben der Welthungerkarte der Vereinten Nationen leiden 12,8 Millionen der 30 Millionen Einwohner, die noch in der Ukraine leben, an Mangelernährung. (Vor dem Krieg lag die Anzahl der Einwohner bei knapp 39 Millionen, mehr als acht Millionen sind wegen des Kriegs außer Landes geflohen.)
In den von Russland kontrollierten Gebieten im Osten der Ukraine sind die Gradmesser für Hunger und Unterernährung besonders hoch. In der Region Donezk ist mehr als die Hälfte der Bevölkerung (54 Prozent oder 2 Millionen Menschen) unzureichend mit Nahrung versorgt. Landesweit leiden insgesamt 8,2 Prozent der Kinder an akuter Unterernährung und 22,9 Prozent der Kinder unter fünf Jahren können nur unzureichend ernährt werden. Nirgendwo sonst in Europa sind die Zahlen derart hoch.
Die World Socialist Web Site sprach mit Jugendlichen in verschiedenen Teilen der Ukraine über ihre Erfahrungen seit Kriegsbeginn. Aus Sicherheitsgründen wurden alle Antworten anonymisiert.
Ein Teenager aus dem Gebiet Dnipropetrowsk, das während des Konflikts größtenteils direkt an der Front lag, antwortete auf die Frage, wie er das erste Kriegsjahr erlebt habe, mit den Worten: „Während des ersten Jahres habe ich immer wieder dieselben schrecklichen Explosionen erlebt. Jetzt sind es zwar weniger, aber trotzdem. Der Krieg kam für mich und meine Freunde überraschend, es kam alles sehr plötzlich.“
Ein Anfang Zwanzigjähriger aus der Südukraine, wo es ebenfalls zu schweren Kämpfen gekommen ist, erinnert sich:
Als ich [im Januar 2022] die Niederschlagung der Proteste in Kasachstan durch russische Soldaten und russische Waffen beobachtete, wusste ich zweifelsfrei, dass es einen Krieg geben würde. Dies dachte ich nicht deshalb, weil es in Russland immer noch Menschen gibt, die von einem national-chauvinistischen Interesse getrieben werden. Denn darauf lässt sich dieser Krieg nicht reduzieren. Vielmehr dachte ich, es geht um das Überleben Russlands selbst. Ich erinnere mich noch sehr gut an die aufgeheizte Atmosphäre während der Militärübungen nahe der ukrainischen Grenze.
Natürlich hörte man damals, Russland bereite einen Angriff vor, und es wurde dazu aufgerufen, Selenskyj zu unterstützen. Alle, die das nicht täten, würden Putin unterstützen. Ich würde sagen, die Stimmung war zu dieser Zeit von zwei Elementen geprägt:
Einerseits waren viele der Meinung, bis zum Kriegsausbruch sei es nur eine Frage der Zeit. Andererseits meinten viele, dass der Krieg doch nicht jetzt ausbrechen werde. Viele Menschen waren damals angespannt und ängstlich, viele vertrauten aber auch darauf, dass Putin nicht angreifen werde. Ich erinnere mich, dass ich zu Beginn des Krieges mit einer Bibliothekarin sprach. Sie erzählte mir, sie habe gedacht, Putin sei ‚der Gute. Und jetzt hat er einfach angegriffen.‘ Sie verstand nicht, wie das möglich war.
Ich wusste bereits, dass ein Krieg unvermeidlich war, als zwei ukrainische Schützenpanzer die russische Grenze überquerten und Putin die Volksrepublik Donezk [DNR] und die Volksrepublik Lugansk [LNR] anerkannte, und als Truppen der Russischen Föderation in das Gebiet gebracht wurden, um sie dort zu halten, und dass das gesamte Gebiet von Donezk und Lugansk Teil der DNR und der LNR werden musste.
Vor dem Krieg, und als der Krieg begann, dachten wir, Putin würde Kiew erreichen. Ich rechnete auch damit, dass sie in unserer Stadt stehen würden. Ich erinnere mich sehr gut an die ersten Sirenen oder wie die ersten Luftschutzbunker geöffnet wurden. Ich erinnere mich, dass es Ende Februar, nicht weit von meiner Stadt entfernt, zwei Explosionen gab, und auch an die Marschflugkörper, die an uns vorbeiflogen. Ich erinnere mich, dass die Luftabwehr in der zweiten Dezemberhälfte nachts direkt über uns eine Rakete abschoss. Es gab eine laute Explosion, und ein Brand brach aus.
Jugendliche in den südlichen und westlichen Teilen der Ukraine sind von den Kampfhandlungen weniger betroffen, dennoch erleben sie den schweren wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch des Landes. Sie sprachen vor allem über die extremen sozialen und politischen Spannungen. Nachdem die Wirtschaft infolge des Kriegs nahezu vollständig zusammengebrochen ist, sind ein Drittel der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter arbeitslos.
Ein 26-Jähriger aus Transkarpatien, eine Region in der Westukraine, die an Rumänien, Ungarn, Polen und die Slowakei grenzt, sagte: „Die Arbeitssituation ist schrecklich. Allein, dass es noch nicht mal die Aussicht auf einen Teilzeitjob gibt, der nur das Überleben sichert, führt das gesellschaftliche Miteinander in eine Sackgasse. Wir haben oft erlebt, dass Menschen an den Rand der Gesellschaft gedrängt wurden und wegen der fehlenden Jobs ganz unten auf der sozialen Leiter angekommen sind. Für alle, die vor dem Krieg ins Ausland gegangen sind, um Geld zu verdienten, und sich immer noch dort aufhalten, ist die Situation besser. Denn das gibt ihnen die Möglichkeit, ihren Verwandten, die noch in der Ukraine leben, zu helfen.“
In Odessa sprach ein Jugendlicher über die extrem hohe Lebensmittelunsicherheit und die Arbeitslosigkeit. Er betonte, das Ende der staatlich regulierten Preise habe dazu geführt, dass „man nicht einmal mehr bei ATB (einer Lebensmittelkette) den sehr günstigen Käse bekommen kann. Denn jeder Käse ist teuer geworden. Was die Arbeitslosigkeit betrifft: Sie ist allgemein gesprochen sehr hoch. Nur im Dienstleitungssektor findet man noch Arbeit. Aber das ist keine Arbeit, das ist Sklaverei.“
In einer anderen Region der Südukraine, in der etwa ein Drittel der Bevölkerung unter Mangelernährung leidet, sagte ein Jugendlicher: „Alles, was es an Lebensmittel gibt, ist in meiner Stadt verfügbar. Unsere Region liegt in der Nähe der Frontlinie, daher haben ältere und behinderte Menschen Hilfspakete vom Roten Kreuz und von den Stadtbehörden erhalten. Zu Beginn bekamen Behinderte der 1. und 2. Gruppe einmal im Monat eine Ration, dann nur noch zweimal im Monat.“
In der nahegelegenen Stadt Nikolaev sei die Situation jedoch schwieriger. Hier „wühlen junge Menschen meines Alters im Müll [um an Lebensmittel zu kommen], die Läden sind geschlossen und alles ist sehr teuer geworden.“
Inmitten dieser enormen sozialen Krise und der unerbittlichen Eskalation des Kriegs durch die Nato fördert die ukrainische Regierung offen faschistische Kräfte wie das Asow-Bataillon und preist Nazi-Kollaborateure wie Stepan Bandera, die das politische und kulturelle Leben des Landes vollständig durchdringen sollen.
In der Region Dnipropetrowsk sagte ein Jugendlicher: „Es ist schrecklich, besonders das Asow-Bataillon. Sie tragen Hakenkreuze, warum sollten sie Helden sein? Ja, es gibt Freiwillige [in diesen Bataillonen], dennoch: Bandera ist ein echter Nazi, warum sollte er ein Held sein?“ Ein Jugendlicher aus Odessa merkte an, dass „den Menschen sämtliche Informationen vorenthalten werden. Damit sollen ihnen all diese Ideen als eine Art Patriotismus eingeflößt werden, und das mit einer erschütternden Virulenz. Selbst eine geringe Abweichung von der herrschenden Meinung wird als ‚Verrat‘ dargestellt.“
Ein Junge aus derselben Stadt merkte an: „Die staatliche Politik [zur Förderung des Faschismus] schlägt sich zum Beispiel in der Musik nieder, die in den Medien, auf Konzerten und im übrigen Rundfunk bevorzugt wird. Allerdings hat die nationalistische Politik der ukrainischen Regierung während des Krieges eine besonders krasse Form angenommen. Sie betrifft viele weitere Informationsquellen, einschließlich ideologischer Plakate, zum Beispiel an öffentlichen Orten.“
Ein weiterer fügte hinzu: „Die nationalistische Propaganda strömt in den Mainstream-Medien aus jeder kulturellen Quelle. Es gibt sogar eigens Propaganda, die sich über verschiedene soziale Netzwerke und Unterhaltungsmedien ausschließlich an die jüngere Generation richtet. Dabei findet eine Revision der Ereignisse des 20. Jahrhunderts statt: Straßennamen werden geändert, und Denkmäler von Personen, die nach Ansicht der herrschenden Klasse nicht für die ‚Unabhängigkeit‘ gekämpft haben, werden abgerissen.“
Ein Jugendlicher aus Transkarpatien schlussfolgerte: „Seit einem Jahr zeigt uns der Krieg, dass diejenigen, die den Krieg unterstützen, zu allen Verbrechen fähig sind. Der Preis, den beide Seiten für den Krieg bezahlen, ist zu hoch. Ich kann mir keine friedliche Lösung des Konflikts in naher Zukunft vorstellen. Vielmehr wird dieser Zermürbungskrieg wahrscheinlich irgendwann dazu führen, dass die Ressourcen einer Seite erschöpft sind. Aber ein solches Szenario wird wahrscheinlich nicht so bald eintreten.“
Ein Unterstützer des Internationalen Komitees in der Südukraine betonte, dass die Arbeiterklasse in der Ukraine „lernen muss, ihre eigenen Interessen zu verstehen, wie auch die Interessen derer, die Arbeiter in diesen Krieg schicken. Das ukrainische Proletariat muss kämpfen. Dazu benötigt es eine Vorhut, die es zum Sieg führen kann.“
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