Der Regisseur Christian Schwochow und der Drehbuchautor Thomas Wendrich haben eines der fesselndsten und bedeutsamsten Werke des neueren deutschen Kinos geschaffen.
Schwochow, der häufig mit Wendrich zusammenarbeitet, verfügt über ein beeindruckendes Repertoire, einschließlich dem ersten Teil der Trilogie „Mitten in Deutschland: NSU“ (2016). Der Film untersucht die Ursprünge und Entwicklung des neo-faschistischen Trios, das mit Unterstützung des Verfassungsschutzes zehn Morde und eine Reihe von Banküberfällen ausführte.
Zu seinen anderen Filmen gehören der Spielfilm „Paula“ über das Leben der berühmten expressionistischen Malerin Paula Modersohn-Becker; „Deutschstunde“ (2019), eine Neuverfilmung des Romanklassikers von Siegfried Lenz; und die erste Staffel der Fernsehserie „Bad Banks“ (2018), die die schändlichen Machenschaften in der rücksichtslosen Finanzwelt verarbeitet.
Schwochows neuester Film „Je suis Karl“ setzt sich mit dem Aufkommen rechtsextremistischer Bewegungen in Deutschland und Europa auseinander, die ihr Bestes geben, um dem Faschismus für die neue Generation einen modernen und hippen Anstrich zu verpassen. Der Titel des Films ist eine Anspielung auf den Slogan „Je suis Charlie” („Ich bin Charlie”) und die rechte, anti-islamistische Kampagne, die durch Medien und führende Parteien in Anschluss auf die Terrorattacke auf das Pariser Redaktionsbüro der Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 geführt wurde.
„Je suis Karl“
In einem Interview zu „Je suis Karl“ bemerkt Schwochow, dass ihm im Laufe seiner Recherche für den Film eine neue, aufkommende Generation von Rechten aufgefallen ist, mit einem „neuen Look”. Er kommentiert: „Es genügt auf die Äußerlichkeiten zu achten, Dinge wie die Kleidung derer, die den NSU-Prozess in München besucht haben. Dann kam die Alternative für Deutschland, die Flüchtlingskrise und plötzlich gab es Aufruhr und eine ganz neue Stimmung in Deutschland.”
Schwochow spricht von den jungen, modisch gekleideten, mehrsprachigen Männern und Frauen, die oft an Europas besten Universitäten ausgebildet wurden und rechtsextremistische Ideologie als modernen, patriotischen Lifestyle verkaufen. Wendrich fügt im gleichen Interview hinzu: „Und sie beginnen nicht erst aufzutreten, sie sind schon da! Manche haben wichtige Jobs, sitzen in Ausschüssen oder Leitungskomitees, in kommunalen Parlamenten und in Polizeibehörden.”
„Je suis Karl“ beginnt mit einem deutschen Ehepaar, das Yusuf – einem Flüchtling aus einem Kriegsgebiet im Nahen Osten, der in einem osteuropäischen Lager gestrandet war – nach Deutschland schmuggelt. Das Paar jubelt, als das Auto ohne Probleme die Grenze überquert.
Später wechselt die Szene nach Berlin, wo Alex ein Paket für seinen Nachbar annimmt, das von einem mysteriösen Paketboten geliefert wurde. Das Paket enthält eine Bombe welche in Alex Wohnung explodiert und seine Zwillingssöhne mitsamt seiner Frau tötet. Seine jugendliche Tochter Maxi (Luna Wendler) war zufällig gerade nicht in der Wohnung und überlebte. So wie es sich herausstellt war der mysteriöse Lieferbote Karl (Jannis Niewöhner), ein charmanter, gut-aussehender junger Mann – und militanter Rechtsextremer.
Während Nachbarn und Vorbeigehende zum Gedenken an die Opfer Blumen ablegen, werden Bilder vom Bombenanschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 eingeblendet. Der 24-jährige tunesische Attentäter Anis Amri hatte wie die NSU-Terroristen seinen Angriff unter dem Auge des Verfassungsschutzes und der Polizei ausgeführt.
In „Je suis Karl“ stürzt sich die deutsche Boulevardpresse sofort auf den Vorfall und veröffentlicht, wie vorauszusehen, sensationsheischende Artikel, die die Schuld für den Anschlag auf Immigranten und Islamisten schieben. Es beginnt eine Hexenjagd auf Immigranten, obwohl es kaum Hinweise auf den Täter gibt, abgesehen von Beschreibungen, die auf Karls Verkleidung basieren.
Karl, der damit sein Ziel erreicht hat, geht zur nächsten Phase seines Plans über – die Rekrutierung der zutiefst verstörten Maxi in seine europaweite faschistische Bewegung. Die nächste Szene findet in Prag statt, wo Karl und Gleichdenkende auf einer internationalen Re:Generation „Sommerschule” für Rechtsextreme teilnehmen. Die Teilnehmer sind jung, medienerfahren und attraktiv. Karl addressiert sie im Stil eines High-tech-Gurus, der zu seiner Fangemeinde spricht. Seine Botschaft: die Notwendigkeit einer neuen europäischen Bewegung einer radikalen Jugend, die die alten Eliten stürzen und nationale Kulturen vor Immigranten schützen soll, oder wie es in der giftigen Sprache der Neuen Rechten heißt, vor dem „Großen Austausch”.
In einer Schlüsselszene ruft eine Teilnehmerin „Sieg Heil!”, um ihre Zustimmung mit Karls Botschaft auszudrücken. Er reagiert sofort und weist die junge Frau zurecht: direkte Berufungen auf den Hitlerfaschismus seien fehl am Platz. „Das war gestern, komm drüber hinweg.” Sie planen es anders zu machen, verkündet er.
In einer anderen Szene während dem Prager Treffen nimmt eine Frau am Dreh eines Propagandafilms für die neue europäische Bewegung Teil. Sie schildert vor der Kamera von der furchtbaren Erfahrung, von einem Immigranten vergewaltigt zu werden. Nach dem Dreh versucht Maxi sie zu trösten. Keine Sorge, sagt die Frau, ich wurde nie vergewaltigt, aber diese Dinge passieren und das ist die Art Propaganda, die diese Bewegung braucht. Keine Lüge ist zu niederträchtig, keine Provokation zu viel, um den Zwecken der faschistischen Bewegung zu dienen.
Die Handlung wechselt nach Frankreich zu einem Treffen Rechtxextremer, die große Ähnlichkeiten zur französischen, 2012 gegründeten Génération Identitaire (Identitäre Generation) aufweist, die enge Verbindungen zu Marine Le Pen’s Rassemblement National (ehemals Front National) aufweist. In Anlehnung an das Vokabular mancher reaktionären Denker in der deutschen Geschichte, wie des Philosophen Martin Heidegger, offenbart Karl gegenüber Maxi seinen Herzenswunsch – einen bedeutungsvollen Tod!
Der Film endet mit einer terroristischen Provokation in Straßburg im französischen Elsass, die darauf abzielt, einen rechtsextremen Putsch auszulösen. Die Parallelen zum von Faschisten angeführten Putschversuch in den USA am 6. Januar sind augenfällig.
Auch andere Elemente des Films erinnern an wahre Ereignisse. Ein faschistisches Mitglied der Bundeswehr – bekannt unter dem Namen Franco A. – plante, wie Karl im Film, sich als Flüchtling zu verkleiden, um einen Terroranschlag auszuführen, der die Bevölkerung aufpeitschen und eine hysterische Reaktion durch Politiker und die Medien hervorrufen würde. Der erfundene Vergewaltigungsvorwurf lässt an die Kölner Silvesternacht 2015 denken, als Politiker und Medien eine hysterische Kampagne gestützt auf Vorwürfe sexueller Übergriffe durch Migranten entfachten, die sich später als größtenteils haltlos erwiesen.
In Interviews zum Film erklärt Schwochow, dass „Je suis Karl“ als Warnung verstanden werden soll. Die Geschichte könne sich wiederholen, und jegliche Unterschätzung rechtsextremer Figuren wie Donald Trump oder faschistischer Bewegungen, Parteien und Regierungen in Europa, berge gewaltige Gefahren.
Wie sie selbst sagen, haben Wendrich und Schwochow sich nach ihren Recherchen zu Ideologie und Aktivitäten der Neuen Rechten entschlossen, „ihre künstlerischen Ansichten mit dem realen Leben in Einklang zu bringen”. Ihr neuer und höchst zeitgemäßer Film „Je suis Karl“ ist bewegend und verdient ein breites internationales Publikum.
„Herr Bachmann und seine Klasse“
Ein verdienter Gewinner des Silbernen Bären Preis der Jury war der 217-minütige Dokumentarfilm „Herr Bachmann und seine Klasse“. Der Film ist eine Hommage an all jene Pädagogen in Deutschland und weltweit, die sich der Bereicherung des Lebens von Kindern und der Erweiterung ihrer Horizonte widmen. In den Pressenotizen zum Film, der über mehrere Jahre hinweg von Maria Speth während wiederholter Besuche im Klassenraum gefilmt wurde, wird Dieter Bachmann als „Ex-Revolutionär, Aussteiger, Folksänger und Bildhauer” beschrieben.
Bachmann unterrichtet zwölf bis vierzehn Kinder an einer Schule in einer kleinen, industriellen Stadt namens Stadtallendorf in Mittelhessen. Zirka siebzig Prozent der 21.000 Einwohner haben Migrationshintergrund, und diese Mischung spiegelt sich in Bachmanns Klassenzimmer wider, wo neun verschiedene Nationalitäten vertreten sind.
In der ersten Szene versammeln sich die müden Kinder frühmorgens zum Beginn einer neuen Woche. Herr Bachmann, mit einem AC/DC-T-Shirt und seiner obligatorischen wollenen Mütze, bemerkt ihre Müdigkeit und schlägt den Kindern „einen Tauchgang” vor – d.h. die Köpfe auf die Tische zu legen, fünf Minuten zu schlafen und sich zu sammeln.
Dann beginnt die Arbeit für Herrn Bachmann, der spielerisch und neckend Antworten von seiner Klasse herauskitzelt, immer bedacht, die Thematik so ansprechend und relevant wie möglich für das Leben der Kinder zu machen. In den ersten zehn Minuten des Films bringen uns die Kinder bei, wie man „Ich liebe dich” in fünf verschiedenen Sprachen sagt. Nicht weit von Bachmanns Schreibtisch sieht man seine Gitarre, die er immer wieder spontan ergreift, um mit seiner Klasse zu musizieren und zu singen.
Herr Bachmann zeigt den Kindern die notwendigen Grenzen, viel wichtiger jedoch sind Lob und Ermutigung sowie ein ernsthaftes Interesse für ihre Vorgeschichte und Herkunft. In Besprechungen mit Kollegen argumentiert Bachmann leidenschaftlich im Interesse der Kinder und bemüht sich, ihnen die bestmöglichen Chancen für ihre weitere Entwicklung zu verschaffen.
„Herr Bachmann und seine Klasse“ wurde vor der COVID-19-Pandemie gedreht. Inmitten der momentanen Krise und der dritten Welle der Pandemie macht der Film auf die wirklich unverzichtbaren Arbeitskräfte der Gesellschaft aufmerksam. Unter Bedingungen, wo sie von den Behörden zur Arbeit verpflichtet werden und somit eine Infektion riskieren, verdienen sie den größtmöglichen Respekt, Interesse und Unterstützung. Die breite Solidarität der Lehrer mit Kindern, die einen sehr unterschiedlichen kulturellen Hintergrund haben, ist zugleich ein mächtiges Gegenmittel für den giftigen Nationalismus der Neuen Rechten, der in „Je suis Karl“ so plastisch dargestellt wurde.