Dies ist die Einleitung zu Band 1 von »Corona, Kapitalismus und Klassenkrieg: Eine soziale und politische Chronologie der Pandemie«. Das Buch ist in englischer Sprache bereits als E-Book bei Mehring Books erhältlich und wird im Laufe des Jahres in gekürzter Form auch als gedruckter Band erscheinen. Eine deutsche Übersetzung ist in Vorbereitung.
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Dieses Buch – zusammengestellt aus der Berichterstattung der World Socialist Web Site über die Covid-19-Pandemie, die sich über den gesamten Globus ausbreitete – ist eine soziale und politische Chronologie eines welthistorischen Ereignisses, dessen Auswirkungen auf das 21. Jahrhundert sich als ebenso tiefgreifend erweisen werden wie die des Ersten Weltkriegs auf das 20. Jahrhundert. Der Vergleich der Pandemie mit dem Ersten Weltkrieg ist nicht nur durch das Ausmaß der menschlichen Verluste gerechtfertigt. Der Ausbruch der Pandemie in den ersten Monaten des Jahres 2020 hat eine weltweite Krise ausgelöst, die den politischen, sozialen und moralischen Bankrott der kapitalistischen Gesellschaft offenbart hat, und zwar in einer Weise, die nicht weniger tiefgreifend ist als die im Sommer 1914 ausgebrochene Katastrophe.
Konfrontiert mit einer gesundheitlichen Notsituation ungeahnten Ausmaßes weigerten sich praktisch alle Regierungen der Welt, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um massenhafte Ansteckung, schwerste Erkrankung und Tod zu verhindern. Wirtschaftliche Interessen – vor allem die der Finanz- und Unternehmenselite – bestimmten die Reaktion auf die Pandemie. Die Rettung von Profiten hatte Vorrang vor der Rettung von Leben. Die Menschheit ringt nun mit den Folgen der gesellschaftlich kriminellen Pandemiepolitik der Regierungen.
Trotz enormer wissenschaftlicher und technologischer Fortschritte der Menschheit im letzten Jahrhundert hat sich SARS-CoV-2 – das Virus, das Covid-19 verursacht – als die verheerendste Infektionskrankheit seit der Grippepandemie von 1918 erwiesen, die innerhalb von nur zwei Jahren zwischen 25 und 50 Millionen Menschen tötete. Die Regierungspolitik zeichnet sich durch eine erschütternde Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben aus. Im Oktober 2020 platzte der damalige britische Premierminister Boris Johnson mit den Worten heraus: »No more f***ing lockdowns, let the bodies pile high in their thousands!« (»Keine verdammten Lockdowns mehr, sollen sich doch die Leichen zu Tausenden auftürmen!«) Erst kürzlich erklärte US-Präsident Joseph Biden in einem Fernsehinterview, dass die Pandemie vorbei sei. Am 18. September 2022, dem Tag, an dem seine Erklärung landesweit ausgestrahlt wurde, gab es nach Angaben der New York Times 61.712 offizielle Neuinfektionen und 464 Corona-Todesfälle in den Vereinigten Staaten.
Seit Beginn der Pandemie wurden offiziell mehr als 600 Millionen Menschen positiv auf Covid-19 getestet und weltweit sind mehr als 6,5 Millionen Menschen an der Krankheit gestorben. In beiden Fällen handelt es sich um erhebliche Unterschätzungen. Studien deuten darauf hin, dass weit mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung bereits mit SARS-CoV-2 infiziert wurde, während Schätzungen über die der Pandemie zuzuschreibenden Todesfälle von einer tatsächlichen Todeszahl von weltweit über zwanzig Millionen Menschen ausgehen. Hunderte Millionen weiterer Menschen sind von Long Covid betroffen, einer Kombination mannigfaltiger Symptome, die nahezu jedes Organ im Körper für eine unbekannte Dauer beeinträchtigen können. Von diesem großen Teil der Menschheit, der unter anhaltenden Symptomen einer Infektion leidet, wurden dutzende Millionen Menschen durch das Virus versehrt, arbeitsunfähig und oft weitgehend an ihr Zuhause gefesselt.
In den Jahren 2020 und 2021 ist die weltweite Lebenserwartung zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg um fast zwei Jahre gesunken. Am stärksten war der Rückgang in den ersten beiden Jahren der Pandemie in fünf Ländern Lateinamerikas – Peru (5,6 Jahre), Guatemala (4,8), Paraguay (4,7), Bolivien (4,1) und Mexiko (4,0) – und in drei Ländern Europas, darunter Russland (4,3), Bulgarien (4,1) und Nordmazedonien (4,1). In den Vereinigten Staaten, dem reichsten und mächtigsten Land der Welt, sank die Lebenserwartung in diesem Zeitraum um fast drei Jahre. Experten rechnen mit massiven langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen der Pandemie, da eine Covid-19-Erkrankung das Risiko für Herzinfarkt, Schlaganfall, Demenz, Nierenerkrankungen und mehr erheblich erhöht.
Wir nähern uns dem Beginn des vierten Jahres der Pandemie, die weiterhin jeden Tag einen schrecklichen Tribut fordert. Außerhalb Chinas haben nahezu alle Regierungen der Welt sämtliche Maßnahmen zur Eindämmung des Virus aufgegeben und stattdessen eine Politik der Verewigung von Covid-19 angenommen. Da es Milliarden Wirte vorfindet, entwickelt das Coronavirus immer neue Varianten, die die Wirksamkeit bestehender Impfstoffe und Behandlungen weiter untergraben und wiederkehrende Wellen massenhafter Infektion, Krankheit und Tod verursachen.
Frühere Kampagnen gegen Polio, Malaria, Masern, Pocken und andere Infektionskrankheiten wurden zu Recht als Meilensteine der Zivilisation durch wissenschaftlichen Fortschritt gefeiert. Die offizielle Reaktion auf Covid-19 jedoch wird nicht gefeiert werden. Ihre Geschichte wird eine Bilanz von Lügen und Verbrechen der Regierungen, Konzernmedien und offiziellen Institutionen sein, die die Gesundheit der Gesellschaft den Profitinteressen einer winzigen Konzern- und Finanzoligarchie untergeordnet haben.
Wenn sie in den kommenden Jahren die Corona-Pandemie untersuchen, werden Historiker die fehlende Vorbereitung trotz zahlreicher Vorwarnungen einer vernichtenden Kritik unterziehen. Sie werden die sozialen und wirtschaftlichen Interessen aufdecken, die die Politik bestimmten, und erklären, warum die staatlichen Institutionen so weit kompromittiert wurden, dass sie die öffentliche Gesundheit völlig im Stich ließen. Die Historiker werden untersuchen, wie die faschistische Politik der »Herdenimmunität« entwickelt wurde und welche Rolle die Medien und Gewerkschaften bei der Durchsetzung dieser Politik spielten. Sie werden auch auf den weltweiten Kampf von Arbeitern und Wissenschaftlern aufmerksam machen, um die Pandemie zu stoppen. Bei der Untersuchung dieser Themen werden dieses Buch und die Archive der World Socialist Web Site als unverzichtbarer und maßgeblicher Leitfaden anerkannt werden, der die prägnanteste zeitgenössische Analyse der Pandemie darbietet.
Die Analysen der sich abzeichnenden Ereignisse waren außerordentlich vorausschauend. Die große Stärke der Redakteure und Autoren der World Socialist Web Site – die vom Internationalen Komitee der Vierten Internationale herausgegeben wird – bestand darin, dass sie sich von einer Perspektive leiten ließen, die von einem tiefen geschichtlichen und marxistisch-trotzkistischen Verständnis des Konflikts zwischen privatwirtschaftlichen Interessen und dem Gemeinwohl in der modernen kapitalistischen Gesellschaft geprägt war. Auf dieser Grundlage betrachtete die WSWS die Pandemie nicht nur als ein medizinisches Ereignis oder ein biologisches Phänomen, sondern vor allem als eine soziale und politische Krise von globalem Ausmaß.
Dies ist der erste von drei Bänden, die die Jahre 2020, 2021 und 2022 abdecken werden. Jeder Band bietet eine Chronologie des Jahres, in der sowohl die objektive Entwicklung der Pandemie als auch die von der WSWS erarbeitete Perspektive dargestellt werden. Bei der Zusammenstellung dieser Bände bestand eine große Herausforderung für die Herausgeber darin, eine Auswahl zu treffen. Seit Januar 2020 hat die WSWS über 5.500 Artikel zur Pandemie veröffentlicht, so dass die für diese Bände ausgewählten Artikel weniger als 10 Prozent dieser Gesamtzahl ausmachen. Der Schwerpunkt wurde auf die zentralen Erklärungen gelegt, die wichtige Wendepunkte der Pandemie beleuchten und deren gesellschaftliche und politische Bedeutung erklären. In der Einleitung zu diesem Buch ist es notwendig, einige dieser Schlüsselereignisse und die Entwicklung der Pandemie zu erläutern.
2020: Der anfängliche Ausbruch der Pandemie und die beiden vorherrschenden Strategien – Eliminierung und »Herdenimmunität«
In den Jahrzehnten, bevor SARS-CoV-2 auf einem Nassmarkt im chinesischen Wuhan ausbrach, hatten bereits eine Reihe von weltweiten Ausbrüchen neuer Infektionskrankheiten stattgefunden, darunter der SARS-Ausbruch (2002-2004), die H5N1-Vogelgrippe-Epidemie (2003), die H1N1-Schweinegrippe-Pandemie (2009), der MERS-Ausbruch (2012), die Ebola-Virus-Epidemie (2014–2016), der Zika-Ausbruch (2015–2016) und andere. Wissenschaftlern, die ununterbrochen vor den Gefahren einer verheerenden Pandemie warnten, wurde Panikmache unterstellt und nichts wurde unternommen. Auf der Grundlage der Lüge, es sei kein Geld vorhanden, wurden stattdessen die wissenschaftliche Forschung und die Pandemievorsorge stark unterfinanziert, während die Aktienmärkte weltweit in die Höhe schossen und die Militärbudgets aufgebläht wurden. Die bekannten Faktoren, die neue Spillover-Ereignisse begünstigen und hervorrufen – Klimawandel, Urbanisierung ohne Planung und Umweltzerstörung – wurden Jahr für Jahr weiter verschärft.
Als Ende 2019 der Ausbruch von SARS-CoV-2 begann, war der Weltkapitalismus völlig unvorbereitet. In den ersten Monaten des Jahres 2020 wurden zum ersten Mal alle zentralen Fragen und grundlegenden Probleme aufgeworfen, die die Pandemie definiert haben. Die beiden grundlegenden Strategien, die seither die Reaktionen der Regierungen auf die Pandemie dominieren – Eliminierung und »Herdenimmunität« – entstanden in dieser Zeit. Das zentrale Problem des öffentlichen Gesundheitswesens und der Infektionskontrolle, die Unterbindung der Virusübertragung, wurde auf zwei diametral entgegengesetzte Arten angegangen.
In China führte die Kommunistische Partei (KPCh) nach anfänglicher Stümperei und wachsendem Widerstand innerhalb der Arbeiterklasse das erste erfolgreiche Eliminierungsprogramm zur Eindämmung des Coronavirus durch. Sie setzte alle ihr zur Verfügung stehenden Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens ein, darunter Massentests, rigorose Nachverfolgung von Kontaktpersonen, sichere Isolation infizierter Patienten und Quarantäne für exponierte Personen – Maßnahmen, die von der Menschheit über Jahrhunderte entwickelt worden waren. Am 23. Januar 2020 begann sie zudem in der Provinz Hubei, die ersten Massen-Lockdowns der Geschichte zu verhängen. Nach sechsundsiebzig Tagen des Stress und der Selbstaufopferung von Arbeitern, Ärzten und Wissenschaftlern hatte die chinesische Gesellschaft die Virusübertragung im bevölkerungsreichsten Land der Erde unterdrückt und 1,4 Milliarden Menschen vor SARS-CoV-2 geschützt.
Dies wurde zum Vorbild für Neuseeland, Vietnam und andere Länder in der Region und auf internationaler Ebene, von denen viele die Eliminierung über ein Jahr lang aufrechterhielten, bis sie schließlich dem Druck des globalen Finanzkapitals nachgaben. Die Gesamtzahl der Todesopfer von Covid-19 in China seit dem 17. April 2020, kurz nach dem Ende des Lockdowns von Wuhan, beläuft sich auf nur 594, die bei weitem niedrigste Zahl von Todesopfern in allen größeren Ländern der Welt und nur 0,013 Prozent der Pro-Kopf-Todesfälle in den Vereinigten Staaten im gleichen Zeitraum. Fast alle dieser Todesfälle in China ereigneten sich von April bis Mai 2022 und waren das Ergebnis eines großen Ausbruchs der Untervariante Omikron BA.2 in Shanghai, der erneut erfolgreich bekämpft wurde.
Außerhalb Chinas kam es Anfang 2020 zu einer ganz anderen Reaktion. Fast alle anderen Regierungen betrachteten das Coronavirus nicht unter dem Blickwinkel der Wissenschaft und der öffentlichen Gesundheit, sondern aus der Perspektive der globalen Finanzen und der Unternehmensgewinne. Wie immer nahm dies in den Vereinigten Staaten die krasseste Form an, wo Präsident Donald Trump amerikanische Bürger dazu aufforderte, Desinfektionsmittel und ultraviolettes Licht einzunehmen, um so angeblich die Infektion abzuwehren.
Am 7. Februar 2020 informierte der chinesische Präsident Xi Jinping Trump und vermutlich viele andere Staats- und Regierungschefs persönlich darüber, dass SARS-CoV-2 über die Luft übertragen wird und eine viel höhere Sterblichkeitsrate als die Grippe hat. Trump verschwieg diese Tatsachen und schürte stattdessen antichinesische Fremdenfeindlichkeit, indem er SARS-CoV-2 als »China-Virus« bezeichnete. Im Januar 2020 verbreitete sein faschistischer Berater Steve Bannon zum ersten Mal die »Wuhan-Lab-Lüge«, die später von den bürgerlichen Medien verbreitet und von Regierungen genutzt wurde, um die Schuld für ihr eigenes katastrophales Fehlverhalten im Umgang mit der Pandemie auf China abzuwälzen.
Während sich das Virus ausbreitete, legten die Medien und das politische Establishment bis Ende Februar 2020 einen Schleier des Schweigens über die wachsenden Gefahren für die Gesellschaft. Im März 2020, als sich auf der ganzen Welt die Krankenhäuser und Leichenhallen füllten und Arbeiter mit spontanen Streiks die Produktion zum Stillstand brachten, sahen sich die Regierungen gezwungen, verspätete Teillockdowns zu verhängen, was zu einem Einbruch der weltweiten Aktienmärkte führte. Ende März wurden das CARES-Gesetz und andere Rettungspakete für den Finanzsektor ausgearbeitet und international rasch verabschiedet, wodurch Billionen Dollar in die Finanzmärkte flossen. Ziel war es, sofortige Mittel bereitzustellen, um den Aktienmarkt zu sanieren. Sobald dieses Ziel erreicht war, wurde der Kampf gegen die Ausbreitung des Virus einer rücksichtslosen Kampagne untergeordnet, die Arbeit wieder aufzunehmen.
Das neue Mantra der »Back to work«-Kampagne, das von dem New York Times-Kolumnisten Thomas Friedman geprägt und von Trump sofort aufgegriffen wurde, lautete: »Das Heilmittel darf nicht schlimmer sein als die Krankheit.« Im Wesentlichen brachte dieser Satz die Klasseninteressen der Finanzoligarchie zum Ausdruck. Sie duldete nach weniger als zwei Wochen keine Lockdowns oder anderen wesentlichen Pandemiemaßnahmen mehr, die die Virusübertragung verlangsamten, aber die Unternehmen an der Ausbeutung ihrer Arbeitskräfte und der Erzielung von Profiten hinderten.
Trump, Friedman und die Times verlangten die Wiederöffnung der Wirtschaft, obwohl das Virus noch nicht eingedämmt war. Gleichzeitig priesen sie die Weigerung der schwedischen Regierung, Lockdowns durchzuführen, die auf einer Verfälschung des wissenschaftlichen Begriffs der »Herdenimmunität« beruhte. In der Vergangenheit hatte sich dieser Begriff immer auf den Grad der durch Impfung herbeigeführten Immunität der Bevölkerung bezogen, der notwendig ist, um die Ausbreitung einer bestimmten Krankheit zu stoppen. Doch Schwedens oberster Epidemiologe Anders Tegnell befürwortete ab März 2020 die absichtliche Infektion der Mehrheit der Bevölkerung, um eine mythische »Herdenimmunität« zu schaffen, während die älteren und gebrechlichen Menschen »geschützt« werden sollten. Tegnell und sein Berater Johan Giesecke exportierten diese Pseudowissenschaft weltweit, und sie wurde in der berüchtigten Great-Barrington-Erklärung niedergeschrieben, die die WSWS als »Manifest des Todes« bezeichnete.
Im Laufe des Jahres 2020 erreichte die offizielle Covid-Todeszahl in Schweden 9.706, eine Pro-Kopf-Rate, die mehr als zehnmal so hoch war wie im benachbarten Norwegen und zu den höchsten der Welt gehört. Ab März 2020 wurde Schwedens mörderische Strategie der »Herdenimmunität« von den Vereinigten Staaten, dem Vereinigten Königreich, Brasilien, Indien und anderen Ländern übernommen, die sich auf eugenische Vorstellungen vom »Überleben des Stärkeren« beriefen.
Weltweit haben sich zahlreiche Wissenschaftler gegen diese Politik gewandt und sich für die notwendigen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie eingesetzt. Seit April 2020 haben insbesondere Aerosol-Forscher einen heldenhaften Kampf geführt und Regierungen gedrängt, endlich die Tatsache bekannt zu machen, dass SARS-CoV-2 ein über die Luft übertragenes Virus ist, dessen Ausbreitung durch den Einsatz hochwertiger Masken und eine verbesserte Belüftung drastisch verringert werden kann. Doch bis heute haben sich fast alle Regierungen und sogar die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geweigert, die Gesellschaft über die Aerosolübertragung aufzuklären, so dass die Weltbevölkerung über dieses wesentliche Merkmal des Virus und seiner Ausbreitung weitgehend im Unklaren gelassen wird.
Die in China, Neuseeland und anderen Ländern angewandten Public-Health-Methoden wurden in weiten Teilen der Welt nie ernsthaft übernommen. Jede dieser Techniken, die die Menschheit in jahrhundertelangem Kampf gegen frühere Seuchen erworben hat und die mit moderner Technologie auf hochentwickelte Weise eingesetzt werden könnten, wurde stattdessen von Anfang an zurückgehalten. Was die Pandemie in eine Katastrophe verwandelte, war die Tatsache, dass die Regierungen ihre Ressourcen nicht mobilisierten, um die Übertragung des Virus zu stoppen, sondern um eine solche notwendige Reaktion zu begrenzen oder sogar zu sabotieren.
In den letzten Monaten des Jahres 2020 wurden Impfstoffe gegen Covid zugelassen, während jedoch zugleich die Politik der »Herdenimmunität« verschärft wurde. Die WSWS sprach von einem »Todeswinter«. In den letzten drei Monaten des Jahres starben offiziell fast 850.000 Menschen weltweit an Covid-19, während Schätzungen der Übersterblichkeit die tatsächliche Zahl der Toten auf etwa 2,5 Millionen beziffern.
2021: Die Einführung von Impfstoffen, die Strategie der »Mitigation« und die Evolution des Virus
Als die Pandemie in ihr zweites Jahr eintrat, stellten sich neue Probleme dar. Die Bereitstellung der lebensrettenden Impfstoffe erfolgte unsystematisch und wurde den Profiten der Unternehmen untergeordnet, was weltweit zwischen reichen und ärmeren Ländern zu großer Ungleichheit der Impfraten führte. Die Bemühungen um massenhafte Impfungen waren darüber hinaus nicht nur mit einer abscheulichen wissenschaftsfeindlichen Desinformationskampagne konfrontiert, die ihre Akzeptanz in vielen Ländern beschädigte, sondern führten auch zu einem viel subtileren Problem.
Die Impfstoffe wurden von den Regierungen zunehmend nicht mehr als zusätzliches Hilfsmittel, sondern als Substitut angesehen, das ein umfassendes öffentliches Gesundheitsprogramm überflüssig machte. Dies bildete die Grundlage für eine dritte, auf eine »Mitigation« der Pandemie ausgerichtete Strategie, die Impfungen zusammen mit einer schwammigen Mischung anderer öffentlicher Maßnahmen propagierte und dabei in Kauf nahm, dass ein bestimmtes, nicht näher festgelegtes Maß an Durchseuchung bestehen bleiben würde. Die »Mitigation« oder »Folgenminderung« kam einem Versuch gleich, mit dem Virus zu verhandeln, aber dabei die objektiven Gesetze seiner Evolution zu missachten. Vermeintlich liberale Regierungen verbreiteten die Illusion, dass die Impfstoffe als »Wunderwaffen« dienen und einen dauerhaften Schutz vor Ansteckung bieten würden. Sie dachten pragmatisch, dass sie nun weitermachen könnten, als sei alles in Ordnung.
Am 13. Mai 2021 erklärte Dr. Rochelle Walensky, die Direktorin der US-amerikanischen Seuchenschutzbehörden Centers for Disease Control and Prevention (CDC), den geimpften Amerikanern, dass sie ihre Masken abnehmen könnten. Dies öffnete die Schleusen für die Abschaffung der Maskenpflicht in den gesamten USA. Die Verbreitung von Masken sollte nie wieder das gleiche Niveau wie zuvor erreichen – ein Prozess, der von vielen anderen Regierungen übernommen wurde. Zwei Monate später, am 4. Juli 2021, erklärte US-Präsident Joe Biden absurderweise die »Unabhängigkeit« des Landes von Covid-19 – nur wenige Wochen, bevor die infektiösere und virulentere Delta-Variante die USA überrollte und über 200.000 Amerikaner tötete.
Während dieser Zeit verbreitete sich die Delta-Variante rasch in Indien und bald auch weltweit. Von Ende März bis Mitte Mai 2021 wurden allein in Indien über zwei Millionen Menschen getötet, als die faschistoide Regierung der Bharatiya Janata Party (BJP) unter Narendra Modi die Politik von »Herdenimmunität« und Massensterben durchsetzte. Der damalige Anstieg war bis heute die weltweit schlimmste Pandemiewelle. Wissenschaftler warnten, dass neue Varianten wie Delta bei geimpften Menschen zu »Durchbruchinfektionen« führen könnten und dass Impfstoffe allein die Virusübertragung nicht stoppen würden. Doch diese Warnungen wurden abermals ignoriert.
Die Strategie der Mitigation kam am deutlichsten in der vollständigen Öffnung der Schulen zum Ausdruck, die sich Anfang 2021 endgültig als Treiber der Pandemie erwiesen hatten. Es wurden atemberaubende Behauptungen in den Raum gestellt, wonach Schulen durch Masken, geöffnete Fenster, verbesserte Belüftung oder eine Kombination davon sichere Häfen in der Pandemie sein würden. In Wirklichkeit erwiesen sich die Schulöffnungen vor Eindämmung der Pandemie überall auf der Welt als katastrophal, auch in Regionen mit strengeren Schutzmaßnahmen. Tausende Kinder und ungezählte Lehrer starben in den letzten zwei Jahren weltweit an Covid-19.
Im Laufe des Jahres 2021 intensivierte die WSWS ihren Kampf für eine wissenschaftliche Strategie zur weltweiten Eliminierung von SARS-CoV-2. Am 20. August 2021 veröffentlichte sie eine wichtige Erklärung, in der sie eine klare politische Bewertung der Mitigationsstrategie vornahm und betonte:
Mitigation ist für die Epidemiologie das, was der Reformismus für die kapitalistische Politik ist. So wie der Reformist die Hoffnung hegt, dass allmähliche und stückweise Reformen im Laufe der Zeit die Übel des Profitsystems lindern und verringern werden, nähren die Vertreter der Mitigation die Illusion, dass Covid-19 sich schließlich zu einer einfachen Krankheit entwickeln wird, die nicht schlimmer als eine Erkältung ist. Doch das ist ein Wunschtraum, der nichts mit der Wissenschaft zu tun hat.
In Wirklichkeit wird das Virus, solange es sich ausbreitet, weiter zu neuen, infektiöseren, tödlichen und impfstoffresistenten Varianten mutieren, die die gesamte Menschheit bedrohen. Wenn das Virus nicht weltweit ausgerottet wird, kann die Glut von Covid-19 weiter brennen und die Voraussetzungen für ein erneutes Aufflammen des Virus schaffen.
Im vergangenen Jahr hat sich diese Perspektive voll und ganz bewahrheitet. Um die globale Eliminierungsstrategie voranzutreiben, hat die WSWS mit einer breiten Schicht von Wissenschaftlern zusammengearbeitet, die sich für diese Politik eingesetzt haben. Diese Zusammenarbeit führte zu zwei öffentlichen Webinaren, die von der WSWS am 22. August und am 24. Oktober 2021 veranstaltet wurden und die eine umfassende Strategie zur weltweiten Eliminierung des Coronavirus vorstellten.
Obwohl sich viele Wissenschaftler, Arbeiter und Anti-Covid-Aktivisten für umfassende Maßnahmen zur Eindämmung des Virus einsetzten, stießen ihre Appelle bei den kapitalistischen Politikern auf taube Ohren. Es wurde immer deutlicher, dass Arbeiter und Wissenschaftler, die die Pandemie stoppen wollten, die Dinge selbst in die Hand nehmen mussten. Dies fand seinen fortgeschrittensten Ausdruck in einer Reihe von machtvollen Schulstreiks, die von der britischen Aktivistin Lisa Diaz initiiert und von der WSWS unterstützt wurden. Der erste Schulstreik fand am 1. Oktober 2021 statt.
An diesen Streiks waren zwar die wissenschaftlich am besten informierten und politisch bewusstesten Teile der Arbeiterklasse beteiligt, doch es war klar, dass die große Mehrheit der Arbeiter von einem wissenschaftlichen und politischen Verständnis der Pandemie abgeschnitten blieb. Um die Arbeiterklasse aufzuklären und den selbstsüchtigen Lügen der Regierungen und Medien entgegenzutreten, rief die WSWS am 20. November 2021 den Global Workers’ Inquest zur Covid-19-Pandemie ins Leben. In der Erklärung, mit der die Untersuchung angekündigt wurde, schrieben wir:
Diese Ermittlung ist notwendig, um die Vertuschung, die Fälschungen und die Fehlinformationen zu durchbrechen, mit denen eine Politik rechtfertigt wird, die dazu geführt hat, dass seit der ersten Entdeckung von SARS-CoV-2 Millionen Menschen unnötig gestorben sind. Die Untersuchung wird die zahlreichen Beweise für eine asoziale, kriminelle Gleichgültigkeit gegenüber Menschenleben zusammentragen und der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Solche Ermittlungen dürfen nicht aufgeschoben werden. Auch zu Beginn des dritten Jahres der Pandemie ebbt die Infektion rund um die Welt nicht ab. Im Gegenteil. Die sechste globale Welle der Pandemie ist in vollem Gange, und mit dem anbrechenden Winter auf der nördlichen Halbkugel nimmt die Zahl der Infektionen, Krankenhauseinweisungen und Todesfälle erneut zu...
Obwohl es mittlerweile wirksame Impfstoffe gibt, sind nur 41 Prozent der Weltbevölkerung doppelt geimpft, in Afrika sind es weniger als 7 Prozent und in Ländern mit geringem Einkommen lediglich 3 Prozent. Nur 2,6 Prozent der Weltbevölkerung haben die notwendige dritte Impfdosis erhalten. Wissenschaftler haben wiederholt gewarnt, dass die anhaltenden Masseninfektionen in Kombination mit dem langsamen Verlauf der Impfungen einen evolutionären Druck erzeugen, der eine impfstoffresistente Variante hervorzubringen droht.
Nur vier Tage nach Veröffentlichung dieser Erklärung, wurde am 24. November 2021 bekannt, dass sich die Omikron-Variante in Südafrika rasch ausbreitet. Innerhalb weniger Wochen hatte sich diese hochinfektiöse und immunresistente Variante in alle Ecken der Welt ausgebreitet und infizierte jeden Tag Millionen Menschen.
2022: Der Zusammenbruch der Mitigationsstrategie und der Ruf nach »Leben mit dem Virus«
Die Reaktion der kapitalistischen Regierungen auf die Omikron-Variante war kaltblütig und katastrophal. Weit davon entfernt, die verheerenden Folgen ihrer Politik anzuerkennen und eine umfassende Strategie zu entwickeln, um die Pandemie zu stoppen, nutzten die Regierungen auf der ganzen Welt diese höchst infektiöse Variante, um alle noch verbliebenen Schutzmaßnahmen zu verwerfen und die mit der extremen Rechten identifizierte Strategie der »Herdenimmunität« zu übernehmen. Dabei arbeiteten sie mit den bürgerlichen Medien in einer unerbittlichen Propagandakampagne zusammen, die auf der Lüge basierte, dass Omikron »mild« und eine Durchseuchung mit dieser Variante sogar etwas Gutes sei.
Am 17. Januar 2022 – einem Tag, an dem offiziell über 800.000 Amerikaner mit dem Coronavirus infiziert wurden und 1.397 der Krankheit erlagen – erklärte Dr. Anthony Fauci: »Es ist eine offene Frage, ob Omikron die Lebendvirusimpfung sein wird, auf die alle hoffen.« Diese pragmatische und unwissenschaftliche Auffassung, die von regierungsnahen Wissenschaftlern auf der ganzen Welt wiederholt wurde, war im Wesentlichen eine aufgewärmte Version der Durchseuchungspolitik, die auf der Lüge beruhte, dass eine »natürliche Infektion« eine lang anhaltende Immunität schaffen und die Gefahren des Virus abschwächen würde, so dass es »endemisch« würde. Dieses Narrativ wurde benutzt, um die Beseitigung aller Maskenregeln, die Aushöhlung und anschließende Abschaffung der Isolations- und Quarantänerichtlinien, das Ende der kostenlosen Tests und die grundsätzliche Ablehnung von Lockdowns und Distanzmaßnahmen zu rechtfertigen.
Die Umsetzung dieser falschen und reaktionären Politik setzte voraus, dass die Daten zur Pandemie systematisch manipuliert werden mussten, um das wahre Ausmaß der durch das Virus verursachten Todesfälle und Langzeiterkrankungen zu verschleiern. Überall auf der Welt wurden die Erfassungs- und Meldesysteme eingeschränkt, etwa indem die Berichterstattung von einem täglichen auf einen wöchentlichen Zyklus umgestellt wurde. In den Vereinigten Staaten wurde das umfassendste System zur Erfassung von Krankenhausdaten – einschließlich täglicher Todesmeldungen – durch das Gesundheitsministerium (HHS) eingeschränkt. Nur die WSWS berichtete über diese Entwicklung. Unmittelbar vor Bidens Rede zur Lage der Nation am 1. März 2022 führte das CDC seine verzerrte »Community Levels«-Karte ein, um die fortschreitende Durchseuchung der amerikanischen Bevölkerung in rosigem Licht erscheinen zu lassen.
Die Ergebnisse dieser weltweit übernommenen Durchseuchungspolitik waren entsetzlich. In den fast zehn Monaten seit dem ersten Auftreten von Omikron haben sich weltweit mehr als drei Milliarden Menschen mit dem Coronavirus infiziert, darunter hunderte Millionen Reinfektionen oder Durchbruchsinfektionen bei geimpften Menschen. Offiziell sind in diesem Jahr bisher weltweit 1.055.050 Menschen an Covid-19 gestorben. Laut Schätzungen des »Excess Deaths Tracker« des Economist (die Quelle zur Übersterblichkeit, die in den Diagrammen zu Beginn jedes Kapitels in diesem Buch verwendet wird [1]) sind im Jahr 2022 aber in Wirklichkeit bereits 4,4 Millionen Menschen direkt oder indirekt der Pandemie zum Opfer gefallen.
Die ungehinderte Ausbreitung des Virus hat zahlreiche Omikron-Untervarianten hervorgebracht, darunter Omikron BA.2, BA.2.12.1, BA.4 und BA.5, die jeweils weitere Infektions- und Todeswellen in weiten Teilen der Welt auslösen. Wissenschaftler warnen, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich neue, noch verheerendere Varianten entwickeln, die bestehende Impfstoffe und Behandlungen wie Paxlovid weiter untergraben könnten.
Die Propagandakampagne hat auf das Bewusstsein der Massen tiefgreifenden Einfluss genommen und hunderte Millionen Menschen auf der ganzen Welt gegenüber der Pandemie entwaffnet. Die Bevölkerung wurde ermutigt, keine Masken mehr zu tragen und ihre Wachsamkeit gegenüber der anhaltenden Bedrohung durch Covid-19 aufzugeben. Das Mantra dieser Politik – das von Politikern in aller Welt bis zum Überdruss wiederholt wird – lautet, dass die Gesellschaft »lernen muss, mit dem Virus zu leben«. Dieser billige Slogan zielt in Wirklichkeit darauf ab, das fortwährende massenhafte Sterben und Leiden zu normalisieren. In einer noch nie dagewesenen Weise wird massenhafter Tod durch eine Infektionskrankheit von den Herrschenden nun mit völliger Gleichgültigkeit behandelt.
Während sie versuchen, eine fatalistische und gleichgültige Haltung in der Bevölkerung zu kultivieren, verbreiten die herrschenden Eliten und ihre willfährigen Medien weiterhin die »Wuhan-Lab«-Lüge und endlose weitere Lügen über die Eliminierungsstrategie in China – vor allem den Mythos, dass sie mit »ewigen Lockdowns« einherginge. In Wirklichkeit ist das Beispiel Chinas, wo die Eliminierungsstrategie in der Arbeiterklasse breite Unterstützung gefunden hat, ein schlagkräftiger Beweis für die Durchführbarkeit dieser Strategie und zeigt das Potenzial, SARS-CoV-2 durch den globalen Einsatz aller verfügbaren Pandemiemaßnahmen in wenigen Monaten weltweit zu eliminieren.
Zeitgleich mit der brutalen Durchsetzung der »mit dem Virus leben«-Politik kam es in diesem Jahr auch zu einer beispiellosen weltweiten Ausbreitung der Affenpocken, einer unerträglich schmerzhaften Krankheit, die eng mit den Pocken verwandt ist. Zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Berichts gab es über 60.000 bestätigte Affenpockenfälle in mehr als hundert Ländern, mit 23 bestätigten Todesfällen. Darüber hinaus sind Polio und andere Infektionskrankheiten, die im 20. Jahrhundert in weiten Teilen der Welt ausgerottet wurden, in den Vereinigten Staaten, Großbritannien und anderen fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern wieder aufgetaucht.
Nach dem Ausbruch des Kriegs in der Ukraine im Februar 2022 wurden unbegrenzte Mittel in die Militärbudgets gesteckt und gleichzeitig massive Kürzungen bei allen Sozialprogrammen vorgenommen. In Deutschland nutzte die Regierung den Krieg, um ein Aufrüstungsbudget über 100 Milliarden Euro zu verabschieden – das größte seit dem Untergang des Dritten Reichs –, während das Budget für Gesundheit von 64 Milliarden Euro auf 22 Milliarden Euro gekürzt wurde, was fast dem Niveau vor der Pandemie entspricht.
Die Lehren, die gezogen werden müssen
Entgegen der Lügen der kapitalistischen Politiker und Medien ist die Corona-Pandemie noch nicht vorbei – im Gegenteil. Es bleibt offen, welchen Verlauf die Pandemie nehmen wird. Nach drei Jahren sollte jedoch klar sein, dass weder die Pandemie noch irgendeine der anderen Gefahren, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, unter den Bedingungen des Weltkapitalismus gelöst werden wird.
Die Covid-19-Pandemie ist nur die erste Seuche des 21. Jahrhunderts. Der Klimawandel und der planlose Charakter der kapitalistischen Entwicklung schaffen die Voraussetzungen dafür, dass immer mehr Infektionskrankheiten von destabilisierten Tierpopulationen in die städtischen Zentren übertreten und sich anschließend über den internationalen Reiseverkehr und Handel rasch weltweit ausbreiten. Wenn aus den Erfahrungen der letzten drei Jahre eine Schlussfolgerung gezogen werden kann, dann die, dass die Lösung dieser Krisen nicht von der Entdeckung eines medizinischen Wundermittels oder einer Wundertechnologie abhängt, sondern von einer sozialen und politischen Bewegung gegen die eigentliche Ursache der Krise, das anarchische kapitalistische Profitsystem. Die Pandemie, der Klimawandel und die Zerstörung des öffentlichen Gesundheitswesens sind nur Symptome einer tieferliegenden Krankheit, nämlich des kapitalistischen Systems selbst, das alle menschlichen Bedürfnisse den Profitinteressen einer geldsüchtigen herrschenden Klasse unterordnet.
Der Titel dieses Buches, Covid, Kapitalismus und Klassenkrieg, ist berechtigt. Die Pandemie hat die Realität eines globalen Kriegs der Klassen offenbart, in dem die dringendsten Bedürfnisse der Menschheit dem Streben nach Konzernprofiten und der Anhäufung von obszönem persönlichem Reichtum untergeordnet werden. Die katastrophalen Folgen lassen sich nicht als bloßes unbeabsichtigtes Nebenprodukt einer falschen Politik erklären. Die von den Regierungen verfolgte Politik trägt den kriminellen Stempel dessen, was im Strafrecht als »Heimtücke« definiert wird. Die Reaktion der kapitalistischen Regierungen auf die Pandemie diente den Interessen ihrer superreichen Hintermänner.
Es ist ein langjähriges Ziel von Teilen der herrschenden Klasse, die Lebenserwartung zu senken, um Rentenzahlungen und Sozialausgaben zu reduzieren. Diese Auswirkung der Pandemie ist damit nicht einfach ein unvorhergesehener Zufall. Laut Forbes hat sich das Vermögen der 727 amerikanischen Milliardäre bis zum 4. Mai 2022 – dem Tag, an dem die offizielle Covid-19-Todeszahl in den USA eine Million überstieg – seit Beginn der Pandemie um 1,71 Billionen Dollar erhöht. Dass die »Pandemie-Profiteure« inmitten von massenhaftem Tod und Leid grotesken Reichtum anhäufen, ist in weiten Teilen der Welt zu beobachten.
Im April–Mai 2020 bezeichnete die WSWS die Pandemie erstmals als »Trigger-Event«, als auslösendes Ereignis der Weltgeschichte – ähnlich der Ermordung des österreichischen Erzherzogs Franz Ferdinand am 28. Juni 1914, die den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auslöste. Wie in den Grabenkriegen des Ersten Weltkriegs haben die herrschenden Eliten die Menschheit in der Pandemie einer Durchseuchungswelle nach der anderen ausgesetzt. Diese Politik hat zu einem beispiellosen Arbeitskräftemangel, einer weltweiten Wirtschaftskrise mit massiver Inflation und einer Eskalation der geopolitischen Spannungen geführt, die den Ausbruch des Ukrainekriegs – die Vorhölle des dritten Weltkriegs – ausgelöst hat. Die kriminelle Pandemiepolitik fast aller Regierungen hat die Brutalität des Kapitalismus offengelegt und Massen von Arbeitern in allen Branchen auf der ganzen Welt radikalisiert. Der Klassenkampf hat sich in den letzten zwei Jahren ununterbrochen verschärft und nun einen Siedepunkt erreicht. Die Pandemie und die drohende Gefahr eines Weltkriegs werden nur durch die globalen revolutionären Kämpfe der Arbeiterklasse gestoppt werden können.
Auf der internationalen Online-Kundgebung der WSWS zum 1. Mai 2021 riefen wir die Gründung der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (International Workers Alliance of Rank-and-File Committees, IWA-RFC) aus, deren zentrales Ziel es ist, Arbeiter weltweit im Widerstand gegen die Pandemiepolitik der Konzerne, Regierungen und Gewerkschaften zu vereinen und für ihre eigenen unabhängigen Interessen zu kämpfen. Seit ihrer Gründung hat sich die IWA-RFC zum organisatorischen Zentrum der immer entschlosseneren Kämpfe der internationalen Arbeiterklasse entwickelt, deren Arbeitsbedingungen und Lebensstandard sich im Zuge der Pandemie dramatisch verschlechtert haben. Die IWA-RFC muss in jedem Land systematisch ausgebaut werden.
Wie die umfangreiche Liste der Autoren aus der ganzen Welt zeigt, ist dieser Band aus einer kollektiven globalen Anstrengung hervorgegangen. Darüber hinaus hat sich die WSWS während der Pandemie mit zahlreichen Wissenschaftlern und Experten beraten, denen wir sehr dankbar sind. Bei unserer Arbeit mit Wissenschaftlern haben wir keinen politischen Lackmustest angelegt. Unsere einzige Bedingung war die Verpflichtung zur wissenschaftlichen Wahrheit. Wir setzten uns zum Ziel, die Pandemie so sorgfältig wie möglich zu analysieren und den Fakten keine Schlussfolgerungen aufzuzwingen, sondern die Schlussfolgerungen aus den Fakten zu ziehen. Als Sozialisten, die in der marxistisch-trotzkistischen Tradition geschult sind, hatten wir den immensen Vorteil, dass unsere Reaktion von Geschichte, Wissenschaft und einem tiefen Bewusstsein für die Klassendynamik der Gesellschaft geleitet war. Die Arbeit des Internationalen Komitees der Vierten Internationale findet einen kraftvollen Ausdruck in der Führungsrolle, die es im Kampf gegen die Pandemie eingenommen hat. Sie ist charakterisiert durch das intellektuelle und politische Zusammenspiel von Verpflichtung zur wissenschaftlichen Wahrheit, unversöhnlichem Widerstand gegen soziale Ungleichheit und Ausbeutung und unerschütterlichem Vertrauen in die Fähigkeit der internationalen Arbeiterklasse, dem gescheiterten kapitalistischen System ein Ende zu setzen und die Welt auf sozialistischer Grundlage neu aufzubauen.
Vor fast 65 Jahren, im Jahr 1958, veröffentlichte der brillante Wissenschaftler und Sozialist George Rosen sein monumentales Werk »A History of Public Health«. Er zeichnete dort, beginnend mit der Antike, die Entwicklung des menschlichen Kampfs gegen Krankheiten nach. Am Schluss seines Werks schrieb Rosen:
Wir sind nun im Rückblick in der Lage, den Weg klar zu sehen, der bei der Bewältigung der gesellschaftlichen Gesundheitsprobleme zurückgelegt wurde. Die Art und Weise, wie diese behandelt wurden, hing immer mit der Lebensweise der Gesellschaften und den ihr zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen und technischen Kenntnissen zusammen. Heute ist die Gesellschaft besser denn je in der Lage, ihre Umwelt zu kontrollieren und so die Gesundheit zu erhalten und Krankheiten vorzubeugen. Mehr und mehr kann der Mensch seinen Einsatz für eine bessere Gesundheit bewusst planen und organisieren, weil das verfügbare Wissen und die Mittel es ihm in vielen Fällen ermöglichen, mit einem klaren Verständnis seiner Taten zu handeln. [2]
Wenn George Rosen noch leben würde, wäre er zutiefst schockiert über die gesellschaftlich rückschrittliche Reaktion der heutigen Regierungen auf die Covid-19-Pandemie. Er hätte ihre Politik verurteilt – als Ablehnung des Wissens, das von Wissenschaftlern, Ärzten und Pflegern über viele Generationen und sogar Jahrhunderte mühsam erworben wurde. Doch der Kampf ist noch nicht vorüber.
Die World Socialist Web Site wird weiter eine führende Rolle im Kampf gegen die Pandemie spielen. Indem wir diesen und die folgenden Bände der Öffentlichkeit vorstellen, wollen wir eine globale Massenbewegung entwickeln, die sich auf die Arbeiterklasse stützt und den Rückhalt aller progressiven Schichten der Gesellschaft gewinnt – um nicht nur der Pandemie ein Ende zu setzen, sondern allen Erscheinungsformen sozialen Elends, die das überholte kapitalistische System hervorbringt. Im Kontext dieser Zielvorstellung sind die Worte, mit denen George Rosen seine Geschichte der öffentlichen Gesundheit schloss, besonders treffend:
Darüber hinaus kann sich der Horizont von Gesundheitsarbeitern heute nicht mehr auf die lokale oder auch nur nationale Gesellschaft beschränken, sondern muss sich auf die internationale Gesellschaft ausweiten. Heute sind wir alle Angehörige einer Gemeinschaft; und so muss jeder von uns in seiner eigenen Gemeinschaft das Ziel der Freiheit von Krankheit, Not und Angst anstreben. Wir müssen danach streben, das edle Erbe, das uns übertragen wurde, zu verbessern und weiterzugeben. Und möge das Ergebnis ein glückliches sein! [3]
The Economist und Solstad, S. (korrespondierender Autor), 2021. The pandemic’s true death toll. Verfügbar unter: https://www.economist.com/graphic-detail/coronavirus-excess-deaths-estimates [aufgerufen am 7. Oktober 2022]. Erstmals veröffentlicht in ‚Counting the dead‘, The Economist, Ausgabe 20, 2021.
George Rosen, A History of Public Health, Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1993, S. 470-71.
Ebd., S. 471.
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