Seit Beginn der russischen Invasion in der Ukraine ist in den USA und in Westeuropa eine chauvinistische antirussische Kriegshysterie ausgebrochen. Schon zuvor schürten die westlichen Regierungen und die bürgerlichen Medien eine endlose Kriegspropaganda. Mittlerweile richtet sich die Hysterie sogar gegen russische Musiker, Dirigenten und Sänger.
Am späten Donnerstag gab das Management der New Yorker Carnegie Hall bekannt, dass der berühmte russische Dirigent Valery Gergiev die Wiener Philharmoniker am Freitag in dem namhaften Konzertsaal nicht mehr dirigieren werde. Das Management sagte auch einen Auftritt des bekannten Pianisten Denis Matsuev ab, der das Klavierkonzert Nr. 2 von Sergej Rachmaninow spielen sollte.
Der 68-jährige Gergiev ist eine herausragende und angesehene Persönlichkeit im Bereich der klassischen Musik, in einer Sphäre, in der sich sehr viele russische und ehemals sowjetische Künstler auszeichnen. Gergievs internationale Karriere begann während des Kalten Kriegs mit einem Auftritt in Großbritannien im Jahr 1985, zu einer Zeit, als die Reagan-Regierung die Spannungen mit der Sowjetunion aufs Äußerste verschärft hatte. Vor einem Vierteljahrhundert ernannte die New Yorker Metropolitan Opera Gergiev zum ersten Gastdirigenten.
Für die Streichung Gergievs aus dem Programm wurde kein Grund genannt, aber sie erfolgte eindeutig als Vergeltung dafür, dass er sich nicht vom russischen Präsidenten Wladimir Putin distanzierte, den er in den 1990er Jahren, kurz nach Auflösung der UdSSR, in St. Petersburg persönlich getroffen hatte. Offensichtlich waren Proteste geplant, die während der Aufführung vor der Carnegie Hall stattfinden sollten, und das Management gab diesem Druck nach.
Die New York Times, ein wichtiges Sprachrohr für CIA-Propaganda, nahm die Absage mit zynischer Genugtuung zur Kenntnis und bezeichnete Gergiev nicht als Musiker, sondern als Agenten der russischen Soft-Power-Politik. Er wurde als „Kulturbotschafter“ bezeichnet, der „eine rege internationale Karriere gemacht und gleichzeitig enge Beziehungen zum russischen Staat unterhalten“ habe.
Auch Gergievs andere internationale Engagements sind in Frage gestellt. Offenbar ist die Fortsetzung seiner internationalen Karriere jetzt von modernen Loyalitätsschwüren abhängig. Die Mailänder Scala hat gedroht, einen Auftritt am 5. März abzusagen, wenn Gergiev den Einmarsch Russlands in der Ukraine nicht öffentlich anprangere. Der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) hat ihm drei Tage Zeit gegeben, eine solche Erklärung abzugeben, und ihm andernfalls mit der Absetzung als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker gedroht. Auch Rotterdam erwägt, Berichten zufolge, ein für September geplantes Gergiev-Festival abzusagen.
Hinter dieser Kampagne verbirgt sich eine unglaubliche Heuchelei. Es versteht sich von selbst, dass kein einziger amerikanischer Musiker jemals für seine Unterstützung der Kriege in Serbien, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, usw. bestraft wurde, und die Liste lässt sich fortsetzen. Die Times und die Demokratische Partei unternehmen auch keinen Versuch, ihre Unterstützung für ein Verbot russischer Musiker mit ihrer Ablehnung eines Boykotts israelischer Intellektueller und Akademiker wegen der Unterdrückung der Palästinenser durch dieses Land und der wiederholten Massaker im winzigen Gazastreifen in Einklang zu bringen.
Angeblich soll Gergiev nicht deshalb gemaßregelt werden, weil er Russe ist, sondern weil er Putin unterstützt. Aber was ist mit all den US-amerikanischen Musikern, Künstlern oder Wissenschaftlern, die je das Weiße Haus besucht oder als staatliche Berater für kulturelle oder wissenschaftliche Angelegenheiten mitgewirkt haben? Die amerikanische Regierung hat ungeheure Verbrechen begangen. Sollen sie also ihre Karriere beenden? Ist jeder Hollywood-Star, der Barack Obama öffentlich unterstützt hat, für dessen „Terror-Dienstage“ mitverantwortlich? An solchen Dienstagen pflegte der Präsident „Abschusslisten“ mit den Namen derjenigen zusammenzustellen, die Zielobjekt von Drohnenangriffen werden sollten.
Viele weitere klassische Künstler, die Russen sind, sehen sich nun ähnlichen Drohungen ausgesetzt. Mittlerweile wird die Kampagne schon von Einzelpersonen mit Verbindungen zu Putin auf die gesamte russische Musik und Kultur ausgedehnt. Der Eurovision Song Contest hat angekündigt, in diesem Jahr keine Beiträge aus Russland zuzulassen. Angeblich würde die Teilnahme von Musikern, die zufällig in dem Land geboren wurden, „den Wettbewerb in Verruf bringen“. Mehrere Orchester erwägen sogar, Stücke von Pjotr Tschaikowsky und anderen russischen Komponisten abzusetzen, obwohl sie vor hundert Jahren oder mehr gestorben sind.
Dieses widerliche Schauspiel ist das Produkt der Kriegshysterie, die die US-Regierung mit Hilfe der bürgerlichen Medien schürt. Angetrieben wird sie von der Times, der Washington Post und anderen Medien, die einst als Säulen des amerikanischen Liberalismus galten.
Die antirussische Hetzkampagne hat wenig Rückhalt in der Bevölkerung und beschränkt sich weitgehend auf Teile der privilegierten Mittelschicht. Umfragen zeigen immer wieder, dass die große Mehrheit der US-amerikanischen Öffentlichkeit einen Krieg mit Russland oder auch nur ein nennenswertes amerikanisches Engagement in der Ukraine entschieden ablehnt. Aus den Kommentaren der Times bekommt man davon allerdings nichts mit. Sie sind voller wuterfüllter Tiraden, die Putin für jedes erdenkliche soziale Übel im In- und Ausland verantwortlich machen. Es ist beschämend, dass kaum ein bekannter Akademiker, Schriftsteller oder Intellektueller dem widerspricht.
Diese Gesellschaftsschicht hat sich als sehr anfällig für diese Art der Manipulation erwiesen. Seit Jahren lässt sich das wohlhabende Kleinbürgertum von einer Hexenjagd in die andere treiben. Auf der Grundlage von Behauptungen, Andeutungen und Verleumdungen sind schon unzählige Karrieren zerstört worden. Besonders die #MeToo-Kampagne hat sich durch solche Angriffe hervorgetan, die beispielsweise auf den Opernsänger Placido Domingo und den Leiter der Metropolitan Opera, James Levine, abzielten.
Bei solchen Kampagnen werden Emotionen geschürt und rechtliche Standards angegriffen, und die Geschichte wird verunglimpft und verfälscht. Eine Weltanschauung, die sich auf Rasse und ethnische Zugehörigkeit stützt, hat in diesem Milieu auf erschreckende Weise das demokratische Bewusstsein abgestumpft. Allerdings spiegelt diese Sichtweise auch ein bestimmtes Klasseninteressen wider: Es geht um die gehobenen Mittelschichten, die mit dem Weltimperialismus schon vor langer Zeit ihren Frieden gemacht haben.
Vertreter dieser Schichten schreiben und sprechen, als hätten sie die letzten dreißig Jahre in einem Paralleluniversum gelebt, als hätten sie von dem „globalen Krieg gegen den Terror“ und den zahlreichen, wahllosen Kriegen des amerikanischen Imperialismus nichts mitgekriegt, die allesamt auf Lügen und Fehlinformationen beruhten.
Der Angriff auf Gergiev und andere Künstler – und das ist nur der Anfang – weist beunruhigende historische Parallelen auf. Den übelsten politischen Verbrechen der USA im 20. Jahrhundert ging eine solche hasserfüllte, chauvinistischen Stimmungsmache voraus. So kam es im Ersten Weltkrieg zu bösartigen Angriffen auf deutsche Einwanderer, und im April 1918 wurde der sozialistische Bergarbeiter Robert Prager in Collinsville (Illinois) ermordet. Auch im Zweiten Weltkrieg ging der berüchtigten Masseninternierung japanischer Amerikaner durch die Roosevelt-Regierung eine üble Hetzkampagne voraus.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Solche chauvinistischen Kampagnen schufen auch die Voraussetzungen für breit angelegte Angriffe auf sozialistische Kriegsgegner. So wurde der amerikanische Sozialist Eugene Debs im Jahr 1918 verhaftet, und im Jahr 1941 wurde die Führung der Socialist Workers Party inhaftiert.
Derzeit leben 2,4 Millionen Russisch-Amerikaner in den USA, und fast 400.000 von ihnen sind in Russland oder der ehemaligen Sowjetunion geboren. Soll man sie alle als potenzielle feindliche Agenten behandeln, die sich von Putin über RT und andere russische Medien manipulieren lassen? Sollen sie, um ihren Arbeitsplatz zu behalten, ebenfalls gezwungen werden, das Handeln der russischen Regierung öffentlich anzuprangern? In der Tat brachte der demokratische Kongressabgeordnete Eric Swalwell am Donnerstag die Möglichkeit ins Spiel, als Form der kollektiven Bestrafung für die Aktionen des Kremls alle russischen Studenten aus den USA auszuweisen.
Die Kampagne gegen Gergiev erinnert auf unheimliche Art und Weise an den Angriff im Ersten Weltkrieg auf Karl Muck, den deutschstämmigen Leiter des Boston Symphony Orchestra. Muck wurde nach einer Pressekampagne wegen seiner angeblichen „Weigerung“, vor Konzerten die US-Nationalhymne („The Star-Spangled Banner“) zu spielen, aus seinem Amt gedrängt, des Nachts verhaftet und 17 Monate lang als „feindlicher Ausländer“ interniert.
Muck verwies auf die Universalität der Musik und lehnte es ab, sie dem Nationalismus unterzuordnen. „Kunst folgt ihren eigenen Gesetzen“, sagte er. „Und gehört keiner besonderen Nation oder Gruppe an. Es wäre daher ein grober Fehler, eine Verletzung künstlerischen Geschmacks und der Prinzipien einer Organisation wie der unsern, patriotische Lieder zu spielen. Glaubt die Öffentlichkeit, dass wir eine Militärkapelle oder ein Ballhausorchester seien?“
Die Kampagne gegen russische Musiker zielt darauf ab, das öffentliche Bewusstsein zu vergiften; sie beraubt die Menschen der Sensibilität und der menschlichen Solidarität, die durch jede gute Musik bestärkt wird.
Der Austausch von Musikern zwischen den USA und der Sowjetunion hat dazu beigetragen, Spannungen abzubauen und gegenseitigen Respekt für die kulturellen Errungenschaften beider Länder zu vermitteln. Am antirussischen Hass hielt nur die extreme Rechte fest. Während große sowjetische Musiker durch die USA tourten, wurden amerikanische Jazzmusiker auf internationalen Tourneen gefeiert. Der aus Texas stammende Van Cliburn erregte 1958 Aufsehen in der sowjetischen Öffentlichkeit, als er den Internationalen Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau gewann.
Die Arbeiterklasse geht auf ihre eigene Weise an diese Fragen heran. Unter den jahrzehntelangen Invasionen und Kriegen der USA litt auch die amerikanische Arbeiterjugend. Dies hat dazu geführt, dass Washingtons Behauptungen, man kämpfe für „nationale Souveränität“ und „Menschenrechte“, auf abgrundtiefe Skepsis stoßen. Die Arbeiter haben durch bittere Erfahrungen gelernt, dass sich hinter solchen Phrasen die Interessen der herrschenden Elite verbergen. Und sie wissen, dass die Arbeiter der Welt immer den Preis dafür zahlen müssen.
Die größte Gefahr besteht jedoch darin, dass diese latente Opposition diffus, unorganisiert und politisch unartikuliert bleibt. Wenn die Entwicklung zu einem dritten Weltkrieg aufgehalten werden soll, dann muss die Arbeiterklasse auf einer sozialistischen, internationalistischen Grundlage mobilisiert werden, um ihn zu stoppen.
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