Perspektive

Russlands Debakel in Charkiw

Offensichtlich hat Russland in der Gegend um Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, eine katastrophale militärische Niederlage erlitten.

Ukrainische Soldaten feuern aus einem Flugabwehrgeschütz auf russische Stellungen in der Region Charkiw, Ukraine. Mittwoch, 24. August 2022 [AP Photo/Andrii Marienko]

Im Laufe von sechs Tagen hat das ukrainische Militär, bewaffnet und finanziert von den Vereinigten Staaten und der Nato, ein großes Territorium eingenommen. Das Institute for the Study of War berichtet: „Die ukrainischen Streitkräfte sind an einigen Stellen bis zu 70 Kilometer tief in die russischen Linien eingedrungen. In den letzten fünf Tagen seit dem 6. September haben sie ein Territorium von mehr als 3.000 Quadratkilometern eingenommen – mehr als die russischen Streitkräfte in all ihren Operationen seit April.“

Der Kreml reagiert auf diese Katastrophe auf ähnliche Weise wie die frühere stalinistische Sowjetbürokratie: mit Lügen und Ausflüchten. So behauptet das russische Verteidigungsministerium, die russischen Streitkräfte seien dabei, sich „neu zu gruppieren“ – eine offensichtliche Falschaussage. Man kann unmöglich leugnen, dass der aktuelle Rückschlag ein massives militärisches und politisches Debakel bedeutet.

Das Desaster in Charkiw ist nicht nur das Ergebnis einer inkompetenten militärischen Führung, sondern auch und vor allem der bankrotten politischen Strategie, auf die Putin seine „Spezialoperation“ gestützt hat.

Unabhängig davon, was die Niederlagen der vergangenen Woche kurzfristig bewirken werden, setzen die Ereignisse den Kurs der unendlichen Katastrophen fort, die durch die stalinistische Auflösung der UdSSR und die Restauration des Kapitalismus ausgelöst wurden.

Die Krise des russischen Regimes wird sich weiter verschärfen und die Kluft zwischen den Fraktionen vertiefen, von denen die einen für eine rücksichtslose Eskalation plädieren, während die andern Zugeständnisse an die USA und die Nato fordern.

Die Entscheidung der Putin-Regierung, in die Ukraine einzumarschieren, war eine verzweifelte und reaktionäre Antwort auf den zunehmenden Druck der USA und der Nato auf Russland. Putins Strategie, sofern es eine solche gab, bestand darin, günstigere Voraussetzungen für ein Abkommen mit den Vereinigten Staaten und ihren Nato-Verbündeten zu schaffen.

Putins gesamte Strategie für einen Krieg ist mit den Vorstellungen der russischen oligarchischen Bourgeoisie eng verbunden. Ihr Hauptanliegen ist es, die Kontrolle über die Bodenschätze und Energieressourcen zu behalten, die die Imperialisten plündern wollen.

Putin hat versucht, mit dem US-Imperialismus auf eine Art und Weise ins Einvernehmen zu kommen, mit der die russische Oligarchie leben kann. Als Vertreter der kapitalistischen Oligarchie Russlands sorgt sich Putin weit mehr über den sozialen Opposition, der ihm im eigenen Land erwächst.

Die USA und die Nato haben jedoch gezeigt, dass sie an Verhandlungen nicht interessiert sind. Sie betrachten es als entscheidendes strategisches Ziel, Russland vollständig zu unterwerfen und in mehrere Teilstaaten zu zerschlagen. Diesbezüglich hat der Kreml die Entschlossenheit der USA und ihrer europäischen imperialistischen Verbündeten immer wieder unterschätzt.

Der schnelle Durchbruch der ukrainischen Streitkräfte ist das Ergebnis der massiven Eskalation des Konflikts durch die Vereinigten Staaten und die Nato. Vor Ort befinden sich amerikanische paramilitärische Kräfte, die die Offensive direkt koordinieren. Amerikanische Geheimdienste bestimmen die Zielobjekte, die dann von ukrainischen Raketen angegriffen werden.

Die Gewehre der ukrainischen Soldaten, ihre Schusswesten und ihre Fahrzeuge entsprechen immer häufiger dem Nato-Standard und sind von den USA und ihren europäischen Verbündeten bezahlt worden. Vor allem aber wurde die Ukraine mit den nötigen Mitteln ausgestattet – dem Lenkwaffensystem HIMARS, der Langstreckenhaubitze M777, der Radarabwehrrakete HARM und der Schiffsabwehrrakete Harpoon – um Ziele anzugreifen, die sich Dutzende von Kilometern hinter den russischen Linien befinden. Ukrainische Truppen können sich mittlerweile des Flugabwehrsystems NASAMS bedienen: Das ist dasselbe System, das auch zum Schutz des Weißen Hauses dient.

Die amerikanischen Medien versuchen gar nicht mehr, das Ausmaß der direkten US-Beteiligung am Krieg zu verschleiern. Laut der Zeitung The Hill sind die USA bei ihrer Intervention in den Krieg mutig geworden. „Im Laufe der Zeit hat die Regierung erkannt, dass sie den Ukrainern größere, leistungsfähigere und schwerere Waffen mit größerer Reichweite zur Verfügung stellen kann, und die Russen haben nicht darauf reagiert“, sagte der ehemalige US-Botschafter in der Ukraine, William Taylor, der Zeitung.

Die New York Times, die sich über den ukrainischen Vormarsch freut, schreibt: „Hochrangige ukrainische Beamte haben den Informationsaustausch mit ihren amerikanischen Kollegen im Sommer intensiviert, als sie mit der Planung der Gegenoffensive begannen. Und dies hat es ihnen in den letzten Tagen ermöglicht, im Nordosten dramatische Gewinne zu erzielen.“

Die Times zitiert Evelyn Farkas, die unter Obama eine hochrangige Stellung im Pentagon einnahm und für die Ukraine und Russland zuständig war. Sie sagte: „Diese Jungs wurden acht Jahre lang von [US]-Spezialkräften trainiert und in der irregulären Kriegsführung geschult. Unsere Geheimdienstler haben sie in Sachen Täuschung und psychologische Operationen ausgebildet.“

Den Konflikt länger als „Stellvertreterkrieg“ zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Die ukrainische Armee ist zu einer hundertprozentigen Tochtergesellschaft des US-Militärs geworden, das sie nach den Standards der US-Streitkräfte bewaffnet, finanziert und ausbildet.

Die Offensive, in der die USA die Fäden ziehen, führt sowohl auf ukrainischer als auch auf russischer Seite zu katastrophalen Verlusten an Menschenleben: Berichten zufolge sind bei den Kämpfen der letzten Tage mehr als tausend Menschen pro Tag gestorben.

Die kapitalistischen Regierungen der Vereinigten Staaten und Europas sind fest entschlossen, ihr Ziel zu verwirklichen und Russland zu unterwerfen. Für sie zählen die Konsequenzen für Ukrainer und Russen, wie auch die katastrophalen Auswirkungen auf Arbeiter auf der ganzen Welt, nichts im Vergleich zu dem, was für die herrschende Klasse jetzt geopolitisch auf dem Spiel steht.

Niemand kann ausschließen, dass der Kreml aus dieser militärischen Katastrophe nicht weitgehende Schlüsse zieht. Er könnte eine massive militärische Eskalation für notwendig erachten, die wiederum auf Seiten der Nato zur Eskalation führen würde. So lösen die verzweifelten Bemühungen des Kremls um Einigung mit dem Imperialismus paradoxerweise Schritte aus, die zu einem thermonuklearen Krieg führen könnten.

Wie David North am 2. April in seinem Brief „an einen russischen Genossen“ schrieb:

Erstaunlich ist, dass Putin und seinen Militärführern offenbar nicht klar war, in welchem Umfang die Nato das ukrainische Militär bewaffnet und ausgebildet hatte. Dieses Versagen ihrer Geheimdienste hat seine Wurzeln in der Auflösung der Sowjetunion durch die Stalinisten, die auf völlig unrealistischen, geradezu kindisch naiven Vorstellungen vom imperialistischen System beruhte. Während der Kreml jede Verbindung zum Marxismus von sich wies, hielt er an dem Glauben fest, es könne eine „friedliche Koexistenz“ mit seinen westlichen Partnern geben. Kurz bevor er den Marschbefehl gab, jammerte Putin, dass Russland vom Westen „ausgetrickst“ worden sei.

North schloss seinen Brief mit den Worten:

Die Verteidigung der russischen Massen gegen den Imperialismus kann sich nicht auf die nationalstaatliche Geopolitik der Bourgeoisie begründen. Der Kampf gegen den Imperialismus erfordert vielmehr, dass die proletarische Strategie der sozialistischen Weltrevolution zu neuem Leben erweckt wird. Die russische Arbeiterklasse muss das gesamte Unterfangen der kapitalistischen Restauration, das in eine Katastrophe geführt hat, als verbrecherisch zurückweisen und auf politischer, gesellschaftlicher und theoretischer Ebene wieder an ihre großen revolutionären Traditionen anknüpfen, die mit Lenin und Trotzki verbunden sind.

Zu Beginn der russischen Offensive gegen die Ukraine verurteilte Putin in einer Rede ausdrücklich Wladimir Lenin. Aber Putins Schmähreden zum Trotz ist die Welt, in der wir heute leben, die Welt, die Lenin 1916 in seinem Werk „Imperialismus“ beschrieben hat. Und Krieg und koloniale Herrschaft gehören, wie Lenin damals aufzeigte, zu den Wesensmerkmalen des kapitalistischen Systems.

Als die stalinistische Bürokratie die Sowjetunion auflöste, tat sie es in dem Irrglauben, dass der Imperialismus lediglich eine Erfindung Lenins sei, und dass ein kapitalistisches Russland einen modus vivendi mit dem europäischen und amerikanischen Imperialismus erreichen könne. Die darauf folgenden 30 Jahre haben jedoch gezeigt, dass dies eine kolossale Fehleinschätzung war.

Die zentrale Aufgabe besteht darin, die Arbeiterklasse gegen den imperialistischen Krieg zu mobilisieren. Dies erfordert einen Bruch nicht nur mit allen Kräften der kleinbürgerlichen Pseudolinken, die den Krieg von USA und Nato verteidigen, sondern auch mit jenen, die behaupten, der russische Nationalismus könne die Katastrophe, die durch die Auflösung der UdSSR entstanden ist, überwinden.

Es ist notwendig, eine Warnung auszusprechen: Das Debakel, das das russische Militär erlitten hat, ist nur der Vorgeschmack einer weiteren, noch blutigeren Eskalation des Krieges. Die imperialistischen Mächte haben Blut gerochen, sie werden ihre Anstrengungen zur Eroberung und Unterwerfung Russlands verdoppeln.

Russlands Debakel wird die reaktionärsten Kräfte in der ukrainischen Gesellschaft nur weiter ermutigen und die amerikanischen Kriegsplaner im Glauben bestärken, dass sie diesen Erfolg wiederholen könnten, indem sie einen Krieg mit China um Taiwan anzettelten.

Aber diese Eskalation wird gleichzeitig den Konflikt mit der Bevölkerung der Vereinigten Staaten und Europas verschärfen, die die Kriegskosten in Form von steigenden Preisen und sinkendem Lebensstandard zahlen soll. Jetzt schon hat der Krieg zur Senkung des Lebensstandards der Arbeiter beigetragen. Die Preise für Erdgas sind in Europa um das 10-fache gestiegen, und die Militärausgaben eskalieren.

Das 20. Jahrhundert war Zeuge der verheerendsten Kriege in der Geschichte der Menschheit. Im 21. Jahrhundert droht der Kapitalismus, Katastrophen in noch größerem Ausmaß auszulösen.

Die einzige gesellschaftliche Kraft, die den imperialistischen Krieg stoppen kann, ist die Arbeiterklasse. Sie muss ihre ökonomischen Forderungen gegen die grassierende Inflation mit dem Kampf gegen Krieg verbinden. Und sie muss die Arbeiter Europas, Asiens und Amerikas zusammenschließen, um den Kampf gegen das kapitalistische System gemeinsam zu führen.

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