Brasilien hat am Mittwoch, den 24. März, die düstere Schwelle von 300.000 Covid-19-Toten überschritten. In jedem Bundesstaat und jeder Region des Landes zahlt die brasilianische Bevölkerung einen entsetzlichen Blutzoll für die kriminelle Gleichgültigkeit der herrschenden Elite.
Das Jahr 2021 ist noch keine drei Monate alt und schon jetzt haben in dieser kurzen Zeit mehr als 100.000 Brasilianer ihr Leben durch Covid-19 verloren. Die Infektionszahlen sind seit Beginn des Jahres sehr schnell angestiegen: Die durchschnittliche Zahl der täglichen Infektionen ist von 36.000 auf über 77.000 gestiegen. Und die Zahlen steigen weiter an und haben am Donnerstag einen Rekord von 100.158 täglichen Infektionen erreicht.
Im ganzen Land hat die ungebremste Ausbreitung des Virus zum „größten Gesundheits- und Krankenhaus-Kollaps der Geschichte“ Brasiliens geführt, so das Forschungsinstitut für öffentliche Gesundheit, Fiocruz. Tausende von Patienten im kritischen Zustand warten auf ein Bett auf der Intensivstation. Rund 900 Personen sind in Paraná auf der Warteliste, 750 im Großraum São Paulo, 700 in Minas Gerais, 500 in Rio de Janeiro, 500 in Ceará, 400 in Goiás und Hunderte weitere in praktisch jedem Bundesstaat Brasiliens.
Die Ärzte sind schon jetzt dazu gezwungen, Entscheidungen zu treffen, wer eine Behandlung erhalten kann und wer sterben muss. Gleichzeitig droht die unmittelbare Gefahr, dass die Erschöpfung der Krankenhausvorräte – einschließlich des medizinischen Sauerstoffs und der Medikamente für Intubationen – die Kapazität zur Versorgung derjenigen, die es in ein Krankenhausbett geschafft haben, ernstlich in Frage stellt.
Die Aussichten für die kommenden Wochen sind erschreckend. Die Forscher von Fiocruz warnen, dass Brasilien, wenn nicht sofortige Maßnahmen ergriffen werden, bis April einen Durchschnitt von 4.000 bis 5.000 Todesfällen pro Tag erreichen werde.
Doch Brasiliens Katastrophe wirkt weit über die Landesgrenzen hinaus, für deren Überquerung das Coronavirus weder Pass noch Visum benötigt. Am Mittwoch warnte die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO) vor der verheerenden Bedrohung, die die wachsende Pandemie in Brasilien für die benachbarten südamerikanischen Länder darstellt.
Die Regionen in Venezuela, Peru und Bolivien, die an den nördlichen Teil Brasiliens grenzen, haben in den letzten Tagen einen starken Anstieg der Fälle gemeldet. Im Süden Brasiliens steht Paraguay vor einem Krankenhauskollaps, und Uruguay, das während der ersten Welle der Pandemie außergewöhnlich niedrige Zahlen aufwies, leidet unter einer rasanten Eskalation von Infektionen und Todesfällen.
Die grenzüberschreitende Verflechtung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens dieser Länder unterläuft die Versuche der Regierungen, ihre Bevölkerung durch Grenzkontrollen und Einreisebeschränkungen für Brasilianer abzuschotten. Darüber hinaus hat sich die infektiösere brasilianische P.1-Variante mittlerweile zum Haupttreiber der Explosion in Brasilien entwickelt. Sie hat sich auch weit in die Nachbarländer sowie in andere Teile der Welt ausgebreitet.
Das Versagen, die Ausbreitung der Pandemie in Brasilien unter Kontrolle zu bringen, hat nicht nur zu einer beschleunigten Vermehrung dieses hochinfektiösen Stammes geführt, sondern verwandelt das Land in ein Freiluftlabor für die Entstehung weiterer Covid-19-Mutationen. Dadurch könnte ein neues Virus entstehen: ein noch ansteckenderes und tödlicheres Sars-CoV-3.
Eine kürzlich veröffentlichte Studie einer Covid-19-Forschergruppe des Fiocruz identifizierte relevante Mutationen in 11 Sequenzen von SARS-CoV-2, die aus fünf verschiedenen brasilianischen Bundesstaaten stammen. Die Wissenschaftler schlussfolgern: „Diese Ergebnisse stützen die These, dass die anhaltende, weit verbreitete Übertragung von SARS-CoV-2 in Brasilien neue virale Linien erzeugt, die möglicherweise noch resistenter gegen Neutralisierung sind als die bereits bestehenden Varianten.“
Diese verheerende Entwicklung der Krankheit stellt für die brasilianische und die Weltbevölkerung eine große Gefahr dar. Doch Brasiliens faschistoider Präsident Jair Bolsonaro tut sie mit gröbster Verachtung ab. Er setzt die mörderische Politik der „Herdenimmunität“ seiner Regierung bis zur letzten Konsequenz um und fordert, dass die Brasilianer aufhören, über das Massensterben zu „jammern“, und wieder an die Arbeit gehen.
Das Ziel, für das Bolsonaro kämpft, besteht darin, dass keinerlei Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie die wirtschaftlichen Interessen des brasilianischen Kapitalismus gefährden. Er hat seine diktatorischen Drohungen noch verstärkt und droht nun, dass seine Regierung und die Armee mit „harten Maßnahmen“ gegen jede Lockdown-Verfügung vorgehen werde, um das „Recht des Volks auf Arbeit“ sicherzustellen.
Um die Arbeiter an die stark verseuchten Arbeitsplätze zu zwingen, setzt er vor allem auf den immensen ökonomischen Druck, der auf den Massen lastet. Die Explosion der Arbeitslosigkeit, die steigenden Lebensmittelpreise und die Kürzung der Nothilfe durch die Regierung zwingen die gesamte Arbeiterklasse in ein noch nie dagewesenes Ausmaß an sozialer Verzweiflung.
Nach Angaben des Forschers der Getúlio Vargas Stiftung (FGV), Daniel Duque, sind im vergangenen Jahr 22 Millionen weitere Brasilianer in die Armut abgestürzt. Drei von zehn Brasilianern leben unter einem gewissen Grad von Ernährungsunsicherheit. In den Favelas, den armen Arbeitervierteln in Brasiliens Stadtzentren, haben 68 Prozent der Bewohner nicht genug Geld für Lebensmittel, wie eine Umfrage der Favela-Vereinigung CUFA ergab.
Die Kombination aus unerträglicher wirtschaftlicher Not und dem unermesslichen Leid, das die Pandemie verursacht, lässt die soziale Opposition in Brasilien explosionsartig wachsen. In den letzten Tagen kam es zu Streiks und Protesten von Lehrern, Ölarbeitern, Busfahrern, Paketzustellern und anderen Teilen der Arbeiterklasse. Die Arbeiter fordern Sicherheit am Arbeitsplatz, existenzsichernde Löhne und politische Veränderungen.
Teile der kapitalistischen Elite, die diese Bedrohung von unten spüren, fürchten, dass Bolsonaros Politik eine soziale und wirtschaftliche Explosion auslösen könnte, die ihre Klassenherrschaft über die Gesellschaft in Frage stellen wird.
Diese Position wurde in einem „offenen Brief“ von Ökonomen und Geschäftsleuten deutlich, die Bolsonaros Umgang mit der Pandemie kritisieren. Zu den Unterzeichnern gehören ehemalige Minister und ehemalige Präsidenten der Zentralbank, der Chef des größten brasilianischen Fleischkonzerns und der Vorstandsvorsitzende der Holding Itaú Unibanco, dem größten Finanzkonglomerat der südlichen Hemisphäre. Ihnen schloss sich der Autor des Wirtschaftsprogramms der pseudolinken Partei für Sozialismus und Freiheit PSOL an.
In dem Brief heißt es: „Solange die Pandemie nicht durch kompetentes Handeln der Bundesregierung kontrolliert wird“, könne die wirtschaftliche Rezession „nicht überwunden werden“. Ihre ständig wiederholte Empfehlung lautet, dass die Regierung die erforderliche Mindestsumme ausgeben müsse, um eine soziale Explosion einzudämmen.
Ihre erste und zentrale Forderung ist eine schnellere Beschaffung und Verteilung von Impfstoff. Bislang haben nur 6 Prozent der Bevölkerung eine erste Dosis erhalten. Der Brief behauptet: „Das Kosten-Nutzen-Verhältnis des Impfstoffs liegt in der Größenordnung des Sechsfachen für jeden Real [brasilianische Währung], der für Kauf und Anwendung ausgegeben wird.“ Weiter schlägt der Brief die kostenlose Verteilung von Masken vor, deren Nutzung durch die Regierung gefördert werden solle, und bekräftigt: „Dies wird im Vergleich zu der damit erreichten Eindämmung von Covid-19 nur wenig kosten.“
Während der Brief postuliert: „Die Notwendigkeit eines Lockdowns muss evaluiert werden“, drückt er extreme Bedenken über den „Umfang der geplanten Aktivitäten“ und ihre Dauer aus. Er behauptet: „Die beste Kombination ist eine, die den Nutzen in Bezug auf die Reduzierung der Virusübertragung maximiert und die wirtschaftlichen Auswirkungen minimiert.“ Der gleiche Maßstab gilt für die finanzielle Hilfe, die schlank sein und sich auf die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen beschränken müsse.
Auch greift der Brief alle Schulschließungen frontal an, indem er behauptet, dass die Erfahrung mit der kriminellen Wiedereröffnung von Schulen in São Paulo ein Beweis für das „relativ niedrige Niveau der Infektion in Schulen“ sei. In Wirklichkeit haben die Schulöffnungen in São Paulo Tausende von Infektionen und Dutzende von Todesfällen unter Lehrern und Schülern verursacht.
Diese angebliche Opposition gegen Bolsonaro innerhalb der herrschenden Klasse ist ein kompletter Betrug. Nichts von dem, was vorgeschlagen wird, garantiert eine effektive Eindämmung der Pandemie. Dieses Programm weist zwar kosmetische Unterschiede zu Bolsonaros Politik auf, basiert aber auf der gleichen Feindseligkeit gegenüber den Aussagen der Wissenschaft und dem Ziel, Leben zu schützen.
Im Wesentlichen drückt sich dasselbe Programm auch in dem faulen Bündnis aus, das die Arbeiterpartei (PT) mit der Partei der brasilianischen Sozialdemokratie (PSDB), der traditionellen Partei der brasilianischen Rechten, geschlossen hat. Dieses Bündnis, das in Form des Nationalen Forums der Gouverneure Gestalt annimmt, wird von den bürgerlichen Medien weithin gefeiert. In Wirklichkeit haben diese Gouverneure alle wirtschaftlichen Aktivitäten in ihren Staaten offen gehalten und die mörderische Wiedereröffnung der Schulen betrieben. Sie unterscheiden sich von Bolsonaro nur in dem Punkt, dass sie das Maskentragen und Impfen nicht verteufeln, sind jedoch nicht weniger für die Covid-19-Katastrophe in Brasilien verantwortlich wie Bolsonaro selbst.
Im Kern ist dies auch das Programm der Gewerkschaften, die als ausführende Organe der Konzerne fungieren, um die Wirtschaft am Laufen zu halten. Das Risiko, das daraus für die Arbeiter und die Gesellschaft als Ganzes entsteht, lassen sie außer Acht. Die Gewerkschaften sabotieren systematisch jede Initiative der Arbeiter für Betriebs- und Schulschließungen. Diese Organisationen reagieren mit Nervosität auf die Unruhe unter Arbeitern. Genau wie die bürgerlichen Schichten, die sich im „offenen Brief“ geäußert haben, fordern die Gewerkschaften ein beschleunigtes Impfen, damit die Arbeiter zur Normalität der kapitalistischen Ausbeutung zurückkehren können.
Der Kampf gegen die Katastrophe, die durch die Pandemie hervorgerufen wurde, erfordert ein unabhängiges Programm der Arbeiterklasse, das in eine radikal andere Richtung weisen muss.
Statt eines Teil-Lockdowns, der auf einer Kosten-Nutzen-Analyse basiert, bei der die Profite gegen Menschenleben abgewogen werden, muss die Arbeiterklasse für die Stilllegung aller Aktivitäten kämpfen, die für die Gesellschaft nicht lebensnotwendig sind. Diejenigen Tätigkeiten, die beibehalten werden, müssen unter der Kontrolle der Arbeiter und mit Unterstützung durch Wissenschaftler und Gesundheitsexperten erfolgen, um die Sicherheit der Arbeiter zu gewährleisten. Alle Arbeiterfamilien müssen ein volles Einkommen erhalten – keine Hungerlöhne.
Die Durchsetzung dieses Programms ist notwendig, um das Leben nicht nur der arbeitenden Menschen in Brasilien, sondern ihrer Klassenbrüder und -schwestern auf dem ganzen Planeten zu retten.
Der globale Charakter der Covid-19-Pandemie beweist zur Genüge, dass die Abschaffung des kapitalistischen Nationalstaatensystems notwendig ist. Die Kämpfe der Arbeiter in Brasilien müssen mit denen der internationalen Arbeiterklasse verbunden werden, um die Ausbreitung des Coronavirus zu stoppen und sozialistische Maßnahmen durchzusetzen. Dazu gehört die Enteignung der Finanzoligarchie und die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, um den Weg für eine wissenschaftlich organisierte und demokratisch kontrollierte Weltwirtschaft frei zu machen, die Menschenleben über Profite stellt.