Seit die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am Freitag die Omikron-Variante (B.1.1.529) des Coronavirus für „besorgniserregend“ erklärte, haben die Regierungen weltweit abgesehen von einigen Reisebeschränkungen keine wesentlichen Maßnahmen ergriffen, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Stand Sonntagabend wurden durch Sequenzierung 159 Infektionen mit der Omikron-Variante auf allen Kontinenten außer Südamerika nachgewiesen.
Noch ist wenig über diese Variante bekannt, aber erste Daten aus Südafrika deuten darauf hin, dass sie wahrscheinlich ansteckender ist als die Delta-Variante, die ihrerseits weitaus infektiöser ist als der Wildtyp von SARS-CoV-2, dem Virus, das Covid-19 verursacht. In der südafrikanischen Provinz Gauteng, wo die meisten Omikron-Fälle entdeckt wurden, haben sich die Krankenhauseinweisungen in den letzten zwei Wochen mehr als verdreifacht. Angesichts dessen, dass die Omikron-Variante über 50 Mutationen aufweist (davon 32 im Spike-Protein des Virus) warnen Wissenschaftler davor, dass es sich um die Variante mit der bisher größten Impfstoffresistenz handeln könnte.
Aufgrund der unzureichenden Genomsequenzierung in den Vereinigten Staaten ist es wahrscheinlich, dass sich die Omikron-Variante bereits unentdeckt im Land verbreitet. Parallel dazu verbreitet sich die Delta-Variante, die in den letzten vier Monaten über 165.000 Amerikaner getötet und Millionen infiziert hat.
Angesichts der raschen Ausbreitung der gefährlichen neuen Variante fordern viele Wissenschaftler dringend Maßnahmen.
In den Sonntagmorgen-Talkshows lehnte Dr. Anthony Fauci, der leitende medizinische Berater von Präsident Biden, jedoch jegliche Lockdowns und selbst Masken- oder Impfpflichten ab.
Obwohl in der vergangenen Woche offiziell mehr als 414.000 Amerikaner mit der Delta-Variante infiziert wurden, sagte Fauci gegenüber ABC News, es sei „zu früh, um zu sagen“, ob solche Maßnahmen erforderlich sein würden. Fauci machte deutlich, dass nach Ansicht des Weißen Hauses nichts unternommen werden sollte, bis die Omikron-Variante das gesamte Land durchdrungen hat.
Ebenso wie die Trump-Administration im Jahr 2020 lehnt auch Biden die Umsetzung von Schutzmaßnahmen aus rein wirtschaftlichen Erwägungen kategorisch ab. Als sich am Freitag die Nachricht von den Gefahren der Omikron-Variante verbreitete, verzeichneten die Aktienmärkte die größten Kursverluste des Jahres. Im Weißen Haus wurde daraufhin nicht über die Rettung von Menschenleben diskutiert, sondern darüber, was am Montag an der Wall Street passieren würde und wie man alle Maßnahmen bis zum Ende des Weihnachtsgeschäfts hinauszögern könnte.
In der NBC-Sendung „Meet the Press“ erklärte Fauci kategorisch, dass die Regierung Biden alle Versuche zur Eliminierung oder Ausrottung von Covid-19 ablehnt. Auf die Frage des Moderators Chuck Todd: „Es ist ziemlich klar, dass es jetzt endemisch wird, oder? Wie soll das sonst enden?“, antwortete Fauci: „Wissen Sie, wir werden es sicher nicht ausrotten. Wir haben nur ein Virus ausgerottet, und das sind die Pocken. Eliminierung bedeutet, dass es im Land nicht mehr vorkommt, so wie wir es jetzt mit Polio und Masern haben. Ich glaube nicht, dass es darauf hinausläuft.“
Fauci stimmte Todd zu, dass das Virus „endemisch“ werden würde, und wiederholte das unwissenschaftliche Mantra der Biden-Administration, dass die Infektionen und Todesfälle allein durch Impfungen auf ein „akzeptables“ Niveau gesenkt werden könnten. „Es wird nicht verschwinden“, sagte er. „Je weiter wir es drücken können, desto besser geht es uns. Und so weit können wir es drücken, wenn die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung geimpft und geboostert wird. Wie ich schon mehrfach gesagt habe, Chuck, müssen wir lernen, wie wir mit dem Virus leben können.“
Diese Aussagen und die Reaktion der Biden-Regierung auf die Omikron-Variante insgesamt wurden von führenden Wissenschaftlern scharf verurteilt. Dr. Jorge Caballero, früher an der Stanford University tätig, twitterte einen Ausschnitt des Interviews und kommentierte: „Ich habe genug gesehen. Wir brauchen mutige strategische Veränderungen, und das derzeitige Covid-Krisenreaktionsteam ist dieser Aufgabe nicht gewachsen.“
Fauci ist seit 1984 Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases (NIAID) und ein zuverlässiger Vertreter der herrschenden Klasse Amerikas. Seine ausdrückliche Ablehnung von Eliminierung und Ausrottung richtet sich bewusst gegen die wachsende Unterstützung für diese Strategie innerhalb der Arbeiterklasse und unter den weitsichtigsten Wissenschaftlern.
Die Eliminierungsstrategie, wie sie die World Socialist Web Site von Anfang an befürwortet hat, bedeutet den universellen Einsatz aller Maßnahmen des öffentlichen Gesundheitswesens: Massentests, Ermittlung von Kontaktpersonen, sichere Isolierung infizierter Patienten, Verwendung hochwertiger Masken, verbesserte Belüftung, Reisebeschränkungen, rasche Impfung der Weltbevölkerung und die vorübergehende Schließung aller Schulen und nicht lebensnotwendigen Betriebe bei vollem Einkommensausgleich für alle Betroffenen. Das größte Land, das diese Strategie erfolgreich anwendet, ist China, das seit der effektiven Eliminierung des Virus im März 2020 kontinuierlich kleinere Ausbrüche in einer Bevölkerung von über 1,4 Milliarden Menschen unterdrückt hat.
Der erklärte Widerstand der Regierung Biden gegen diese Strategie beruht auf eindeutigen Klasseninteressen. Die amerikanische herrschende Klasse bekennt sich zu einer Politik, von der sie weiß, dass sie zu einem anhaltenden Massensterben führen wird. Sie akzeptiert, dass mit SARS-CoV-2 und seinen Varianten eine vermeidbare neue Todesursache entstanden ist, die sich weiterentwickeln und immer gefährlicher werden wird.
Große Teile der herrschenden Elite betrachten den Tod älterer Arbeiter und Rentner als positiv. Schon Jahre vor der Pandemie wurden Forderungen laut, die Kosten für Renten, Sozialleistungen und medizinische Versorgung durch eine Senkung der Lebenserwartung zu reduzieren. Am deutlichsten formuliert wurden diese Ziele 2014 in einem Artikel von Ezekiel Emanuel in The Atlantic mit dem Titel „Weshalb ich hoffe, mit 75 zu sterben“. Der Untertitel des Artikels lautete: „Warum es der Gesellschaft und den Familien – und auch Ihnen – besser geht, wenn die Natur rasch und rechtzeitig ihren Lauf nimmt.“
Emanuel, der kurzzeitig in Bidens Covid-19-Beirat saß, bekommt nun seinen Wunsch erfüllt. Allein im ersten Jahr der Pandemie sank die Lebenserwartung erwachsener Männer in den USA um 2,2 Jahre – der stärkste Rückgang seit Beginn der amtlichen Aufzeichnungen im Jahr 1933.
Im Wesentlichen hat die Regierung Biden die Pandemiepolitik der Regierung Trump fortgesetzt. Nachdem er im Frühjahr die Öffnung der Schulen in den von den Demokraten regierten Großstädten erzwungen hatte, riet Biden zum Tragen von Masken und zur sozialen Distanzierung. Das bundesweite Moratorium für Zwangsräumungen wurde beendet, und Impfstoffe galten als Wundermittel zur Verhinderung weiterer Infektionen. Der „Delta Surge“ im Juli bewies, dass diese Strategie völlig untauglich war. Aber das Weiße Haus hielt stur daran fest, dass es nur um Impfstoffe gehe, und schuf damit die Voraussetzungen für die jetzige Katastrophe.
Der erklärte Widerstand der Biden-Regierung gegen die Eliminierung von Covid-19 angesichts einer neuen tödlichen Welle zeigt, wie wenig sich kapitalistische Regierungen auf der ganzen Welt um die Forderungen von Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit nach dem Schutz von Menschenleben kümmern. Mit dem Auftauchen der Omikron-Variante wird deutlich, dass die Machthaber das Virus weiterhin Massen von Menschen infizieren lassen werden. Sie lassen es mutieren, bis das gesamte griechische Alphabet aufgebraucht ist, obwohl jede neue Variante katastrophale Folgen haben kann.
Die Finanzoligarchie hat vor allem Angst, dass sich in der Arbeiterklasse eine Bewegung entwickelt, die Lockdowns fordert, ähnlich wie die spontanen Streiks, die im März 2020 die ersten Betriebsschließungen auslösten. Die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendigen Betrieben könnte Millionen Menschenleben retten, wenn sie als Teil einer umfassenden globalen Eliminierungsstrategie durchgeführt würde. Doch sie würde die Gewinnung von Mehrwert einschränken, die den Kern des kapitalistischen Produktionsprozesses bildet. Eine Einschränkung des privaten Reichtums der Milliardäre, die seit Beginn der Pandemie über 2 Billionen Dollar angehäuft haben, wird unter keinen Umständen toleriert.
Im Einklang mit führenden Wissenschaftlern hat die WSWS immer wieder davor gewarnt, dass die Entstehung gefährlicher Varianten wie Omikron nur durch eine Strategie verhindert werden kann, die darauf abzielt, das Virus schrittweise in allen Ländern zu eliminieren, bis die Übertragung von Mensch zu Mensch beendet ist. Der Ausgangspunkt dieser Strategie ist die Ablehnung der bisherigen Maßnahmen: der „Herdenimmunität“ ebenso wie der Vorstellung, dass die Pandemie durch „Mitigationsmaßnahmen“ wie z. B. die alleinige Impfung beendet werden könne.
Es gibt keine nationale Lösung für die Pandemie, die per definitionem ein weltweites Phänomen ist. Der Kampf zur Eliminierung von Covid-19 muss weltweit koordiniert werden, indem die Arbeiter diese Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Der Leitgedanke einer solchen Massenbewegung, die Millionen Arbeiter, Jugendliche und fortschrittliche Teile der Mittelschicht umfasst, muss darin bestehen, dass Menschenleben unbedingten Vorrang vor Unternehmensgewinnen genießen.
Der Kampf um die weltweite Ausrottung von Covid-19 erfordert eine möglichst umfassende Aufdeckung der finanziellen Interessen, die die Politik während der gesamten Pandemie bestimmt haben. Aus diesem Grund ist die von der World Socialist Web Site geforderte globale Untersuchung der Covid-19-Pandemie so wichtig und muss in jedem Land aufgebaut werden. Dieselben Verbrecher, deren Politik Schätzungen zufolge mehr als 12 Millionen Menschen weltweit getötet hat, drohen nun, eine weitere Welle des Massensterbens auszulösen. Dem muss Einhalt geboten werden, und die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen werden.