Vor 81 Jahren, am 22. Juni 1941, überfiel die Wehrmacht die Sowjetunion. Im Zuge des Kriegs wurden fast 30 Millionen Sowjetbürger getötet. Zusammen mit der industriellen Vernichtung der europäischen Juden sind das die schlimmsten Verbrechen in der Geschichte der Menschheit. Der Vernichtungskrieg war von langer Hand geplant und verfolgte definitive politische Ziele.
Der herrschenden Klasse ging es um Gebiete („Lebensraum im Osten“), die enormen Rohstoffe der Sowjetunion und das Streben nach Weltmacht. Gleichzeitig führte sie einen rassistischen Weltanschauungskrieg, der die Vernichtung des Bolschewismus und die Ausrottung des Judentums zum Ziel hatte.
Die Verbrechen sind nahezu unbeschreiblich. Millionen Menschen wurden in den Gaskammern der Vernichtungslager industriell getötet. Die deutsche Kriegsführung bestand in einer einzigen Orgie der Vernichtung. Ganze Städte und Dörfer wurden dem Erdboden gleichgemacht und ihre Bewohner ermordet. Eines der schlimmsten Massaker ereignete sich am 29. und 30. September 1941 in der Ukraine. Innerhalb von zwei Tagen erschoss ein Sonderkommando in der Schlucht Babyn Jar bei Kiew 33.771 Juden – Männer, Frauen und Kinder.
In seiner Regierungserklärung am 22. Juni erwähnte der sozialdemokratische deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz den Jahrestag und die deutschen Verbrechen mit keinem Wort. Der Grund dafür ist so einfach wie bedrohlich. 77 Jahre nach dem Untergang des Dritten Reichs verfolgt die herrschende Klasse wieder einen Kurs, der – abgesehen vom aggressiven Antisemitismus der Nazis – an die alte imperialistische Großmacht- und Kriegspolitik anknüpft.
Am Tag vor Scholz’ Rede hatte dies der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil in einer außenpolitischen Grundsatzrede offen ausgesprochen. Deutschland stehe „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung“ wieder „im Mittelpunkt“ und müsse „den Anspruch einer Führungsmacht haben“, erklärte er im Namen der gesamten herrschenden Klasse. Das bedeute auch das Führen von Krieg. „Militärische Gewalt“ sei „ein legitimes Mittel der Politik“.
Scholz machte in seiner Rede klar, was das bedeutet. Er begann seine Ausführungen mit einem Loblied auf das „Sondervermögen Bundeswehr“, das „dieses Haus“ Anfang des Monats „mit überwältigender Mehrheit“ verabschiedet habe. Der Aufrüstungsfond in Höhe von 100 Milliarden Euro ist Bestandteil der größten deutschen Aufrüstungsoffensive seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
„Wir werden die Bundeswehr so ausstatten, dass sie unser Land und unsere Bündnispartner gegen alle Angriffe wirksam verteidigen kann“, erklärte Scholz. „Das ist der Maßstab für die neue Bundeswehr. Damit bekommen wir für unsere Soldatinnen und Soldaten endlich auch die Unterstützung, die sie bei ihrem wichtigen Dienst für unser Land verdienen“. Dafür sage er „– hoffentlich im Namen von uns allen hier – Danke“.
Wie schon im Ersten und Zweiten Weltkrieg drängt der deutsche Imperialismus unter dem Deckmantel der „Selbstverteidigung“ – und heute auch dem angeblichen Kampf für „Menschenrechte“ und „Demokratie“ – gen Osten und massiert Truppen gegen Russland.
Man belasse „es nicht bei Worten“, erklärte Scholz. „Unmittelbar nach Kriegsbeginn“ – der Kanzler meint damit den durch die jahrzehntelange Nato-Offensive gegen Russland provozierten reaktionären Einmarsch Putins in die Ukraine – habe Deutschland „zusätzliche Soldatinnen und Soldaten und militärische Fähigkeiten, zum Beispiel zur Luftabwehr, ins östliche Bündnisgebiet verlegt.“
Mit dem litauischen Präsidenten Gitanas Nauseda habe er „vereinbart, dass wir die deutsche Präsenz dort dauerhaft verstärken und Litauen eine robuste Bundeswehrbrigade fest zuordnen“. Man werde außerdem die „Präsenz mit Luft- und Marinestreitkräften im Ostseeraum ausweiten“, sei dabei, „Soldatinnen und Soldaten in die Slowakei zu entsenden und die Slowakei bei der Sicherung ihres Luftraums zu unterstützen.“
Scholz’ Rede war von der deutschen Großmannssucht und Kriegslüsternheit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt. „In der größten Sicherheitskrise Europas seit Jahrzehnten“ übernehme „Deutschland, das wirtschaftsstärkste und bevölkerungsreichste Land der Europäischen Union, ganz besondere Verantwortung, und zwar nicht nur für seine eigene Sicherheit, sondern eben auch für die Sicherheit seiner Alliierten“, prahlte der Kanzler. Bei seinem Besuch vor zwei Wochen im Baltikum habe er klargestellt: „Ein Angriff auf euch wäre ein Angriff auf uns alle.“ Man werde „jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes verteidigen.“
Scholz zog es vor, nicht genauer darauf einzugehen, was diese Aussage bedeutet. Sollte der Ukraine-Krieg auf ein osteuropäisches Nato-Land übergreifen – was er mit der Kaliningrad-Blockade durch Litauen zunehmend tut – verpflichtet der Kanzler Deutschland, erneut gegen Russland in den Krieg zu ziehen. Die Folgen wären ein atomar geführter dritter Weltkrieg, der hunderte Millionen Menschen das Leben kosten und den ganzen Planeten vernichten könnte.
Scholz behauptete, Deutschland werde die Ukraine weiter unterstützen, „ohne dass die NATO dadurch selbst zur Kriegspartei wird“. Das ist reine Augenwischerei. Die gesamte Rede des Kanzlers machte deutlich, dass sich die herrschende Klasse bereits in einer militärischen Auseinandersetzung mit Russland befindet und diese ständig weiter eskaliert – mit allen Konsequenzen.
Stolz dokumentierte Scholz die deutschen Waffenlieferungen an Kiew, die immer mehr die Form eines direkten militärischen Eingreifens annehmen.
„Die Ausbildung ukrainischer Soldatinnen und Soldaten an den Flakpanzern Gepard läuft. An den zugesagten Mehrfachraketenwerfern beginnt sie in den kommenden Tagen. Der Vertrag über das Luftabwehrsystem IRIS-T, das eine ganze Großstadt vor feindlichen Luftangriffen schützt, wurde vor wenigen Tagen zwischen der Ukraine und der Industrie unterzeichnet. Ein erster Ringtausch mit Tschechien steht. Gespräche mit weiteren Tauschpartnern führen wir mit Hochdruck.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Außerdem könne er mitteilen: „Die Panzerhaubitzen, an denen wir ukrainische Soldatinnen und Soldaten in den vergangenen Wochen intensiv trainiert haben, sind inzwischen vor Ort in der Ukraine.“ Die Ukraine bekomme „die Waffen, die sie in der jetzigen Phase des Krieges besonders braucht.“ Genau darüber habe er mit „mit dem ukrainischen Präsidenten gesprochen“. Man liefere „sie heute und in Zukunft“ – „und zwar so lange, wie die Ukraine unsere Unterstützung braucht“.
Das erklärte Ziel, ist die militärische Niederlage Russlands. „Von Verhandlungen
zwischen der Ukraine und Russland“, sei man „weit, weit entfernt, weil Putin noch immer an die Möglichkeit eines Diktatfriedens“ glaube, erklärte Scholz. „Umso entscheidender“ sei es, „dass wir standhaft Kurs halten, mit unseren Sanktionen, mit den international abgestimmten Waffenlieferungen und mit unserer finanziellen Unterstützung für die Ukraine.“ Dafür brauche man „einen langen Atem“.
Tatsächlich gehen die deutschen „Kriegsziele“ noch über die Ukraine und Russland hinaus. Scholz lies keinen Zweifel daran, dass die herrschende Klasse den laufenden EU-Gipfel in Brüssel, den G-7 Gipfel Anfang nächster Woche in Elmau und den darauf folgenden Nato-Gipfel in Madrid als weitere Möglichkeit sieht, das deutsche Gewicht in Europa und international zu erhöhen und die eigenen imperialistischen Interessen voranzubringen.
Deutschland habe „die Weichen neu gestellt“, investiere „massiv in unsere Sicherheit“ und löse damit „das Versprechen deutscher Sicherheitsverantwortung für Europa ein“, erklärte Scholz und fügte drohend hinzu: „Auf den internationalen Gipfeltreffen der kommenden Tage werden wir ähnlich tiefgreifende Veränderungen anstoßen. Die Europäische Union muss sich zur europäischen Zukunft ihrer Nachbarschaft bekennen und zu den notwendigen internen Reformen.“
Arbeiter und Jugendliche auf dem ganzen Kontinent müssen dies als Warnung verstehen. Die herrschende Klasse ist gewillt, ihre Kriegsoffensive mit aller Brutalität fortzusetzen und die gigantischen Kosten für die Aufrüstung wieder aus der Arbeiterklasse herauszupressen – durch Sozialkahlschlag, Angriffe auf Arbeitsplätze und Löhne, massive Preissteigerungen und das Anheizen der Inflation. Am Tag von Scholz’ Rede schwor Finanzminister Christian Lindner (FDP) die Bevölkerung – im Stile des alten Nazi-Mottos „Kanonen statt Butter“ – auf „drei bis vier, vielleicht fünf Jahre der Knappheit“ ein.
Die Bundestagsdebatte machte deutlich, dass alle Bundestagsparteien diesen im Kern faschistischen Kurs untersützen. Wenn es „Kritik“ an Scholz und der Ampel-Koalition gab, kam sie von rechts. Der „Oppositionsführer“ und Vorsitzende der CDU/CSU-Fraktion Friedrich Merz begrüßte „ausdrücklich“ die Lieferung schwerer Waffen in die Ukraine, hätte sich das aber „früher vorstellen können“.
Auch der Fraktionsvorsitzende der Linkspartei, Dietmar Bartsch, klagte über „nicht richtig durchgesetzte Sanktionen“ und signalisierte seine Unterstützung für die neue deutsche Großmachtpolitik. „Ich bin einverstanden mit der Verantwortung, sehr einverstanden. Deutschland sollte Verantwortung übernehmen, gern auch mehr“, gab er unter dem Applaus seiner Fraktion zu Protokoll.
Die einzige Partei, die dem Großmachttaumel entgegentritt und der massiven Opposition gegen Militarismus und Krieg eine Stimme und eine Perspektive gibt, ist die Sozialistische Gleichheitspartei. Arbeiter und Jugendliche müssen die „Zeitenwende“ mit dem Aufbau einer Antikriegsbewegung der internationalen Arbeiterklasse beantworten, die zum Ziel hat, die Ursache von Militarismus und Krieg – das kapitalistische Profitsystem – zu beseitigen und eine globale sozialistische Gesellschaft zu errichten. Nur so kann ein Rückfall in die Barbarei abgewendet werden.