Trotz explodierender Fallzahlen in Deutschland und ganz Europa erklärt die Bundesregierung die Pandemie für beendet. Anfang der Woche wiederholte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seine Forderung, die sogenannte „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ am 25. November auslaufen zu lassen und damit die die meisten noch verbliebenen Schutzmaßnahmen zu beseitigen.
Seit der ersten Welle der Pandemie im März 2020 hatte der Bundestag die „epidemische Lage“ regelmäßig verlängert. Sie bildet laut dem geltenden Infektionsschutzgesetz die rechtliche Grundlage für bundesweite Verordnungen wie die Maskenpflicht oder Abstands- und Kontaktbeschränkungen. Damit soll nun Schluss sein.
Der Vorstoß, der im Wesentlichen der Linie der rechtsextremen AfD entspricht, wird von allen Bundestagsparteien unterstützt. Vertreter der Linkspartei begrüßen ihn genauso wie SPD, FDP und Grüne, die dabei sind, die nächste Bundesregierung vorzubereiten. Ein am Mittwoch veröffentlichtes Eckpunktepapier der drei Parteien zur „Beendigung der epidemischen Lage“ macht deutlich, dass eine „Ampel“ die „Profite vor Leben“-Politik unvermindert fortsetzen würde.
„Die epidemische Lage von nationaler Tragweite nach § 5 IfSG endet mit Ablauf des 24. November 2021. Sie wird nicht verlängert. Denn ihre Voraussetzungen liegen nicht mehr vor“, heißt es darin. Und weiter:
„Der eingriffsintensive Maßnahmenkatalog aus § 28a Abs. 1 IfSG wird nach Beendigung der epidemischen Lage im Bundesgebiet keine Anwendung mehr finden. Wir werden auch die derzeit noch im Gesetz vorgesehene Möglichkeit streichen, diesen Katalog gemäß § 28a Absatz 7 Satz 1 IfSG nach Ablauf der epidemischen Lage in einzelnen Bundesländern durch den
jeweiligen Landtag auf Landesebene für anwendbar zu erklären.“
Das ist unmissverständlich. Obwohl die Pandemie erneut um sich greift, haben sich SPD, FDP und Grüne in ihren geheim stattfindenden Koalitionsgesprächen darauf verständigt, dass es in Zukunft so gut wie keine Maßnahmen zur Eindämmung des Virus mehr geben wird. Damit provozieren sie eine Situation wie im vergangenen Winter, als das Gesundheitssystem auf Grund rapide steigender Fallzahlen nahezu kollabierte und allein in Deutschland Zehntausende unter schrecklichen Bedingungen starben.
Bereits jetzt ist die Lage katastrophal. Die bundesweite Sieben-Tage-Inzidenz bei den Corona-Neuinfektionen zeigt täglich steil nach oben. Laut Robert Koch-Institut (RKI) erhöhte sich der Wert am Freitag auf 139,2. Am Vortag hatte er noch bei 130,2 gelegen, vor einer Woche bei 95,1. Auch die Todeszahlen schnellen wieder hoch. In den vergangenen vier Tagen starben 489 Menschen. Die offizielle Zahl der Corona-Toten stieg damit auf 95.606.
Die Krankenhäuser stehen am Rande der Überlastung. „Wir befinden uns in einer kritischen Situation der Pandemie“, erklärte der Hauptgeschäftsführer der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Die Zahl der mit einer Covid-Infektion im Krankenhaus versorgten Patienten sei innerhalb einer Woche stark gestiegen. „Wenn diese Entwicklung anhält, haben wir schon in zwei Wochen wieder 3.000 Patienten auf Intensivstation“, warnte er. Momentan liegen dem DIVI-Intensivregister zufolge mehr als 1.800 Menschen auf der Intensivstation und knapp 4.300 Corona-Patienten auf der Normalstation.
Offiziell gerechtfertigt wird die Beendigung der Maßnahmen mit der Impfquote. Tatsächlich sind aber nur etwa zwei Drittel der deutschen Bevölkerung vollständig geimpft. Fast 30 Millionen Menschen, darunter alle Kinder unter 12 Jahren, sind dem Virus völlig schutzlos ausgeliefert. Hinzu kommt die Gefahr von Impfdurchbrüchen. Von Anfang Februar bis Ende voriger Woche registrierte das RKI 117.763 wahrscheinliche Impfdurchbrüche. Trotzdem haben laut RKI erst 1,9 Millionen eine dritte Booster-Impfung erhalten.
Trotz der Impfungen ist die Lage in Europa infolge der rücksichtslosen Öffnungspolitik schlimmer als zur gleichen Zeit im vergangenen Jahr. In der letzten Woche wurden europaweit 1,4 Millionen COVID-19-Fälle registriert, 18 Prozent mehr als in der Vorwoche. Im gleichen Zeitraum wurden auch 20.503 Todesfälle gemeldet, ein Anstieg um 17 Prozent. Damit sind in Europa offiziell fast 1,3 Millionen Menschen an Covid-19 gestorben. Und wie in den USA oder Indien liegen die tatsächlichen Todeszahlen weitaus höher.
Besonders dramatisch ist die Situation in Osteuropa. Russland und die Ukraine verzeichnen nahezu täglich neue Rekordwerte bei den Infektions- und Todeszahlen. In Russland starben am Freitag 1.163 Menschen an Covid-19, in der Ukraine 648. Die drei baltischen Staaten gehören zu den Ländern mit den höchsten Inzidenzen weltweit. In Lettland stand die Zahl der Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb einer Woche am gestrigen Freitag bei 934,5, in Estland bei 847,8 und in Litauen bei 747.
Auch in Rumänien und Bulgarien ist die Lage mit Inzidenzen von etwa 500 außer Kontrolle. In Rumänien, einem Land mit rund 19 Millionen Einwohnern, werden täglich zwischen 13.000 und 15.000 Neuinfektionen verzeichnet. Wegen der Überlastung des Gesundheitssystems mussten am Freitag rund 30 Patienten ins benachbarte Ungarn verlegt werden. Die Situation ist so dramatisch, dass sich die Regierung in Bukarest gezwungen sah, einige beschränkte Maßnahmen zu ergreifen. Ab Montag gilt eine landesweite Maskenpflicht, größere Veranstaltungen wie Hochzeiten und Konferenzen sind im November untersagt.
Dass die „Ampel“-Koalitionäre in dieser Situation die Beendigung aller Corona-Schutzmaßnahmen vorbereiten, sagt alles über den Klassencharakter der nächsten Bundesregierung. Sie bereitet sich darauf vor, die „Profite vor Leben“-Politik noch aggressiver umzusetzen als die Große Koalition zuvor. Bereits in ihrem Sondierungspapier verkündeten SPD, FDP und Grüne an der Schuldenbremse festzuhalten und die „Wettbewerbsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu erhöhen.
Die Botschaft ist klar: die neue Regierung betrachtet es als ihre Aufgabe, die gigantischen Summen, die im Rahmen der Corona-Notpakete im vergangenen Frühjahr an die großen Banken und Konzerne geflossen sind, wieder aus der Arbeiterklasse herauszupressen. Wissenschaftlich notwendige Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie – allen voran die Schließung von Schulen und nicht lebensnotwendiger Betriebe – sind mit dieser Agenda nicht vereinbar.
Ein weiterer Faktor hinter der rücksichtslosen Durchseuchungspolitik sind die geostrategischen und wirtschaftlichen Interessen des deutschen Imperialismus, der sich gegen seine internationalen Rivalen positioniert und massiv aufrüstet. Man wolle „dafür Sorge tragen, dass Europa auf der Grundlage solider und nachhaltiger Staatsfinanzen gemeinsam wirtschaftlich stark aus der Pandemie herauskommt“, heißt es im Sondierungspapier. Dafür sei „eine verstärkte Zusammenarbeit der nationalen europäischen Armeen“ genauso notwendig wie die Verbesserung der Ausrüstung der Bundeswehr.
Die World Socialist Web Site und das Internationale Komitee der Vierten Internationale (IKVI) haben immer betont, dass der Kampf gegen die Pandemie nicht nur eine medizinische Frage ist. Er erfordert – genauso wie der Kampf gegen soziale Ungleichheit, Krieg und Diktatur – das unabhängige politische Eingreifen der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.
In ihrem Wahlaufruf zu den Bundestagswahlen hatte die Sozialistische Gleichheitspartei erklärt:
„Der Kampf um die Eindämmung der Pandemie entwickelt sich zu einem Klassenkampf, der immer deutlicher zeigt, dass die großen Klassen der Gesellschaft – die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse – unversöhnlich entgegengesetzte Interessen haben. Die offizielle Pandemiepolitik stellt Profit vor Leben. Wir fordern:
Sofortiger Lockdown aller nicht lebensnotwendigen Betriebe bis die Pandemie unter Kontrolle ist! Voller Lohnersatz für alle betroffenen Arbeiter sowie echte Hilfen für Selbstständige und umfassende Unterstützung für arme Haushalte! Ein global koordiniertes Impfprogramm statt Impfstoff-Nationalismus und -Geschäftemacherei!“
Die mörderische Durchseuchungspolitik der herrschenden Klasse in Deutschland und weltweit, die zig weitere Millionen Menschenleben bedroht, unterstreicht die Dringlichkeit dieses Programms.