Ehemaliger US-Verteidigungsminister Leon Panetta: Nato befindet sich in „Stellvertreterkrieg“ gegen Russland

Leon Panetta, der unter Barack Obama Verteidigungsminister sowie CIA-Direktor und zuvor unter Bill Clinton Stabschef des Weißen Hauses war, erklärte am Donnerstag, die USA würden in der Ukraine einen Stellvertreterkrieg mit Russland führen.

Ein bewaffneter Mann neben den Überresten eines russischen Militärfahrzeugs in Butscha nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew am 1. März 2022 (AP Photo/Serhii Nuschnenko)

Panetta erklärte: „Wir sind hier an einem Konflikt beteiligt. Es ist ein Stellvertreterkrieg mit Russland, ob man es so nennt oder nicht.“

Er kam zu folgendem Schluss: „Ich glaube, die einzige Art und Weise, mit [dem russischen Präsidenten Wladimir] Putin umzugehen, ist jetzt, unsere Bemühungen deutlich zu intensivieren – das heißt, so viel Militärhilfe wie nötig zur Verfügung zu stellen.“

Er fügte hinzu: „Offen gesagt besteht der Weg, wie wir hier die Oberhand gewinnen können, darin, dort reinzugehen und Russen zu töten.“

Nur einen Tag vor Panettas Äußerungen hatte US-Präsident Joe Biden die Lieferung von weiteren Waffen an die Ukraine im Wert von einer Milliarde Dollar angekündigt – zusätzlich zu den 2,5 Milliarden an Waffen, die das Land seit 2014 erhalten hat.

Biden kündigte die Lieferung von 9.000 Panzerabwehrsystemen, 800 Flugabwehrsystemen, 7.000 Handfeuerwaffen und 20 Millionen Schuss Munition an die Ukraine an.

Bisher wurden in der Ukraine laut Schätzungen der USA 7.000 russische Soldaten getötet, d.h. einer von 28 Soldaten, die in dem Konflikt eingesetzt wurden. Das russische Militär macht zwar in Teilen der Ukraine langsame Fortschritte, konnte aber seit Beginn der Kämpfe vor einem Monat noch keine Großstadt einnehmen. Die massiven Waffenlieferungen der Nato an das ukrainische Militär hatten eindeutig Auswirkungen auf den Kriegsverlauf.

Am Mittwoch bot das Verteidigungsministerium des Nato-Mitgliedsstaats Slowakei die Entsendung von Langstrecken-Luftabwehrsystemen vom Typ S-300 an die Ukraine an.

Der russische Außenminister Sergei Lawrow erklärte, Moskau werde die Lieferung des Waffensystems „nicht zulassen“ und fügte hinzu: „Wir sagen eindeutig, dass jeder Frachtverkehr in ukrainisches Staatsgebiet, mit dem unserer Meinung nach Waffen transportiert werden, ein Angriffsziel darstellt.“

Lawrows Äußerungen verstärken die Gefahr, dass ein „Stellvertreter“-Konflikt um die Ukraine zu einem direkten Krieg zwischen Russland und Nato-Mitgliedern führt, der durch Artikel 5 des Nato-Vertrags einen uneingeschränkten Krieg auslösen würde.

In der vergangenen Woche stationierten die USA zwei Patriot-Raketenbatterien an der Grenze zu Polen.

Der britische Verteidigungsminister Ben Wallace kündigte am Donnerstag an, Großbritannien werde ebenfalls ein Mittelstrecken-Luftabwehrsystem in Polen stationieren.

Vor dem Hintergrund von Gerüchten, dass sich eine diplomatische Einigung zwischen der Ukraine und Russland zur Beendigung des Kriegs anbahnt, machten die USA am Donnerstag deutlich, dass sie keine diplomatische Lösung akzeptieren werden. Außenminister Antony Blinken erklärte: „Die Art und Weise, wie Russland jeden Tag, buchstäblich jede Minute an jedem Tag, vorgeht, steht in völligem Gegensatz zu ernsthaften diplomatischen Bemühungen, den Krieg zu beenden.“

Zum Schluss erklärte er: „Wir haben ein deutlichen Eindruck davon, was Russland als nächstes tun könnte... Wir glauben, dass Moskau die Bedingungen für einen Einsatz von Chemiewaffen schafft und dann fälschlicherweise die Ukraine dafür verantwortlich macht, um die Verschärfung seiner eigenen Angriffe zu rechtfertigen.“

Die USA überschwemmen derweil ihre europäischen Verbündeten mit Waffen. Die Nachrichtenagentur Reuters berichtete: „Die europäischen Regierungen haben der US-Regierung und den Rüstungskonzernen eine Einkaufsliste von Waffen vorgelegt, darunter Drohnen, Raketen und Raketenabwehrsysteme. Der russische Überfall auf die Ukraine führt zu einer gesteigerten Nachfrage nach US-Waffen.“

Deutschland kauft in großem Stil Waffen und hat alle Einschränkungen aufgegeben, die seinem Militär nach den schrecklichen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg auferlegt wurde. Das Land hat Pläne zum Kauf von amerikanischen F-35-Kampfflugzeugen angekündigt. Laut Reuters erwägt Berlin außerdem den Kauf eines US-Raketenabwehrsystems. Polen plant die Anschaffung von amerikanischen Reaper-Drohnen.

Reuters berichtete: „Das Potenzial für einen starken Verkaufsschub von Waffen aller Art seit Beginn des Überfalls am 24. Februar hat den Aktienkurs von Lockheed um 8,3 Prozent steigen lassen, den von Raytheon um 3,9 Prozent.“

Bereits jetzt kurbelt der Konflikt die US-Waffenverkäufe massiv an. Das Stockholm International Peace Research Institute veröffentlichte letzte Woche seinen Jahresbericht über den weltweiten Waffenhandel, laut dem die USA der mit Abstand größte Waffenexporteur sind.

Das Magazin Forbes schrieb dazu: „In den fünf Jahren zwischen 2017 und 2021 waren die USA für 39 Prozent der großen weltweiten Waffenverkäufe verantwortlich – mehr als doppelt so viel wie Russland und fast zehnmal so viel wie China an ihre Kunden geschickt haben. Zudem hatten die USA viel mehr Kunden – 103 Länder bzw. mehr als die Hälfte der Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen.“

Angesichts der riesigen Mengen an Waffen, die in einen aktiven und blutigen Konflikt geliefert werden, mehren sich die Warnungen vor einen uneingeschränkten Krieg. Gleichzeitig werden Forderungen nach einer Eskalation des Konflikts bis an den Rand des Abgrunds immer lauter und rücksichtsloser.

Der Kolumnist Bret Stephens von der New York Times schrieb: „So beginnt der Dritte Weltkrieg“. Das war nicht als Aufruf zur Deeskalation gemeint, sondern als Forderung nach einer aggressiveren US-Militärintervention in den Konflikt.

Stephens schrieb:

„Die Weigerung, eine Flugverbotszone in der Ukraine einzurichten, mag vielleicht insofern gerechtfertigt sein, als das Risiko ein Maß überschreitet, das die Nato-Staaten zu tolerieren bereit sind. Doch die Vorstellung, dass ein solches Vorgehen den Dritten Weltkrieg auslösen könnte, ignoriert die Geschichte und vermittelt den Eindruck von Schwäche. Amerikaner haben im Koreakrieg gegen sowjetische Piloten gekämpft, die unter chinesischer und nordkoreanischer Tarnung operierten, ohne dabei die Welt in die Luft zu jagen. Unsere ausgesprochene Aversion gegen eine Konfrontation ist keine Abschreckung, sondern eine Einladung an Russland, den Konflikt zu eskalieren.“

Martin Wolf von der Financial Times warnte vergangene Woche: „Die Hoffnung auf friedliche Beziehungen verblasst. Stattdessen haben wir Russlands Krieg gegen die Ukraine, Drohungen mit einem atomaren Armageddon, ein mobilisierter Westen, ein Bündnis von Autokratien, beispiellose Wirtschaftssanktionen und einen riesigen Energie- und Lebensmittelschock. Niemand weiß, was passieren wird, aber wir wissen, dass es katastrophal aussieht.“

Wolf kam zu folgendem Schluss: „Russlands Krieg gegen die Ukraine hat die Weltkarte ebenso verändert. Eine anhaltende Phase der Stagflation mit potenziell schweren Folgen für die Finanzmärkte scheint sicher. Langfristig ist die Entstehung von zwei Blöcken mit einem tiefen Graben zwischen ihnen ebenso wahrscheinlich wie eine beschleunigte Umkehr der Globalisierung und das Opfern von Wirtschaftsinteressen zu Gunsten der Geopolitik. Sogar ein Atomkrieg ist leider Gottes vorstellbar.“

Trotz dieser Warnungen gibt es Forderungen nach einer weiteren US-Eskalation. Laut der Zeitung The Hill „drängt eine wachsende Anzahl von Kongressabgeordneten die Biden-Regierung dazu, Kiews Forderung nach zusätzlicher Schlagkraft für die Luftwaffe zu erfüllen“.

In The Hill heißt es weiter: „Die Diskussion geht über die Differenzen zwischen den Parteien in Washington hinaus. Das Weiße Haus ist nicht nur mit Republikanern konfrontiert, sondern auch mit einigen der engsten demokratischen Verbündeten von Präsident Biden.“

Zudem gibt es Anzeichen dafür, dass der Konflikt zunehmend globale Ausmaße annimmt. Bei einem Telefonat mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping forderte Biden am letzten Freitag, China solle versprechen, Russland keine „materielle Unterstützung“ zu gewähren und drohte Peking mit „Konsequenzen“, wenn dieses Versprechen ausbleibe.

Xi wiederum verurteilte die Reaktion der USA auf den Krieg und erklärte: „Unter umfassenden und wahllosen Sanktionen leidet nur die Bevölkerung... Wenn sie weiter verschärft werden, könnten sie zu ernsthaften Krisen in der Weltwirtschaft, dem Welthandel, dem Finanzsystem, den Energie-, Lebensmittel- und Industrie-Lieferketten führen, die ohnehin schon angeschlagene Weltwirtschaft zerstören und unumkehrbare Verluste zur Folge haben.“

Der republikanische Senator Marco Rubio erklärte: „China ist an Russlands Krieg in der Ukraine mitschuldig“ und forderte: „Xi und die KPCh müssen dafür einen Preis bezahlen.“

Matthew Pottinger, der unter Ex-Präsident Trump ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats war, bezeichnete den Konflikt, der durch die russische Invasion in der Ukraine ausgebrochen ist, als „heiße Eröffnung eines Kalten Kriegs, bei dem Washington und seine Verbündeten“ gegen Russland und China kämpfen. Pottinger erklärte: „Was wir jetzt zu tun haben, ist eine umgehende Verdoppelung unserer Verteidigungsausgaben.“

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