Chile: Präsidentschaftswahl offenbart scharfe Klassengegensätze

Aus der chilenischen Präsidentschaftswahl vom vergangenen Sonntag sind zwei Hauptgewinner hervorgegangen: der Faschist José Antonio Kast von der Frente Social Cristiano (etwa 27 Prozent der Stimmen), und Gabriel Boric vom pseudolinken stalinistischen Wahlbündnis Apruebo Dignidad (25 Prozent). Die beiden werden sich am 19. Dezember in einer Stichwahl gegenüberstehen.

Die Medien haben die Wahl als „historisch“ bezeichnet. Das internationale Finanzkapital verfolgt die Ereignisse aufmerksam, weil sie einen Mikrokosmos der globalen Entwicklung des Klassenkampfs darstellen. Als bekannt wurde, dass Kast es in die Stichwahl geschafft hat, stieg der chilenische Aktienmarkt am Montagmorgen bei der Eröffnung um 9,25 Prozent.

Der Guardian schrieb: „Die beiden vertreten zwei völlig gegensätzliche Programme. Kasts Wahlkampf konzentrierte sich auf sozial-konservative Werte, Sicherheit und Zuwanderung. Boric steht für eine egalitäre, feministische und ökologische Zukunft Chiles. Während sich Kast stolz als politisch nicht korrekt bezeichnet und die gleichgeschlechtliche Ehe ablehnt, steht Boric für Integrationsfähigkeit und progressive gesellschaftliche Werte.“

Die vordringliche Sorge der Finanzmärkte ist nicht, wer die Präsidentschaftswahl gewinnt. Sie würden zwar einen Sieg von Kast und der extremen Rechten begrüßen, doch haben alle vier führenden Wahlkandidaten die privaten Eigentumsverhältnisse und den kapitalistischen Markt ausdrücklich verteidigt:

  • Kast ist der Sohn eines Wehrmachtsoffiziers, der an der Ostfront gekämpft hatte. Er bezeichnet sich als unerschütterlicher Anhänger des faschistischen Militärdiktators Augusto Pinochet. Er war Abgeordneter der rechtsextremen Unión Demócrata Independiente (UDI), bis er 2017 als unabhängiger Kandidat in der Präsidentschaftswahl antrat. Zudem pflegt Kast enge Kontakte zur faschistischen spanischen Partei Vox und dem brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro, und er ist Teil des internationalen antikommunistischen Bündnisses „Madrid-Forum“.
  • Boric war vor zehn Jahren ein radikaler Studentenführer in den Bildungsprotesten von 2011; seit 2014 sitzt er im Unterhaus. Im Jahr 2019 führte er Gespräche mit der aktuellen rechten Regierung von Sebastian Piñera über eine Allparteienregierung, um die massiven antikapitalistischen Demonstrationen abzuwürgen. Seine Partei Convergencia Social, die Teil der Koalition Frente Amplio (Breite Front) ist, basiert auf dem Vorbild der spanischen Podemos, die letztes Jahr in eine bürgerliche Regierungskoalition mit der PSOE eingetreten ist. Genau wie ihr spanisches Äquivalent ist auch diese pseudolinke Partei das Sprachrohr so genannter „progressiver“ kleinbürgerlicher Kräfte, die Identitätspolitik verfechten. Ihre Hauptaufgabe ist es, jede unabhängige Mobilisierung der Arbeiterklasse zu verhindern.
  • Sebastian Sichel von der rechten Partei Chile Podemos Más war bis Anfang des Jahres Minister unter Piñera. Weil er relativ unbekannt ist, versuchte er dieses Jahr, sich als gemäßigter Kandidat zu inszenieren, unterstützte aber die gewaltsame Unterdrückung von Protesten der Jugend und der indigenen Bauern durch das Militär. In der Stichwahl wird Sichel jetzt zur Wahl des Faschisten Kast aufrufen.
  • Die Christdemokratin Yasna Provoste war Ministerin unter Präsidentin Michele Bachelet, wurde aber im Jahr 2008 dauerhaft ihres Amtes enthoben, nachdem ein Beamter unter ihrer Aufsicht Millionen Dollar unterschlagen hatte. Von 2013 bis Mitte des Jahres war sie Kongressabgeordnete für die nordchilenische Bergbauregion Atacama, wo die Bergwerke trotz einer hohen Zahl von Covid-19-Fällen weiter betrieben wurden.

Zudem haben alle Kandidaten, von der extremen Rechten bis hin zu den Pseudolinken, der Wirtschaft stabile Verhältnisse um jeden Preis versprochen. Borics Wahlbündnispartner von der stalinistischen Partido Comunista (PC) haben sich große Mühe gegeben, alle Befürchtungen über ihre Rolle zu beschwichtigen: „Wir glauben, dass nur die Wahl von Boric unserem Land Stabilität auf hohem Niveau bringen wird“, erklärte PC-Präsident Guillermo Teillier gegenüber CNN. Teillier hofft verzweifelt auf einen Sitz im Senat.

Letzte Woche erklärte der Vorsitzende des chilenischen Industrieverbands Confederaction de la Produccion y del Comercio, Juan Sutil, sein Treffen mit den Kandidaten habe ein „sehr hohes Niveau“ gehabt. Er erwähnte besonders eine „große Mäßigung bei allen Vorschlägen, die wir gehört haben“.

Die Frage, die in kapitalistischen Kreisen so große Unruhe auslöst, lautet: Wird eine der konkurrierenden politischen Kräfte in der Lage sein, in einem Land für Stabilität zu sorgen, in dem aktuell extreme soziale Polarisierung und politische Instabilität herrschen?

Der erste Wahlgang spricht für sich selbst. Nur sieben Millionen bzw. 46,7 Prozent der 15 Millionen Wahlberechtigten haben am Sonntag ihre Stimme abgegeben. Davon stimmten 1,96 Millionen für Kast (13 Prozent der Wahlberechtigten) und 1,8 Millionen für Boric (12,1 Prozent der Wahlberechtigten). Damit müssen die beiden Kandidaten in die Stichwahl.

Noch außergewöhnlicher ist, dass die alte und zutiefst verhasste politische Kaste, die vor drei Jahrzehnten aus dem Übergang von der Militär- zur zivilen Herrschaft hervorgegangen ist, weiterhin vernichtende Wahlniederlagen erleidet. Weniger als sechs Prozent der Wahlberechtigten stimmten für Piñeras Kandidaten Sebastian Sichel, nur 5,4 Prozent für Yasna Provoste von der Mitte-Links-Koalition Unidad Constituyente.

Laut Umfragen liegt der Rückhalt für das Militär, die Polizei, die Gerichte, die Exekutive und Legislative, die rechten und die angeblich linken Parteien seit drei Jahren in Folge im niedrigen zwei- oder sogar einstelligen Bereich. Der Staat hat jede Glaubwürdigkeit verloren und steht vor einer historischen Regierungskrise.

Dass sich die Klassenverhältnisse in Chile geändert haben, wurde durch die kriminell nachlässige Politik der herrschenden Klasse gegenüber der Corona-Pandemie in aller Deutlichkeit offengelegt. Die brutale staatliche Unterdrückung der massiven antikapitalistischen Proteste im Jahr 2019 und die Gleichgültigkeit des Staats gegenüber dem Massensterben und den Infektionen durch den Virus in den letzten 18 Monaten haben für Unruhe und wachsende Militanz in der Arbeiterklasse gesorgt.

Der Gouverneur der Zentralbank erklärte im September in einer Rede vor dem Kongress, dass die Erwerbsbeteiligung heute niedriger ist als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre, während die Unternehmen bei ihren Beschäftigten eine zunehmend sinkende Bereitschaft zu längeren Arbeitszeiten feststellen. In einer anderen Studie berichtete ein großer Teil der Unternehmen, sie könnten freie Stellen nicht mehr besetzen, in einigen Fällen hätte sich überhaupt niemand beworben. Zudem haben im letzten Jahr Bergarbeiter, Beschäftigte im Gesundheitswesen und im öffentlichen Dienst, Lehrer, Hafenarbeiter und Einzelhandelspersonal Streiks und Proteste gegen unsichere Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne organisiert, bei denen sie sich teilweise über die korporatistischen Gewerkschaften hinwegsetzten und der Polizeibrutalität trotzten.

Der Economist, das Sprachrohr des britischen Imperialismus, erklärte am Freitag zusammenfassend über diese Krise: „Chile war einen Großteil dieses Jahrhunderts ein stabiles und berechenbares Land mit stetigem Wirtschaftswachstum und gemäßigter Politik. Außenstehende betrachteten es als Erfolgsgeschichte und Vorbild für Lateinamerika. Doch dieses stabile Chile ist vor zwei Jahren in einer Explosion massiver und teilweise gewalttätiger Proteste untergegangen.“

Die Londoner Wirtschaftsnachrichtenseite Argus schrieb: „Die polarisierten Wahlen, die zeitgleich mit einem kontroversen Prozess der Umschreibung der Verfassung aus der Ära Pinochet stattfinden, haben bereits inländische und internationale Investoren abgeschreckt. Die wachsende Nervosität wegen der Zukunft eines Landes, das lange Zeit als wirtschaftlich und politisch stabile Bastion galt...“

Der Nachrichtendienst Bloomberg schrieb: „Die Finanzmärkte schwanken seit einigen Monaten stark, während Chile über die Zukunft eines Wirtschaftsmodells debattiert, das in den 1970ern und 1980ern von den sogenannten Chicago Boys entworfen wurde. Diese waren Anhänger des Chicagoer Professors Milton Friedman, der sich für eine Politik der offenen Märkte einsetzte, einschließlich Deregulierung und Privatisierung.“

Als der Milliardär Sebastian Piñera 2017 mit der Unterstützung von nur einem Viertel der Wahlberechtigten die Präsidentschaftswahl gewann, war die Gesellschaft durch die jahrzehntelange Politik des „freien Marktes“ bereits zutiefst polarisiert.

In jenem Jahr berichtete die Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (ECLAC), dass Chiles herrschendes ein Prozent mehr als ein Viertel des Reichtums des Landes kontrollierte, die obersten zehn Prozent zusammen zwei Drittel. Die untere Hälfte der Bevölkerung, d.h. fast 18 Millionen Menschen, besaßen nur 2,1 Prozent des Nettovermögens.

Piñeras rechte Regierung versuchte, aus der politischen Lage Kapital zu schlagen. Dabei nutzte sie die Unsicherheit des Kleinbürgertums und die jahrzehntelange Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die nationalreformistischen pseudolinken Parlamentsfraktionen und die korporatistischen Gewerkschaften aus.

Mithilfe der Medienkonsortien, die den öffentlichen Diskurs mit reißerischen Berichten über Migrantenbanden und Drogenschmuggel vergifteten, übernahm Piñera Kasts fremdenfeindliches und autoritäres Programm. Er forderte Polizeistaats- und Law-and-Order-Maßnahmen, um die „steigende Kriminalität“ zu bekämpfen, eine harte Haltung zu „illegaler Immigration“ und ein Vorgehen gegen indigenen „Terrorismus“ im Süden des Landes.

Dieses Vorhaben wurde ihm jedoch zum Verhängnis, als die gewaltsamen Polizeieinsätze gegen studentische Aktionen des zivilen Ungehorsams in der breiten Masse der Arbeiterklasse, der Jugend und dem Kleinbürgertum tiefe Empörung auslösten.

Diese Erfahrung drückt sich in dem bewussten Versuch der Massen aus, ihre Unzufriedenheit mit den über Jahrzehnte entstandenen Problemen zum Ausdruck zu bringen. Zu diesen Erfahrungen gehört die hartnäckige soziale Ungleichheit, Armutslöhne und Armutsrenten, ein stark angeschlagenes öffentliches Gesundheits- und Bildungssystem, steigende Verschuldung, die allgegenwärtige Gewalt von Polizei und Militär, die Kriminalisierung von Sozialprotesten, die Unterdrückung der Forderungen der Indigenen, Vetternwirtschaft, Korruption und Diebstahl auf allen Ebenen des Staates.

Piñeras unmittelbare Reaktion bestand daraus, Pinochets Redewendung wiederzubeleben, er befände sich „im Krieg mit einem mächtigen Feind“. Erstmals seit der Rückkehr zur zivilen Herrschaft wurde der Ausnahmezustand und eine Ausgangssperre eingeführt und das mörderische chilenische Militär in den Straßen mobilisiert. Es kam zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen mit Tausenden Schwerverletzten, sowie zu Massenverhaftungen mit Vergewaltigung, Folter und Mord.

Dies steigerte die Empörung und Militanz der Bevölkerung jedoch nur noch weiter. Plötzlich kam es in ganz Chile monatelang zu antikapitalistischen Demonstrationen, an denen sich zeitweise die Hälfte der Bevölkerung beteiligte.

Zu diesem Zeitpunkt bat die bedrängte Regierung um Unterstützung bei der so genannten Opposition, die aus Christdemokraten, Partido por la Democracia, Partido Socialista, Partido Progresivo und dem pseudolinken Block Frente Amplio besteht. Im November 2019 verhandelten sie über eine Allparteienregierung.

Piñera reagierte auf eine existenzielle Bedrohung von unten genauso wie es die chilenische Bourgeoisie auch in anderen kritischen Momenten getan hat: Er setzte auf die korporatistischen Gewerkschaften und die chilenische „Linke“, um die Kämpfe der Arbeiterklasse zu desorientieren, abzulenken und ihr die Spitze zu brechen. Gleichzeitig baute er den Unterdrückungsapparat für den Einsatz gegen die Massen auf.

Seither haben sich die parlamentarischen „Linken“, Frente Amplio und vor allem die Stalinisten die Aufgabe gestellt, die explosiven Massenkämpfe in harmlose Appelle für Änderungen an der autoritären Verfassung abzuleiten.

Wenn sie die gefährliche Illusion verbreiten, ein paar Änderungen an der Verfassung der Republik könnten das Wesen des kapitalistischen Staates reformieren, verheimlichen sie die Tatsache, dass sie ein Instrument ist, das die politische Diktatur der Kapitalistenklasse verteidigt. Wenn diese sich durch eine Revolution bedroht fühlt, wird sie das Parlament und die verfassungsmäßigen Normen aus dem Weg räumen und mit Gewalt regieren.

Die Theorie des nationalen Exzeptionalismus stammt von der Kommunistischen Partei PC. Sie besagt, dass Chile auf einer angeblich demokratischen und parlamentarischen Tradition basiere, und dass sich seine Institutionen und sein Unterdrückungsapparat an verfassungsmäßige Normen halten würden. Diese Theorie ist politisch für den Militärputsch von 1973 gegen die Koalitionsregierung von Salvador Allende verantwortlich, der den Auftakt zur brutalen Unterdrückung der chilenischen Arbeiterklasse bildete.

Heute propagieren sie eine neue Version dieser Theorie, indem sie die Politik des kleineren Übels vertreten. Sie argumentieren, man müsse die Oppositionsparteien wählen, um die Machtübernahme der Rechten zu verhindern.

Die WSWS vertritt zu diesen Wahlen die prinzipielle Position, dass keiner der Kandidaten die politischen Interessen der Arbeiterklasse repräsentiert. Kast und die Gefahr des Faschismus können nicht an der Wahlurne abgewehrt werden, sondern nur durch den Kampf zum Aufbau von Verteidigungskomitees, die die Arbeiterklasse schützen. Dies muss Teil des Kampfs für die sozialistische Revolution sein.

Die wichtigste Aufgabe ist heute der Aufbau einer revolutionären Partei der Arbeiterklasse auf der Grundlage der Prinzipien des sozialistischen Internationalismus, den nur das Internationale Komitee der Vierten Internationale verteidigt.

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