Israelisches Militär setzt Luftangriffe in Gaza fort und bereitet „unbefristete“ Operation vor

Am Dienstag flog die israelische Luftwaffe 140 Angriffe auf den Gazastreifen, bei denen zwei weitere Palästinenser getötet wurden.

Die Zahl der Toten steigt damit auf 40, darunter neun Kinder und eine Frau. Von den Todesopfern stammen 35 aus dem Gazastreifen, die restlichen fünf aus Israel. Dazu kommen mindestens 122 Verwundete, darunter 41 Kinder. Mehr als 12 Prozent der Verwundeten sind laut palästinensischem Gesundheitsministerium „schwer“ verletzt.

Eins der Angriffsziele, ein 13-stöckiges Wohnhaus in Gaza-Stadt, in dem sich auch ein Büro der politischen Führung der Hamas befindet, wurde zerstört.

Ein Sanitäter behandelt einen verwundeten Jungen nach einer Explosion in Beit Lahiya im Norden des Gazastreifens während des Konflikts zwischen der Hamas und Israel, 10. Mai 2021 (AP Photo/Mohammed Ali)

Der Leiter der staatlichen Informationsstelle in Gaza, Salameh Marouf, erklärte gegenüber Al Jazeera, Israel habe „vorsätzlich Versorgungseinrichtungen wie die Wasserentsalzungsanlage im Norden des Gazastreifens angegriffen, sodass sie außer Betrieb ist“.

Der Sprecher des israelischen Militärs, Oberstleutnant Jonathan Conricus, erklärte, bei den jüngsten Angriffen mit Kampfflugzeugen und unbemannten Drohnen seien 15 Aufständische getötet worden. Über zivile Todesopfer äußerte er sich nicht, er fügte nur zynisch hinzu: „Wir tun alles, um Kollateralschäden zu vermeiden.“ Die militärischen Angriffe befänden sich „noch in der Anfangsphase“, sagte Conricus und deutete an, dass Ermordungen von Hamas-Führern geplant sind.

Im Gazastreifen leben fast zwei Millionen Palästinenser, von denen die meisten jünger als 25 Jahre alt sind. Die Region leidet seit 14 Jahren unter einer verbrecherischen Blockade, drei mörderischen Kriegen – der letzte davon 2014 – und zahlreichen Angriffen durch Israel.

Israels jüngste Angriffe auf den Gazastreifen begannen am Montagabend und waren eine Reaktion auf die Forderung der Hamas, die Sicherheitskräfte von der Jerusalemer al-Aqsa-Moschee und aus dem Stadtviertel Scheich Jarrah abzuziehen.

Die al-Aqsa-Moschee ist die drittheiligste Stätte des Islam. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu hat während der einmonatigen Fastenzeit des Ramadan, die am 12. April begann, mehrfach den Einsatz von Sicherheitskräften auf dem Gelände der al-Aqsa-Moschee angeordnet. Keiner der Verantwortlichen hat auch nur versucht die Stürmung des Geländes durch Sicherheitskräfte zu rechtfertigen. Während des Einsatzes trampelten sie auf Gebetsmatten herum und schossen mit Gummigeschossen und Blendgranaten auf Betende. Dabei wurden 520 Palästinenser verwundet, 330 mussten im Krankenhaus behandelt werden.

Polizeichef Koby Shabtai erklärte gegenüber Channel 12 News, die Polizei sei auf dem Gelände der Moschee „zu nachsichtig“ gegenüber den Palästinensern gewesen und werde jetzt härter vorgehen.

Die Haager Konvention von 1954, die Israel unterzeichnet hat, verbietet solche militärischen Überfälle auf religiöse Einrichtungen. Im Jahr 1981 erklärte die UNESCO die Jerusalemer Altstadt, in der sich die Moschee befindet, zu einem Teil des Weltkulturerbes.

Die Stürmung der al-Aqsa-Moschee ereignete sich vor dem Hintergrund von Demonstrationen gegen den zunehmenden Landraub durch israelische Siedler, die Ausweitung von Siedlungen und die geplante Vertreibung von Palästinensern aus Scheich Jarrah im Norden der Jerusalemer Altstadt. Der Vorsitzende der Partei Religiöser Zionismus, Bezalel Smotrich, und Itamar Ben-Gvir von der Partei Stärke für Israel veranstalteten provokante Demonstrationen, bei denen u.a. „Tod den Arabern“ skandiert wurde. Die Pandemie hat die Lage im stark vom Tourismus abhängigen Ost-Jerusalem weiter verschlimmert und dazu geführt, dass Tausende junger Menschen kein Einkommen mehr haben.

Der Zeitpunkt der Angriffe am Jerusalemtag, dem Jahrestag von Israels Annektierung Ostjerusalems von Jordanien nach dem Krieg von 1967, und vor dem geplanten Flaggenmarsch der israelischen Siedlergruppen sowie rechtsextremer Kräfte durch arabische Stadtviertel wurde gewählt, um einen Krieg gegen die Palästinenser auszulösen.

Es kam zu wütenden Demonstrationen palästinensischer Israelis in mehrheitlich arabischen Städten wie Lod, Ramle, Isawiyah, Jaffa, der nordisraelischen Hafenstadt Haifa, Nazareth und der Zentralregion um Umm al-Fahm sowie in Ramallah im besetzten Westjordanland, die von der Polizei unterdrückt wurden. In Lod wurde ein Palästinenser bei gewaltsamen Zusammenstößen von einem jüdischen Israeli erschossen. Am Dienstag traten palästinensische Israelis in einen landesweiten Streik, was eine deutliche Veränderung der Haltung der überwiegend jungen Demonstranten bedeutet. Bisher hatten sie sich nicht aktiv mit den Palästinensern in Ostjerusalem und den besetzten Gebieten solidarisiert.

Im Vorfeld der Luftanschläge vom Dienstag hatte die Hamas als Reaktion auf Israels Angriffe am Montagabend Raketen auf die südisraelische Stadt Ashkelon abgefeuert. Zwei Frauen wurden getötet und Dutzende verletzt.

Das Ausmaß des Hightech-Bombardements macht deutlich, dass die jüngsten Angriffe der stärksten Militärmacht der Region auf den Gazastreifen den Beginn von Israels viertem Krieg gegen die eingekreiste Enklave markieren. Die israelische Regierung wird diesen Feldzug – mit dem Namen „Wächter der Mauern“ – noch verschärfen und ausweiten.

Netanjahu erklärte am Montagabend nach dem Einschlag der ersten Raketen aus dem Gazastreifen, die Palästinenser hätten „eine rote Linie überschritten“, Israel werde „mit großer Härte“ reagieren.

Am Dienstag kündigte er eine Verschärfung des Angriffs an und erklärte: „Wir haben nach Bewertung der Lage entschieden, sowohl die Stärke als auch die Häufigkeit der Angriffe zu erhöhen.“

Er wies alle Forderungen zurück, die Lage zu entschärfen. Der ägyptische Außenminister erklärte bei einer Krisensitzung der Arabischen Liga, Netanjahu habe auch nicht auf das Angebot Ägyptens reagiert, zwischen Israel und dem Gazastreifen zu vermitteln.

Israels Medien und Politiker jeder Couleur stellten sich hinter Netanjahu und die Haltung seiner Partei, Israel würde sich nur verteidigen. Oppositionsführer Yair Lapid, der eine Regierungskoalition bilden will, um Netanjahu abzulösen, forderte noch brutalere Angriffe auf den Gazastreifen.

Verteidigungsminister Benny Gantz genehmigte am Dienstag die Mobilisierung von 5.000 Reservisten, um „die Verteidigung der Heimatfront zu stärken“. Er wies den Stabschef der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF), Generalleutnant Aviv Kochan, an, die Angriffe auf die Hamas und die Bewegung Islamischer Dschihad im Gazastreifen fortzusetzen, die Heimatfront bereitzumachen und „falsche Behauptungen“ der Palästinenser zurückzuweisen.

Gantz bewilligte die Anforderung des Ministers für öffentliche Sicherheit, Amir Ohana, acht Kompanien der Grenzschutzpolizei als Verstärkung einzusetzen. Militär und Polizei haben die Grenzübergänge in den Gazastreifen und die Straßen entlang der Enklave gesperrt.

Aviv Kochavi erklärte, alle Einheiten der IDF müssten sich auf eine umfassendere und unbefristete Militäraktion vorbereiten, die auf zusätzliche Ziele ausgedehnt werden wird. Hidai Zilberman, ein Sprecher der IDF, warnte, das israelische Militär habe „den Fuß auf dem Gaspedal“ und werde seine Angriffe auf den Gazastreifen ausweiten. Das Militär hat außerdem die Anzahl der Raketenbatterien seines Iron-Dome-Abwehrsystems in Zentral-Israel ausgeweitet, als Vorbereitung auf weitere Raketenangriffe.

Netanjahus Kriegsvorbereitungen gegen die Palästinenser laufen vor dem Hintergrund seiner gescheiterten Versuche zur Bildung einer neuen Regierungskoalition, die er braucht, um sich einem Gerichtsverfahren wegen Korruption zu entziehen. Er hat darauf spekuliert, dass ein neuer Aufstand der Palästinenser und ein Krieg mit der Hamas verhindern könnte, dass sich sein Rivale Lapid die nötige Unterstützung seiner potenziellen rechten Partner Naftali Bennett von dem Bündnis Jamina und Mansour Abbas Vereinigter Arabischer Liste sichern kann. Damit könnte Netanjahu eine fünfte Parlamentswahl erzwingen und/oder einen Ausnahmezustand, in dem er weiterhin Ministerpräsident bleiben könnte.

Washington und die europäischen Mächte haben ihm ihre weitere Unterstützung zugesichert, die Raketenangriffe aus dem Gazastreifen auf Israel verurteilt und beide Seiten zur Zurückhaltung aufgerufen. Dabei verglichen sie die Geschosse aus dem Gazastreifen absurderweise mit den hochmodernen Waffen Tel Avivs. US-Außenminister Antony Blinken, der sich bald in Washington mit dem jordanischen Außenminister Ayman Safadi trifft, forderte die sofortige Einstellung der Raketenangriffe aus dem Gazastreifen und erklärte: „Ich mache mir große Sorgen wegen dieser Raketenangriffe.“

Netanjahu wurde auch durch seine neuen arabischen Verbündeten gestärkt, die ihre Beziehungen mit Israel normalisiert haben, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain (und damit stillschweigend auch deren Förderer Saudi-Arabien), Marokko und der Sudan. Sie haben lediglich pro forma Bedenken geäußert.

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