Ukrainische Streitkräfte rücken bei ihrer Offensive im Süden vor

Nur wenige Tage, nachdem Russland die Annexion von vier ukrainischen Regionen bekannt gemacht hatte, gelang dem ukrainischen Militär der bisher größte Durchbruch in der Südukraine: Ukrainische Truppen rückten etwa 30 Kilometer vor, während die russischen Streitkräfte sich überstürzt zurückzogen.

Die ukrainische Offensive folgt auf einen ähnlichen raschen Durchbruch in der Nordostukraine im vergangenen Monat, bei dem die russische Front in einer unorganisierten Flucht zusammenbrach und die ukrainischen Streitkräfte innerhalb weniger Tage Dutzende Kilometer weit vorrückten.

Ukrainische Soldaten auf einem Panzer in dem kürzlich zurückeroberten Gebiet von Lyman, 3. Oktober 2022 (AP Photo/Evgeniy Maloletka)

Die Nachrichtenagentur Reuters beschreibt den Vorstoß vom Wochenende als „den größten Durchbruch im Süden des Landes seit Beginn des Kriegs. Er durchbrach die Front und rückte am Montag rasch entlang des Flusses Dnipro vor, und er bedrohte die Nachschublinien für Tausende von russischen Truppen.“ Weiter heißt es bei Reuters: „Die ukrainischen Truppen sind Dutzende Kilometer entlang des Westufers des Flusses vorgerückt und haben dabei eine Reihe von Dörfern zurückerobert.“

Am Sonntag gab der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bekannt, dass die strategisch wichtige Stadt Lyman vollständig von ukrainischen Truppen besetzt worden sei.

„Die Informationslage ist angespannt, sagen wir es mal so, denn ja, es gab tatsächlich Durchbrüche“, sagte Wladimir Saldo, der Leiter des von Russland besetzten Teils der ukrainischen Provinz Cherson, dem russischen Staatsfernsehen.

Auf Videos in den sozialen Medien waren Dutzende russischer Leichen sowie weggeworfene Kleidung und Ausrüstung zu sehen. Das ukrainische Militär gab an, während der Offensive 31 russische Panzer zerstört zu haben.

Die Washington Post kommentierte die Bedeutung des ukrainischen Siegeszugs folgendermaßen: „Lyman ist ein wichtiger Nachschubknotenpunkt am westlichen Rand der ukrainischen Donbas-Region, wo Russland seit Monaten seine Militäraktion konzentriert hat. Seit der Eroberung von Lyman im Frühjahr haben die russischen Streitkräfte den Ort für ihre Operationen im Osten genutzt.“

Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg führte den Durchbruch auf die modernen Waffen zurück, „die die Vereinigten Staaten und andere Verbündete zur Verfügung stellen“. Er sagte außerdem: „Das macht auf dem Schlachtfeld jeden Tag einen Unterschied.“

Stoltenberg hat Recht. Die Durchbrüche in den russischen Linien wurden durch die modernen Waffensysteme ermöglicht, die die Vereinigten Staaten der Ukraine seit April zur Verfügung stellen. Insbesondere hat das Flugabwehrsystem NASAMS Russland die Luftüberlegenheit genommen, und Radaranlagen wurden durch die Anti-Strahlungsrakete HAARM pulverisiert.

Dadurch konnte das amerikanische HIMARS-System zig Kilometer hinter der russischen Front ungehindert Ziele angreifen und das russische Logistik- und Nachschubsystem sowie die Kommandostruktur systematisch zerschlagen, so dass die russischen Truppen vor dem ukrainischen Vormarsch förmlich dahinschmolzen.

„Die Tatsache, dass wir die Front durchbrochen haben, bedeutet, dass (...) die russische Armee bereits ihre Angriffsfähigkeit verloren hat und heute oder morgen ihre Verteidigungsfähigkeit verlieren könnte“, sagte Oleh Zhdanov, ein ukrainischer Militäranalyst, gegenüber Reuters.

Er ergänzte: „Ein Monat unserer Arbeit, in dem wir ihre Vorräte zerstört und die Kampfkraft dieser Gruppe verringert haben, bedeutet, dass sie mit minimalen Rationen an Munition, Treibstoff und Lebensmitteln auskommen muss.“

Der Zusammenbruch der russischen Linie in der Südukraine führt zu Triumphgefühlen unter US-Militärs. Der ehemalige Nationale Sicherheitsberater H.R. McMaster behauptete, das russische Militär sei an der „Sollbruchstelle“ angelangt.

„Was wir hier erleben könnten, ist wirklich der Abgrund des Zusammenbruchs der russischen Armee in der Ukraine. Ein moralischer Zusammenbruch“, sagte McMaster am Sonntag gegenüber dem Sender CBS.

Ein Pentagon-Vertreter sagte jedoch gegenüber dem Magazin Politico, solche Behauptungen seien verfrüht. Mit dem Rückzug der russischen Streitkräfte auf die etablierten Verteidigungslinien im Donbas drohe ein Blutbad auf beiden Seiten.

„Es wird noch viele schwere Kämpfe geben“, sagte der Vertreter des US- Verteidigungsministeriums gegenüber Politico. „Es ist strategisch wichtig, aber sie haben noch einen langen Weg vor sich“, lautet eine andere Aussage aus dem Pentagon.

Die Katastrophe führt im politischen und militärischen Establishment Russlands zu offenen Schuldzuweisungen. Am Samstag kritisierte der tschetschenische Führer Ramsan Kadyrow die russische Militärführung in aller Öffentlichkeit und ermutigte den russischen Präsidenten Wladimir Putin zum Einsatz von Atomwaffen.

„Es sollten drastischere Maßnahmen ergriffen werden“, sagte Kadyrow, „bis hin zur Ausrufung des Kriegsrechts in den Grenzgebieten und zum Einsatz von Atomwaffen mit geringer Sprengkraft.“

Der Putin-Vertraute Jewgenij Prigoschin, Gründer der Söldnergruppe Wagner, sagte über das russische Militärkommando: „Ich denke, wir sollten all diese Bastarde barfuß mit Maschinengewehren an die Front schicken.“

Elena Panina, eine ehemalige Abgeordnete, kommentierte: „Nach zahlreichen Schätzungen steht Russland einem Feind gegenüber, der zahlreicher, besser bewaffnet, besser vorbereitet und besser motiviert ist.“

Ein weiteres Indiz für die Krise der Putin-Regierung ist, dass der Pressesprecher des Kremls, Dmitri S. Peskow, nach den Referenden und dem militärischen Debakel vom Wochenende die Grenzen der Russischen Föderation nicht präzisieren konnte und erklärte: „Was die Grenzen angeht, so werden wir uns weiterhin mit der Bevölkerung dieser Regionen beraten.“

Die Krise der russischen Streitkräfte verschärft jedoch die Gefahr, dass das in die Enge getriebene Putin-Regime angesichts von Niederlagen auf dem Schlachtfeld Atomwaffen einsetzen könnte.

Die Vereinigten Staaten treffen aktiv Vorbereitungen für ein solches Szenario. Die New York Times berichtet über die Vorbereitungen der USA, um auf eine nukleare Eskalation des Kriegs zu reagieren:

Seit Monaten versuchen Computersimulationen des Pentagons, amerikanischer Atomlabors und Geheimdienste zu modellieren, was passieren könnte, und wie die Vereinigten Staaten reagieren könnten. Das ist keine leichte Aufgabe, denn taktische Waffen gibt es in vielen Größen und Varianten, die meisten mit einem Bruchteil der Zerstörungskraft der Bomben, die die Vereinigten Staaten 1945 auf Hiroshima und Nagasaki abwarfen.

Über die bisher beunruhigendste Entwicklung berichtete der britische Telegraph: Es gäbe Anzeichen dafür, dass sich die russischen Nuklearstreitkräfte auf die Front zubewegten.

Der Telegraph schrieb am Montag, dass ein „Zug, der von der geheimen Nuklearabteilung betrieben wird und mit der 12. Hauptdirektion des russischen Verteidigungsministeriums verbunden ist, am Wochenende in Zentralrussland gesichtet wurde und in Richtung der Frontlinie in der Ukraine fuhr“.

Die Zeitung zitiert den polnischen Verteidigungsexperten Konrad Muzyka mit den Worten, es handle sich dabei „um eine Einheit, die zur 12. Hauptdirektion des russischen Verteidigungsministeriums gehört (...) Diese Direktion ist für die Lagerung, die Wartung, den Transport und die Ausgabe von Nuklearmunition an Einheiten zuständig.“

Das jüngste militärische Debakel, das Russland erlitten hat, lässt ein weiteres Blutbad, sowohl für die ukrainischen als auch die russischen Streitkräfte erwarten. Denn die russischen Streitkräfte ziehen sich auf gut befestigte Stellungen im Donbas zurück, und die ukrainischen Streitkräfte werden auf Betreiben der US-Militäroffiziere, die jetzt das volle Kommando über die Operation haben, dazu gedrängt, den gesamten Donbas und die Krim zurückzuerobern.

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