Dutzende Tote bei Militäreinsätzen gegen Massenproteste in Kasachstan

Die Welle von Massenprotesten im zentralasiatischen Kasachstan, die als Reaktion auf den Anstieg der Preise für Flüssiggas ausgebrochen sind, stellt die Herrschaft von Präsident Qassym-Schomart Tokajew in Frage.

Demonstranten vor einem Polizeikordon in Almaty am 5. Januar 2022. (AP Photo/Wladimir Tretjakow)

Am Donnerstag mobilisierte die kasachische Regierung das Militär gegen die Demonstranten. Bei der so genannten „Anti-Terror-Operation“ zur „Säuberung der Straßen“ von Almaty, der größten Stadt des Landes, kam es zu Dutzenden Todesopfern, Hunderten Verletzten und mehr als 2.000 Verhaftungen. Laut Kanälen der Social-Media-App Telegram wurden durch das staatliche Vorgehen in den letzten Tagen Hunderte von Demonstranten getötet, und Dutzende weitere befinden sich in kritischem Zustand in Krankenhäusern.

Die Proteste begannen am 2. Januar. Die Ankündigung von Präsident Tokajew, mit seinem Kabinett zurückzutreten und möglicherweise auch das Parlament aufzulösen, konnten die Proteste nicht eindämmen. Am Dienstag wurde der landesweite Ausnahmezustand verhängt und alle Streiks verboten.

Die Regierung hat außerdem das Internet und verschiedene Telekommunikationsdienste und soziale Netzwerke gesperrt, darunter WhatsApp, Facebook, Telegram und die chinesische App WeChat. Die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), ein von Russland geführtes Militärbündnis, dem außer Russland und Kasachstan auch Armenien, Belarus, Kirgisistan und Tadschikistan angehören, hat Truppen zur Unterdrückung der Proteste ins Land geschickt. Die meisten Länder haben den Flugverkehr nach Kasachstan eingestellt, und die Flughäfen bleiben weiterhin geschlossen.

Ausgangspunkt der Proteste war die Industriestadt Schanaosen im Westen des Landes. Die Regierung hatte sich geweigert, weiterhin Subventionen zu zahlen, um den Preis für Flüssiggas niedrig zu halten, das viele Kasachen anstelle von Benzin als Treibstoff für ihre Autos benutzen. Als Rechtfertigung für die Abschaffung der Preissubventionen behauptete die Regierung, sie wolle ausländische Investitionen anlocken und die Profite der nationalen Gasproduzenten erhöhen, die angeblich Verluste machen. Deshalb stieg der Preis in kurzer Zeit von 14 Dollar-Cent auf 28 Dollar-Cent pro Liter. Von Schanaosen aus breiteten sich die Proteste schnell auf nahezu das ganze Land aus.

Ein Demonstrant in Schanaosen brachte in einem Interview mit Radio Azattyq die soziale Wut, die viele Menschen nach drei Jahrzehnten sozialem Niedergang und Elend empfinden, zum Ausdruck: „Die Behörden sagen, es gäbe nicht genug Gas, ein vor 50 Jahren gebautes Werk sei baufällig und veraltet. Was haben die dann die letzten 30 Jahre über getan? Geschlafen?“

Vor fast zehn Jahren wurden in Schanaosen 16 streikende Ölarbeiter von der Polizei massakriert. Die Stadt ist eine von vielen industriellen Monostädten, die im Zuge der Industrialisierung der Sowjetunion in den 1930ern und 1940ern entstanden und sich auf eine Industriebranche spezialisierten. Viele dieser Städte in der ehemaligen Sowjetunion, vor allem in Kasachstan, Russland und der Ukraine, sind noch immer Zentren der Industriearbeiterklasse.

Präsident Qassym-Schomart Tokajew versuchte, die Verantwortung für die Krise auf die Tankstellen abzuwälzen, die angeblich Preisabsprachen machen, und versprach „eine Reihe von Maßnahmen zur Regulierung des Gaspreises“, konnte damit jedoch die sozialen Unruhen nicht eindämmen. Auch die Behauptung der Regierung, sie habe die Tankstellenbesitzer angewiesen, den Preis für Flüssiggas auf 21 Cent pro Liter zu senken, konnte die Lage nicht beruhigen.

An den Protesten beteiligte sich sowohl die russisch- als auch die kasachischsprachige Bevölkerung. Viele Demonstranten forderten den Rücktritt der Regierung und die Schaffung eines neuen Systems für die Wahl von Regionalregierungen. Eine der beliebtesten Parolen war Berichten zufolge „Alter Mann, hau ab!“, womit der 81-jährige Nursultan Nasarbajew gemeint ist, dessen Familie die kasachische Politik seit drei Jahrzehnten dominiert.

Der ehemalige stalinistische Bürokrat Nasarbajew, der für die Wiedereinführung des Kapitalismus in Kasachstan verantwortlich war und das Land von 1991 bis 2019 als Präsident regierte, ist beispielhaft für die postsowjetische Oligarchie, die sich seit 30 Jahren am Verkauf von Öl, Metallen und anderen natürlichen Rohstoffen bereichert. Während der Durchschnittslohn in Kasachstan bei nur 570 Dollar pro Monat liegt und viele nur den Mindestlohn von 97 Dollar verdienen, soll Nasarbajew ein Nettovermögen von einer Milliarde Dollar und Londoner Luxusimmobilien im Wert von mehr als 107 Millionen Dollar besitzen.

Auch nach seinem Rücktritt als Präsident im Jahr 2019 übte Nasarbajew als Leiter des kasachischen Sicherheitsrats weiterhin beträchtlichen Einfluss aus. Erst im Dezember 2021 übergab er Tokajew die Kontrolle über die Regierungspartei. Am Mittwoch entfernte Tokajew Nasarbajew und seinen Neffen aus dem Staatssicherheitskomitee, um die Proteste zu beruhigen, was ebenfalls erfolglos blieb.

Während die Demonstrationen in Schanaosen und im Großteil des Landes friedlich blieben, kam es in Almaty zu mehreren Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften. Die kasachische Regierung behauptet, es seien Polizisten und Nationalgardisten getötet worden. An einem Tag übernahmen einige Demonstranten die Kontrolle über den Flughafen von Almaty und die wichtigsten Regierungsgebäude, zerstörten die Schaufenster von Banken und warfen Polizeiautos um. Auch der Präsidentenpalast wurde angezündet, und in den sozialen Netzwerken tauchten Videos auf, die Demonstranten bei der Verteilung von Gewehren zeigen. Die genauen Umstände und beteiligten Kräfte bei den Ereignissen in Almaty sind noch unklar.

Tokajew machte „Terroristenbanden“, die im Ausland ausgebildet worden seien, für die Zusammenstöße verantwortlich und erklärte, vom Flughafen Almaty seien fünf Flugzeuge gestohlen worden. Er bezeichnete die Ereignisse als „Untergrabung der staatlichen Integrität.“ Einigen Berichten zufolge ist sich die Regierung der Loyalität ihrer Streitkräfte nicht mehr sicher.

Kreml-Sprecher Dmitri Peskow stellte sich am Mittwoch hinter die Maßnahmen der kasachischen Regierung zur Unterdrückung der Proteste. Er forderte die schnellstmögliche „Normalisierung“ der Situation und warnte vor einer Intervention von außen.

Der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko, der im Jahr 2020 Proteste und eine Streikbewegung in seinem Land mit brutaler Gewalt unterdrückt hatte, rief die Demonstranten in Kasachstan auf, „auf die Knie zu gehen und sich beim Militär zu entschuldigen.“

Die Oligarchien, die aus der Wiedereinführung des Kapitalismus vor 30 Jahren hervorgegangen sind, eint die Angst davor, dass die Ereignisse in Kasachstan zum Vorboten und möglichen Ausgangspunkt einer breiteren Bewegung der Arbeiterklasse in der gesamten Region werden. Auch Berichte der westlichen Medien betonten die Gefahr der „Instabilität“ in Kasachstan.

Weil eine unabhängige sozialistische politische Führung fehlt, besteht für die arbeitenden Massen in Kasachstan die Gefahr, dass die Proteste von der Regierung brutal unterdrückt und von reaktionären politischen Kräften ausgenutzt werden. Berichte der russischen Medien deuten bereits darauf hin, dass die wichtigste Oppositionspartei des Landes, die rechte „Demokratische Entscheidung Kasachstans“ zunehmend eine Rolle bei den Demonstrationen spielt.

Kasachstan ist von großer wirtschaftlicher und geostrategischer Bedeutung, da es sowohl an Russland als auch an die westchinesische Region Xinjiang angrenzt. Das Land verfügt über große Öl-, Gas- und Uranvorkommen, ist ein wichtiger Weizenproduzent und Knotenpunkt für mehrere Gas- und Ölpipelines in Zentralasien.

Die kasachische Regierung hat sich zwar bisher an die Seite anderer Oligarchien in der ehemaligen Sowjetunion wie Russland gestellt, aber auch den USA die Türen geöffnet. Laut der New York Times haben Exxon Mobil und Chevron im Westen des Landes zweistellige Milliardenbeträge investiert. Chevron ist der größere Investor der beiden Ölkonzerne und besitzt 50 Prozent der Anteile am größten Ölfeld des Landes. Zudem hat Kasachstan vor kurzem engere Beziehungen zum Nato-Staat Türkei aufgebaut.

In den letzten zehn Jahren hat Kasachstan enge wirtschaftliche Beziehungen zu China etabliert, die zum Fokus von Spannungen innerhalb der herrschenden Eliten des Landes geworden sind.

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