Angesichts des gegenwärtigen Kriegsgeschreis und der antirussischen Hetze in Medien und Kultursendungen gewinnt ein Film der Berlinale, die am 20. Februar zu Ende ging, erst so richtig seine Bedeutung: „Wir könnten genauso gut tot sein“ der jungen russisch-jüdischen Regisseurin Natalia Sinelnikova.
Es handelt sich um ein absurdes Drama über die Hysterie und Verlogenheit von wohlhabenden Bildungsbürgern, die sich von der Außenwelt abschotten und hysterisch reagieren, wenn äußere Ereignisse ihre abgehobene Existenz zu bedrohen scheinen. Dann schlägt ihre Angst in Aggressivität gegen „Fremde“ oder vermeintliche innere Feinde um.
„Haben Sie in den letzten zwei Wochen auffällige körperliche oder geistige Veränderungen bemerkt? Wurden Sie jemals aus einer Hausgemeinschaft aufgrund von unsozialen, unmoralischen oder unüberlegten Aktivitäten ausgeschlossen?“ So lautet die standardmäßige Frage der Sicherheitsbeauftragten Anna (großartig gespielt von Ioana Iacob aus Rumänien) am Eingang des Hochhauses Sankt Phoebus, wo sich alle, die hier wohnen wollen, einer Kontrolle mit Detektoren unterziehen müssen.
Dieses Haus, für das ein reales Hochhaus im Berliner Ostbezirk Marzahn Modell stand, verspricht eine sorglose, sichere Existenz für seine Bewohner – verglast und hell, mit Sonnenenergie beheizt und mit modernster Technik ausgerüstet, Palmen im lichten Innenhof, großzügiger Swimming-Pool und gepflegter Golfplatz, und vor allem: umzäunt mit Nato-Stacheldrahtzaun gegen die unruhige, gefährliche Außenwelt.
Doch schnell wird der Zuschauer in eine beklemmende Atmosphäre hineingezogen. Zu Beginn kommt eine Familie – Mann, Frau, Junge, anständig gekleidet – im Laufschritt aus einem düsteren Wald. Mit einer Axt in der Hand, denn dahinten, wo sie herkommen, passieren so schreckliche Dinge, hasten sie in Richtung des leuchtend weißen Hochhauses. Als sich das vergoldete Gittertor öffnet, verlangsamen sie den Schritt. Sie zupfen Anzug und Kostüm zurecht, schließlich sind sie wohlerzogene Leute.
Doch die neuen Zuflucht Suchenden haben kein Glück: Obwohl der Mann einen Kniefall vor Anna macht, die vor sechs Jahren selbst mit Tochter aus Osteuropa gekommen ist, und obwohl er beteuert, dass sie sich sozial engagieren, „liebe Nachbarn“ sind, nur wenig Wein „aus ganz kleinen Gläsern“ trinken und sich sogar beim Sex leise verhalten, findet die Familie vor dem Auswahlgremium des Hauses keine Gnade. Warum? Weil Anna seine Verzweiflung anspricht, die er ihr gegenüber zum Ausdruck gebracht hat. Verzweifelte Leute können wir nicht gebrauchen, so Teilnehmer des Gremiums.
Doch dann verschwindet der Hund des Hausmeisters Gerti Posner (Jörg Schüttauf), und weil der Hund nicht zurückkommt, breitet sich unter den Bewohnern Angst aus. Er sei vermutlich umgebracht worden, und „wir könnten genauso gut tot sein“, so die von Panik ergriffene Hausgemeinschaft.
Es entsteht ein Klima von Verdächtigungen gegen die Nachbarn. Ins Visier gerät der junge Poet Wolfram (Moritz Jahn), der im Fahrstuhl seine Gedichte vorliest und verkauft, aber nur im Heizungskeller wohnen darf. Ins Visier gerät auch Anna selbst, weil sich ihre Tochter Iris (Pola Geiger) weigert, bei einem Hausfest mit einer Gesangseinlage aufzutreten und sich stattdessen ins Badezimmer einschließt.
Das Geschehen wird immer absurder und surrealer. Anna spricht mit ihrer Tochter durch eine Klappe in der Badezimmertür, diese behauptet, sie habe den „bösen Blick“, weil sie dem Hund des Hausmeisters den Tod gewünscht habe. Einmal legt sich die Mutter entnervt davor und singt ein jiddisches Wiegenlied.
Das vorbildliche Ärztepaar Drescher (Susanne Wuest, Knut Berger) fühlt sich beim Sex-Spielchen beobachtet, als Anna vor ihrem Fenster nach dem Hund sucht, dabei geräuschvoll über die Porzellanfigur eines Engels stolpert und mit der zerbrochenen Figur flüchtet. Nun wird nicht nur der Mörder eines Hundes, sondern auch der Dieb eines Engels gesucht.
Herr Drescher, sportlich-elegant, der im Übrigen neben seiner Frau noch mit der türkischen, alleinerziehenden Fitness-Trainerin ein Verhältnis hat (für sie eine Garantie, im Haus bleiben zu dürfen), baut schließlich eine Bürgerwehr mit seinen Golf-Mitspielern auf. Die Golfschläger werden zur Waffe, die Polohemden zur Uniform.
Die Panik im Haus nimmt zu, es gibt Denunziationen, Angst vor Sicherheitslücken, schließlich Hass auf das Andersgeartete, auf das Fremde. Der Poet wird geschlagen und aus dem Haus geworfen, weil bei ihm die kaputte Engelsfigur gefunden wird. Vergeblich wehrt sich Wolfram gegen den Vorwurf, er habe die Würde der Kirche geschändet, sagt, er sei Atheist, glaube nicht an Engel und wolle nur Gedichte verkaufen.
Das Geschehen kulminiert, als der Hausmeister mit einer Decke ins Haus kommt, auf der ein kleines schwarzes, tierähnliches Wesen liegt. Das sei sein Hund Willi, behauptet er, der jetzt abgemagert und tot sei. Anna mahnt zu Ruhe und Vernunft: „Es ist ein Marder, oder ein Frettchen, oder eine Springmaus“, ruft sie, „aber keinesfalls ein Hund“. Die Umstehenden schauen sie entgeistert an. Das Gefühl der Bedrohung, erklärt die Phoebus-Vorsitzende Ursel (Şiir Eloğlu), sei mindestens so real wie die Bedrohung selbst.
Am Ende steht ein genialer Wendepunkt: Nach lautem Streit mit ihrer Tochter in der Nacht stehen die „lieben Nachbarn“ mit Golfschlägern an Annas Tür. Da taucht plötzlich die 16-jährige Iris auf, die man bisher noch nicht gesehen hat, und schleudert dem von Drescher geleiteten Trupp mit ihrem „bösen Blick“ Flüche auf Polnisch ins Gesicht.
Das Bild der Schlussszene ist vielsagend: Hinter großen Glastüren schwenken die Mitglieder der Bürgerwehr drohend ihre Golfschläger. Die ausgesperrte Anna und ihre Tochter Iris schauen von außen auf die Meute zurück, bevor sie entschlossen und mit erhobenem Kopf sowie der Axt in der Hand in den angrenzenden Wald zurücklaufen.
Eine bissige Sozialsatire
Der Debütfilm von Silnekowa, der als Abschlussarbeit entstand, mag noch nicht in allem perfekt sein, wie manche Filmkritiker bemerken. Aber er ist ein gelungenes absurdes Drama über die brüchige Gesellschaft der Gegenwart. Die scharfe, satirische Zeichnung der wohlhabenden Oberschicht in Deutschland erweist sich in diesen Tagen als prophetisch.
Nur wenige Tage, nachdem der Film auf der Berlinale gezeigt wurde, startete der russische Krieg gegen die Ukraine und entfesselte gerade in diesen selbstgefälligen Kreisen, die sich gerne als gebildet, anständig und sozial darstellen, einen hysterischen Kriegstaumel und eine regelrechte Pogromstimmung gegen Russen. Russischstämmige Migranten und Künstler müssen nun erneut tagtäglich Existenzangst haben.
Der Film hat mehrere Ebenen und eine Reihe treffender Metaphern für die gegenwärtige Situation. Schon der Name des Hochhauses, Sankt Phoebus, ist symbolhaft. Er verweist auf den Beinamen Apollons, des griechischen Gotts des Lichts (Phoibos Apollon, „der Leuchtende“), der zugleich der Gott war, der im Trojanischen Krieg den Griechen mit seinen Pfeilen die Pest brachte.
Das Wiegenlied „Shlof mayn feygele“ lässt die jüdische Frage einfließen. Der zerbrochene Engel verweist auf die verlogene Moral der Kirche. Der „böse Blick“, mit dem man angeblich anderen Menschen schaden kann, gehört geschichtlich zum Volksglauben und war auf allen Kontinenten verbreitet.
Die Regisseurin bezieht diesen Begriff auch auf die junge Generation, die sich in der heutigen Gesellschaft nicht wohl fühlt. In einem Interview erwähnt sie das japanische Phänomen Hikikomori, das Jugendliche bezeichnet, die sich zu Hause oder in ihrem Zimmer einschließen, „weil sie überfordert sind mit der Leistungsgesellschaft und nicht Teil davon sein wollen“.
Auch Annas Tochter Iris spüre, dass sie nicht dazugehöre und tue dann etwas, um dazuzugehören: Sie sperrt sich ein und meint, dass sie so die Gemeinschaft schütze, so Sinelnikova. Sie habe nicht wirklich Angst vor der Welt, fühle sich jedoch fremd.
Eine erste Ebene des Films ist die Flüchtlingsfrage. Das überdimensionierte Gittertor zum Park des Hochhauses zeigt bildhaft die Abschottungspolitik Deutschlands und der EU, die Hunderttausenden verzweifelten Menschen aus den Kriegsgebieten des Nahen Ostens oder Afrikas die Tür gewiesen und sogar dem Tod im Mittelmeer ausgeliefert haben.
Die Familie im Film gehört zu den zahlreichen Menschen, die nach der Wiedereinführung kapitalistischer Verhältnisse aus Osteuropa nach Deutschland kamen, um Armut und Unterdrückung zu entfliehen. Dabei fließt die eigene Fluchterfahrung der Regisseurin ein. Natalia Sinelnikowa wurde in einer Hochhaussiedlung am Rande von Sankt Petersburg, noch zur Zeit der Sowjetunion, geboren und kam 1996 mit der Familie als russisch-jüdischer Kontingentflüchtling nach Deutschland.
„Meine Eltern wollten, dass ihre Kinder in einem sicheren Land aufwachsen, frei von einer korrupten Regierung, von mafiösen Strukturen, von Antisemitismus und damit vor allem frei von Angst“, so die Regisseurin. Sobald sie im Alter von sieben Jahren ihren Fuß auf deutschen Boden setzte, wollte sie dazu gehören, „zu diesem Land voller weißer Gardinen und Fenstervasen, um die ich meine Mutter anbettelte, den Zäunen und grünen Hecken“. Sie wollte mit Haut und Haaren deutsch werden, aber das Gefühl, fremd zu sein, und die Angst vor Ausgrenzung habe sie lange verfolgt.
Die tiefere Ebene ist die beißende Gesellschaftskritik. Auf Fragen von Journalisten, ob ihr Film die Corona-Krise thematisieren wollte, die psychischen Ängste durch die Isolierung in dieser Zeit, antwortete Sinelnikova, sie habe zwar selbst später überraschende Parallelen gefunden, aber dies sei nicht ihr Anliegen gewesen, sondern die Sozialsatire.
Ihr Film macht kein Hehl daraus, dass es nicht um allgemeine psychische Ängste geht, sondern um Reaktionen unterschiedlicher sozialer Klassen. Es sind gerade die gebildeten, oberen Kreise, die sich voll Heuchelei als sozial deklarieren – gut verkörpert in der Phoebus-Leiterin Ursel – und letztlich hysterisch und aggressiv gegen die Gefahr von unten und von außen reagieren, wenn sie ihre Privilegien in Gefahr sehen.
Die wenigen „Fremden“ und Armen im Haus Phoebus müssen sich dagegen regelrecht prostituieren, um weiter hier wohnen zu dürfen: neben dem armen Künstler Wolfram die türkische Trainerin, die den feinen Herrn Drescher sexuell bedient und ihre minderjährige Tochter für Lieferdienste im Haus einsetzt, oder eine alleinerziehende Mutter, die mit ihrem Baby auf dem Arm das Treppenhaus putzt. Sie sind die ersten, die unter Verdacht geraten.
Als auch Anna, die lange die Vertreibung von sich abhält, verjagt wird, legt sie ihre Unterwürfigkeit ab und entscheidet sich für einen selbstbewussten Weg an der Seite der Jugend. Mutter und Tochter kehren der verfluchten Phoebus-Gesellschaft den Rücken.