Am 2. Mai veröffentlichte das Magazin Politico den durchgesickerten Entwurf eines Gutachtens des Obersten Gerichtshofs der USA. Verfasst von Samuel Alito hebt das Gutachten das maßgebliche Abtreibungsurteil Roe v. Wade auf und räumt dadurch den US-Bundesstaaten die Möglichkeit ein, Abtreibungen zu kriminalisieren.
Die Tatsache, dass der „Entwurf einer Stellungnahme“ vorliegt, bedeutet, dass eine Mehrheit des Gerichts bereits über den Ausgang des Falles einig ist und lediglich die Formulierung abschließend überarbeitet.
„Wir sind der Meinung, dass Roe ... verworfen werden muss“, heißt es in dem Entwurf einer Stellungnahme.
Die Entscheidung ist ein Angriff auf die demokratischen Rechte der gesamten Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und insbesondere auf Millionen von Frauen aus der Arbeiterklasse, die für einen medizinischen Eingriff nicht ins Ausland reisen können. Damit steigt auch die Wahrscheinlichkeit, dass das Gericht die Homo-Ehe abschafft, die Trennung von Kirche und Staat aufhebt und ein breites Spektrum grundlegender demokratischer und bürgerlicher Rechte aushöhlt, die in jahrzehntelangem sozialem Kampf errungen wurden.
Die Entscheidung (die in einem Fall die Bezeichnung Dobbs vs. Jackson Women's Health Organization trägt) ist die rechtswidrige Entscheidung eines unrechtmäßigen Gerichts und muss als solche behandelt werden.
Bis auf einen Richter, der jedoch mit der Mehrheit stimmte, wurden alle Richter von einem US-Präsidenten ernannt, der ohne Mehrheit der Wählerstimmen ins Amt gehievt worden war. Zwei der neun Richter des Obersten Gerichtshofs (Samuel Alito und John Roberts) wurden von George W. Bush ernannt, der die Wahl im Jahr 2000 klar verloren hatte. Ein Richter, Clarence Thomas, ist mit einer Frau verheiratet, die zu den Organisatoren des versuchten Staatsstreichs vom 6. Januar 2021 gehört, der die Verfassung außer Kraft setzen sollte. Und drei Richter (Neil Gorsuch, Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett) wurden von Donald Trump ernannt, der eben diesen Putschversuch initiierte und anführte.
Die Entscheidung, Roe v. Wade aufzuheben, erhielt offensichtlich die Stimmen von fünf oder sechs der Richter. Es ist nicht bekannt, ob Roberts die Mehrheit unterstützen, eine zustimmende Stellungnahme verfassen oder mit dem von der Demokratischen Partei ernannten Rumpf des Gerichts in Widerspruch treten wird. Seine Stimme ist für die Mehrheit nicht erforderlich.
Die Entscheidung ist politisch, rechtlich und moralisch zu verurteilen.
In dem Entwurf der Stellungnahme wird Roe als „gewaltiger Fehler“ bezeichnet und mit der Entscheidung Plessy v. Ferguson aus dem Jahr 1896 verglichen, in der die Rassentrennung in Speisewagen der Eisenbahn nach der pseudojuristischen Doktrin „getrennt, aber gleich“ bestätigt wurde. In einer Fußnote behauptet Alito in seiner Entscheidung, dass die Befürworter der Abtreibung Eugeniker seien, die „von dem Wunsch beseelt sind, die Menge der afroamerikanischen Bevölkerung zu begrenzen“.
Die Entscheidung ist ein offener Angriff auf die Bevölkerung der Vereinigten Staaten und ist durch und durch vom oligarchischen Prinzip durchdrungen. Nach Ansicht des Obersten Gerichtshofs sind die Interessen der breiten Masse der Bevölkerung völlig unerheblich:
„Wir dürfen nicht zulassen, dass unsere Entscheidungen durch äußere Einflüsse wie die Sorge um die Reaktion der Öffentlichkeit auf unsere Arbeit beeinflusst werden“, heißt es in der Stellungnahme.
An anderer Stelle des Beschlusses heißt es: „Es ist an der Zeit, die Verfassung zu beherzigen und die Frage der Abtreibung wieder den gewählten Vertretern des Volkes zu übertragen.“ In Wirklichkeit unterstützen derzeit 60 Prozent der Amerikaner das Abtreibungsrecht, die höchste Zustimmung in der Geschichte der USA.
Die juristische Begründung des Obersten Gerichtshofs lautet, dass es kein Recht auf Abtreibung geben kann, weil das Wort „Abtreibung“ in der Verfassung nicht erwähnt wurde. Dies ebnet den Weg für einen massiven und beispiellosen Angriff auf alle demokratischen Rechte, die nicht ausdrücklich in der Verfassung aufgezählt sind. Weitere „nicht genannte Rechte“ sind das Wahlrecht, das Recht zu reisen, das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf die Unschuldsvermutung.
Der Oberste Gerichtshof ebnet auch den Weg für die Aufhebung früherer Entscheidungen zur Klärung und Festlegung von Grundrechten, deren Bedeutung die Schöpfer der Verfassung in der Gesellschaft der 1780er und 1790er Jahre nicht erkennen konnten. In der Entscheidung heißt es: „In den ersten 185 Jahren nach der Verabschiedung der Verfassung war es jedem Staat gestattet, [die Abtreibung] in Übereinstimmung mit den Ansichten der Bürger zu regeln. Dann, 1973, entschied das Gericht Roe v. Wade.“
Wenn diese Begründung trägt, so können ebenso fast alle Entscheidungen aus der kurzen liberalen Phase des Gerichts in den 1950er bis frühen 1970er Jahren, die in Roe gipfelte, aufgehoben werden. Dazu gehören das Recht auf einen Pflichtverteidiger (Gideon v. Wainwright), das Recht von Verhafteten, dass ihnen ihre verfassungsmäßigen Rechte bei der Verhaftung vorgelesen werden (Miranda v. Arizona), die Abschaffung der Anti-Mischlingsgesetze (Loving v. Virginia) und das Verbot von Gebetszwang in öffentlichen Schulen (Engel v. Vitale).
Die Entscheidung öffnet sogar die Tür, um die frühere Entscheidung des Gerichts zu kippen, die besagt, dass die Equal Protection Clause nicht nur für die Handlungen der Bundesregierung, sondern auch für die Regierungen der US-Bundesstaaten gilt (Bolling v. Sharpe). Tatsächlich untergräbt der Inhalt von Alitos Entscheidung seinen Versuch, Roe v. Wade mit Plessy v. Ferguson gleichzusetzen, da der Text der Verfassung auch keinen Hinweis auf ein Verbot der Rassentrennung enthält.
Die Verantwortung dafür, dass der Oberste Gerichtshof von einer Bande von Fanatikern und Erzreaktionären beherrscht wird, liegt ganz klar bei der Demokratischen Partei. Die Demokraten haben vor den Republikanern kapituliert, als diese die Wahlen im Jahr 2000 stahlen und sie mit der unrechtmäßigen Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Bush v. Gore absegneten. In dem Urteil wurde festgestellt, dass nicht die Bevölkerung das Recht habe, den Präsidenten zu wählen.
Im letzten halben Jahrhundert haben sich die Demokraten geweigert, sich den Republikanern entgegenzustellen, wann immer letztere eine Entscheidung trafen, um Rückständigkeit und religiösen Obskurantismus zu fördern und zu legitimieren.
Zuletzt kündigte die Sprecherin der Demokraten im Repräsentantenhaus Nancy Pelosi im Jahr 2017 an, dass die Demokraten das Recht auf Abtreibung nicht verteidigen würden, aus Sorge, die extreme Rechte zu verärgern. Sie sagte, das Thema sei kein „Lackmustest“ für die Demokraten, und weiter:
„Ich bin als Nancy D'Alesandro in Baltimore, Maryland, aufgewachsen, in Little Italy, in einer sehr gläubigen katholischen Familie, sehr patriotisch, stolz auf unsere Stadt und unser Erbe, und überzeugte Demokratin. Die meisten dieser Menschen - meine Familie, meine Großfamilie - sind nicht für die Abtreibung. Glauben Sie, ich schmeiße sie aus der Demokratischen Partei raus?“
Die Demokratische Partei ist bei der Verteidigung der demokratischen Rechte ebenso schwach, wie sie andersrum die Interessen des amerikanischen Imperialismus rücksichtslos verfolgt.
Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs entlarvt auch die Lüge, dass der Stellvertreterkrieg der US-Regierung gegen Russland in der Ukraine um der „Demokratie“ willen geführt werde. Die Abtreibungsgesetze Russlands erlauben legale Abtreibungen nur in den ersten 12 Wochen der Schwangerschaft, aber selbst dieser Standard ist heute liberaler als viele amerikanische Bundesstaaten, in denen zig Millionen Menschen leben.