Am Freitag erklärte US-Präsident Joe Biden auf einer außerplanmäßigen Pressekonferenz, er sei „davon überzeugt“, dass der russische Präsident Wladimir Putin die „Entscheidung getroffen hat“, in die Ukraine einzumarschieren und auf die Hauptstadt Kiew vorzurücken. Laut Biden rechnet das Weiße Haus mit einem solchen Schritt „in der kommenden Woche, innerhalb der nächsten Tage“.
In seiner zehnminütigen Rede warnte Biden, eine „solche Entscheidung“ würde bedeuten, dass Russland für einen „katastrophalen und unnötigen, vorsätzlich angezettelten Krieg verantwortlich“ sein wird. Er drohte, Russland werde einen „hohen Preis“ für einen solchen Krieg zahlen, da die USA und die Nato bereit seien, „jeden Zentimeter Nato-Staatsgebiet“ zu verteidigen.
Biden machte Russland für einen „deutlichen Anstieg“ des Artilleriebeschusses in der Ostukraine verantwortlich, wo seit dem von den USA finanzierten rechtsextremen Putsch von 2014 seit acht Jahren Bürgerkrieg herrscht. Ferner lobte Biden das ukrainische Militär, das mit Faschisten durchsetzt ist und von den USA bewaffnet und ausgebildet wurde, für sein „großartiges Urteilsvermögen“ sowie seine „Zurückhaltung“ und betonte, die USA würden „das ukrainische Volk weiterhin unterstützen“.
Den Beschuss eines Kindergartens in dem von Separatisten kontrollierten Gebiet Lugansk bezeichnete er als russische „False-Flag-Operation“. Er entspreche dem, wovor die USA bereits gewarnt hatten. Genau wie bei allen Lügen und Anschuldigungen der letzten Wochen und Monate machte er sich auch diesmal nicht die Mühe, irgendwelche Beweise für seine Behauptungen vorzulegen.
Zum Schluss seiner Rede erklärte Biden: „Unsere Nation und unsere Welt sind in vielen Fragen gespalten, aber nicht im Widerstand gegen russische Aggression. Das amerikanische Volk steht dafür geschlossen ein. Die Europäische Union steht dafür geschlossen ein. Die transatlantische Gemeinschaft steht dafür geschlossen ein. Unsere Parteien [in den USA] stehen dafür geschlossen ein. Die ganze freie Welt steht dafür geschlossen ein.“
Bidens Bemerkungen sind die Äußerungen einer herrschenden Klasse, die völlig den Kopf verloren hat. Nachdem er faktisch erklärt hatte, dass sich die USA auf einen Krieg mit der Atommacht Russland innerhalb der nächsten Woche vorbereiten, beantwortete er nur noch eine Handvoll Fragen von Journalisten, von denen niemand seine haltlosen Anschuldigungen in Frage stellte, und verließ den Raum.
Als ein Reporter Biden nach den umfangreichen Militärübungen fragte, die Präsident Putin am Wochenende persönlich beaufsichtigt, und an denen u.a. Atomwaffen beteiligt sind, erklärte er: „Ich glaube nicht, dass er auch nur im Entferntesten über den Einsatz von Atomwaffen nachdenkt, aber ich denke, er versucht, die Welt davon zu überzeugen, dass er die Dynamik in Europa auf eine Weise ändern kann, zu der er nicht in der Lage ist.“ Kurze Zeit später fügte er hinzu: „Aber es ist schwer, seine Gedanken zu lesen.“
Mit anderen Worten, das Weiße Haus nimmt bei seinem rücksichtslosen Kriegskurs gegen Russland die Möglichkeit in Kauf, dass Russland in diesem Konflikt Atomwaffen einsetzen wird – und wie diese Übungen deutlich zeigen, besteht diese Möglichkeit.
Nur einen Tag vor Bidens Rede hatte US-Außenminister Antony Blinken vor den Vereinten Nationen eine verlogene Rede gehalten, die an Colin Powells berüchtigte Rede über irakische „Massenvernichtungswaffen“ von 2003 erinnerte. Nur wenige Stunden zuvor hatten die USA die Entsendung von 250 Panzern nach Polen angekündigt, einem direkten Nachbarstaat der Ukraine. Jetzt behaupten die USA außerdem, dass Russland etwa 190.000 Soldaten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen hätte.
Die US-Medien haben wochenlang die Lügen des Weißen Hauses und der Geheimdienste verbreitet, laut denen ein russischer Einmarsch in der Ukraine unmittelbar bevorstehe. Sie nannten sogar ein konkretes Datum: Mittwoch, den 16. Februar. Doch an diesem Tag fand kein russischer Einmarsch statt, und der Kreml hat immer wieder dementiert, je einen geplant zu haben. Obwohl die Nato und die USA eine rücksichtslose militärische Provokation nach der anderen inszenieren, hat der Kreml bisher nicht wie erhofft darauf reagiert.
Doch die amerikanische herrschende Klasse, die für ein endloses Massensterben durch Covid-19, eine sprunghaft steigende Inflation und eine historisch beispiellose Vermögensumverteilung zugunsten der Superreichen verantwortlich ist, hat das Gefühl, nicht mehr länger warten zu können. Die Biden-Regierung versucht verzweifelt, einen Krieg mit Russland zu provozieren, um die scharfen Klassenspannungen nach außen zu lenken und eine Grundlage für „Geschlossenheit“ mit den immer offener faschistischen Republikanern zu schaffen.
Biden hielt seine Rede vor dem Hintergrund einer gefährlichen Eskalation des Bürgerkriegs zwischen prorussischen Separatisten und dem von den USA finanzierten ukrainischen Militär. Der Bürgerkrieg hat in acht Jahren mehr als 14.000 Todesopfer gefordert und Millionen zu Vertriebenen gemacht. Anfang der Woche haben die Beobachter der OSZE auf Anforderung der USA und Großbritanniens und gegen den Protest Moskaus die Konfliktzone verlassen.
Seit Donnerstag wird schwerer Artilleriebeschuss gemeldet, auch von Wohngebieten. Obwohl der ukrainische Stabschef und die Regierung die Behauptungen prorussischer Separatisten zurückweisen, Präsident Selenskyj werde bald den Befehl zu einem uneingeschränkten Einmarsch geben, existieren die Bedingungen für einen schrankenlosen militärischen Konflikt bereits.
Am Freitag wurde das Auto des Anführers der Miliz der selbsterklärten Volksrepublik Donezk bei einem gescheiterten Attentatsversuch zerstört. Durch zwei Explosionen im Gebiet der Volksrepublik Lugansk am letzten Samstag kam es zu einem Großbrand an einer Gaspipeline. Die Ukraine ist zusammen mit Belarus ein wichtiges Transitland für russische Gas- und Öllieferungen nach Europa.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Dass die Energie-Infrastruktur bereits vor Beginn eines offenen Kriegs solche Schäden erleidet, ist ein beängstigender Vorgeschmack darauf, was noch bevorstehen könnte. Abgesehen von wichtigen Gas- und Ölpipelines befinden sich in der Ukraine auch die Überreste der schrecklichen Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Jahr 1986. Die ukrainischen Streitkräfte haben in den letzten Wochen Militärübungen in der Sperrzone um Tschernobyl organisiert, die noch immer einer der am stärksten verstrahlten Orte der Welt ist. Sie liegt auf dem kürzesten Weg zwischen der Ostukraine und Kiew, weswegen dort mit militärischen Zusammenstößen gerechnet wird.
In der Ostukraine bahnt sich bereits jetzt eine humanitäre Katastrophe an. Am Freitag kündigten die Separatistenführer in Donezk und Lugansk die massive Evakuierung von Frauen, Kindern und Alten nach Russland an. Allein die Führung der separatistischen Volksrepublik Donezk rechnet damit, 700.000 Menschen zu evakuieren. Laut BBC dürfen Männer zwischen 18 und 55 Jahren Donezk nicht verlassen.
Bis Freitagabend kamen bereits tausende Menschen in Bussen in der südrussischen Region Rostow an. Berichten zufolge hat sich an der russischen Grenze eine fast 23 Kilometer lange Schlange aus Autos mit Flüchtlingen gebildet, die unbedingt das Kriegsgebiet verlassen wollen.
Der Kreml, der anfangs offenbar von der Entscheidung der Separatistenführer überrascht war, einen Großteil der Zivilbevölkerung zu evakuieren, hat jedem Flüchtling in der Region Rostow eine Zahlung von lächerlichen 10.000 Rubel (etwa 129 Dollar) versprochen und andere Regionen aufgefordert, sich auf die Aufnahme von zehntausenden Flüchtlingen in den kommenden Tagen vorzubereiten.
Der Sicherheitsdirektor von Kiew, Roman Tkatschuk, erklärte im ukrainischen Radio, dass im Falle eines offenen Kriegs mit Russland alle 2,8 Millionen Einwohner der Stadt evakuiert würden, erwähnte aber nicht wohin oder wie. Vertreter der EU hatten zuvor angekündigt, dass die Europäische Union, die jedes Jahr tausende von Flüchtlingen elendig im Mittelmeer und an den Grenzen sterben lässt, im Kriegsfall zur Aufnahme von „bis zu einer Million“ Menschen aus der Ukraine bereit sein müsse.
Der russische Revolutionär Leo Trotzki schrieb 1934, die Geschichte treibe „die Menschheit schnurstracks zum Vulkanausbruch des amerikanischen Imperialismus“.
Genau das passiert jetzt. Wenn die herrschende Klasse die Kontrolle über die politische Lage behält, wird die Krise des Weltkapitalismus unweigerlich zu einem Weltkrieg führen. Die einzige Alternative ist eine Intervention der internationalen Arbeiterklasse. Diese Intervention muss politisch durch den Aufbau einer revolutionären Führung und den Kampf für eine sozialistische Antikriegsbewegung vorbereitet werden.