Letzte Woche wurde ein Video bekannt, das den brutalen Angriff amerikanischer Polizisten auf Tyre Nichols zeigt. Drei Tage später erlag Nichols seinen schweren Verletzungen, die ihm die Polizei zugefügt hatte. In der öffentlichen Debatte haben US-Präsident Joe Biden und die Leitmedien versucht, die Ermordung von Nichols als den jüngsten Ausdruck von „systemischem Rassismus“ darzustellen.
Die Fakten des Vorfalls machen diese Darstellung schwierig. Die Polizisten, die wegen Todschlags an dem 29-jährigen FedEx-Mitarbeiter Nichols angeklagt sind - Demetrius Haley, Tadarrius Bean, Emmitt Martin III, Desmond Mills Jr. und Justin Smith - sind ebenso wie das Opfer Nichols selbst Afro-Amerikaner.
Es sind keine Beweise dafür vorgelegt worden, dass die „Verkehrskontrolle“ bei Nichols am 7. Januar und der anschließende Übergriff der Polizei rassistisch motiviert waren. Zwar werden rassistische und rückständige Einstellungen in den Polizeirevieren auf der ganzen Welt kultiviert, doch im Großen und Ganzen entsprechen die Hautfarben der Mitarbeitenden in der Polizeibehörde von Memphis auch der arbeitenden Bevölkerung dieser Stadt.
Von den fast 2.000 Polizisten in der Abteilung sind fast 60 Prozent schwarz. Dies entspricht fast den 64 Prozent der Bevölkerung von Memphis, die sich als „schwarz“ bezeichnen. Sechs von neun Mitgliedern des Führungsstabs der Polizei von Memphis sind ebenfalls schwarz, darunter auch Polizeichefin Cerelyn Davis, die für die Schaffung der SCORPION-Einheit, die Nichols tötete, verantwortlich ist.
Das Narrativ des Rassismus wird bedient, um die nicht enden wollende Serie von Polizeimorden in Amerika zu erklären. Deshalb behaupten Vertreter der herrschenden Klasse, dass die Hautfarbe der Polizisten in Memphis keine Rolle spiele. Wenn „schwarze Polizisten“ also „schwarze Menschen“ töten, so wird dies damit erklärt, dass die amerikanische Gesellschaft im Allgemeinen systemisch rassistisch sei.
In mehreren Meinungsartikeln in der New York Times und der Washington Post, die beide den Demokraten nahestehen, wird der Mord an Nichols als Bestätigung des „systemischen Rassismus“ in Amerika dargestellt.
In einem Leitartikel vom 29. Januar der Washington Post wurde folgende Frage aufgeworfen: „Wie oft noch werden Amerikaner und ihre Repräsentanten in Regierung und Justiz zu einem solchen Vorfall: ‚Nie wieder!‘ sagen, nur um hinterher reumütig ‚Wieder einmal!‘ zu konstatieren?“ (Hervorhebung hinzugefügt)
Mit einem kleinen verbalen Taschenspielertrick versucht die Post, den Amerikanern, der amerikanischen Bevölkerung insgesamt, die Verantwortung für die endlose Reihe von brutaler Gewalt und tödlichen Schikanen aufzubürden, die in Wirklichkeit von der Polizei begangen werden. Die Polizei ist eine Institution des Staates und steht unter der Führung der beiden staatstragenden Parteien. Seitdem Biden sein Amt angetreten hat, nach Trumps gescheitertem Staatsstreich, haben der Präsident und die Demokraten versucht, ihre faschistischen „Kollegen von der Republikanischen Partei“ in Fragen der Unterstützung und Finanzierung der Polizei rechts zu überholen.
Gleichzeitig wird versucht, die Rolle der Polizei von Memphis insgesamt zu beschönigen. Die Washington Post schreibt, dass es einige „ermutigende Aspekte in dieser Episode“ gebe. So habe die Polizeichefin von Memphis, Cerelyn Davis, „ihren eigenen kritischen Blick auf die anfänglichen Berichte geworfen und die Männer 12 Tage später entlassen“.
Tatsächlich jedoch war die ursprüngliche Erklärung der Polizei von Memphis in keiner Weise „kritisch“. Die Polizeibehörde behauptete, es sei zu einer „Konfrontation“ zwischen Nichols und der Polizei gekommen. Man habe Nichols ins Krankenhaus gebracht, nachdem er „über Atemnot geklagt“ habe.
Die Falschaussage der Polizei war eine der Hauptursachen dafür, dass die Eltern von Nichols nach seinem Tod mehrfach vor dem Polizeirevier protestierten. Sie veröffentlichten ein Foto vom geschundenen Leichnam ihres Kindes und verglichen die Behandlung von Nichols mit der Gewalt, die Rassisten im Jahre 1955 Emmett Till angetan hatten.
Die Post versichert ihren Lesern: „Die meisten Polizeibeamten leisten eine schwierige und notwendige Arbeit.“ Sie zieht jedoch aus dem jüngsten Vorfall den Schluss, dass ein Wandel erforderlich sei, „der nicht allein durch Gesetze und politische Maßnahmen herbeigeführt werden kann: Er ist kulturell zu verorten.“ Soll heißen, das Problem ist letztlich der Rassismus.
Das Narrativ vom Rassismus wird von Charles Blow von der New York Times in seiner Kolumne vom 27. Januar unter der Überschrift „Tyre Nichols Death Is America’s Shame“ (Tyre Nichols Tod ist Amerikas Schande) noch deutlicher herausgearbeitet.
Blow gießt Hohn und Spott über die Massendemonstrationen aus, die 2020 nach dem Polizeimord an George Floyd in Minneapolis ausbrachen. Sie gingen seiner Meinung nach von „flüchtigen Komplizen, umstrittenen Politikern und lange eingesperrten Covid-Kids aus, die die Gelegenheit des Protestes nutzten, um sich zu versammeln“. Blow vergleicht die Proteste mit einer massenpsychologischen Episode, einem „Rassismus-Bewusstsein durch Hüttenkoller“, ausgelöst durch „Covid Lockdowns“, welches „dahinschmolz wie Eis in der Sonne“.
Im Gefolge der Proteste „verlegten sich die Amerikaner auf andere Prioritäten“, und „die breite Öffentlichkeit wurde gegenüber Polizeimorden desensibilisiert, oder sie begann, die Polizeimorde als bedauerliche, aber letztlich akzeptable Nebenprodukte der dringend benötigten verstärkten Polizeiarbeit in einer Zeit steigender Kriminalität zu betrachten.“
Der Todschlag an Nichols durch die Polizei sei eine Folge der Tatsache, dass „Amerika wieder einmal die Schwarzen im Stich gelassen hat. […] Amerika sollte sich schämen.“
Dies ist zu gleichen Anteilen eine widerliche Verleumdung und eine politische Vertuschung. Es ist eine Verleumdung der Millionen von Amerikanern aller Hautfarben, die sich im Sommer und Herbst 2020 der Polizeigewalt und faschistischen Übergriffen widersetzten. Und es ist eine Vertuschung in Bezug auf die Rolle, die Politiker der Demokratischen Partei und Meinungsmacher wie Blow selbst spielen, da eben sie diese Opposition in die Sackgasse der Identitätspolitik geleitet haben.
In endlos vielen Kommentaren über den „systemischen Rassismus“ (und der Leitartikel der Washington Post wie die Kolumne von Charles Blow sind nur zwei Beispiele von vielen) wird eine Tatsache nicht erwähnt: Polizeigewalt trifft die arbeitende Bevölkerung und arme Menschen aller Hautfarben.
Zwar werden Schwarze, Nachkommen amerikanischer Ureinwohner und Hispanoamerikaner im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung überproportional häufig getötet. Aber von den über 1.000 Menschen, die jedes Jahr in den USA von der Polizei getötet werden, sind die meisten weiße Männer.
Laut den Zahlen von Statista aus dem Jahr 2022 waren von den 1.192 von der Polizei getöteten Menschen in Amerika 502, also 42 Prozent, Weiße. Schwarze, Asiaten, Nachkommen amerikanischer Ureinwohner, pazifische Inselbewohner und „Unbekannte“ zusammengenommen, machten 474 Todesfälle aus, das sind 41 Prozent. Auf Hispanoamerikaner entfielen 216, also etwa 18 Prozent der übrigen Todesfälle.
Zu den schrecklichsten Tötungsdelikten, die in den letzten Jahren von der Polizei gefilmt wurden, und über die in den Mainstream-Medien kaum berichtet wurde, gehört der Mord an Jerod Draper. Draper, der weiß war, starb in einem Gefängnis in Harrison County. Zuvor wurden „seine nackten Füße zerstampft, seine Druckpunkte gestoßen, er [wurde] mehrfach getasert“. „Lautstark flehte er, den Schmerz zu beenden“, heißt es in einer Untersuchung der Tageszeitung IndyStar vom Dezember 2021.
Rassismus spielt bei Polizeimorden eine Rolle, und zwar weil die herrschende Klasse die rückständigsten und verlumptesten sozialen Elemente innerhalb der Polizei kultiviert. Ziel ist jedoch nicht, eine Rassenhierarchie -, sondern vielmehr die kapitalistische herrschende Elite zu verteidigen: ihren unverdienten Reichtum und ihr Privateigentum.
Die Darlegungen der Post, der Times und zahlloser anderer zielen darauf ab, die Wurzeln der Polizeigewalt in der Realität des amerikanischen Kapitalismus zu leugnen. Gleichzeitig werden die Arbeiter auf der Grundlage der Hautfarbe gegeneinander ausgespielt.
Wo ist eine echte Erklärung für den Horror der Polizeigewalt zu finden? Hierbei sind zwei Faktoren hervorzuheben.
Erstens sind die Vereinigten Staaten das sozial ungleichste aller großen kapitalistischen Länder. Sie werden von einer herrschenden Klasse regiert, die unvorstellbaren Reichtum angehäuft hat, während gleichzeitig die sozialen Leistungen zerstört und die Städte entkernt wurden. Zudem hat die frei wütende Pandemie mehr als eine Million Menschen allein in den USA getötet.
Zweitens, und das muss besonders hervorgehoben werden, ist der amerikanische Imperialismus weltweit tätig. Die US-Regierung gibt jedes Jahr eine Billion Dollar aus, um die Instrumente des Todes zu finanzieren. Das Pentagon hat 30 Jahre lang endlose neokoloniale Kriege und Interventionen auf der ganzen Welt geführt, die sich nun zu einem direkten Konflikt mit Russland entwickeln. Im Interesse der Welthegemonie hat die herrschende Klasse einen massiven Apparat an militaristischer Gewalt aufgebaut.
Aber es gibt keine Trennlinie zwischen der organisierten Institution der Gewalt im Ausland und der organisierten Institution der Gewalt im eigenen Land. In der Tat gibt es unzählige Verbindungen zwischen dem Militär und der Polizei, sowohl in finanzieller als auch in personeller Hinsicht. Darüber hinaus sind beide sowohl Instrumente des Staats als auch der herrschenden Kapitalistenklasse, die ihn kontrolliert.
Es ist diese wesentliche Klassenfunktion der Polizei, die mit dem Narrativ des „systemischen Rassismus“ verschleiert werden soll. Und an dieser grundlegenden Klassenfrage muss sich die Arbeiterklasse, bestehend aus Menschen aller Hautfarben, orientieren: sie kann sich der Polzeigewalt entgegenstellen, indem sie sich dem Kapitalismus widersetzt.