13,2 Millionen Menschen waren in Deutschland im Jahr 2019 von Armut betroffen, mehr als jeder Sechste. Die Armutsquote ist von 15,5 Prozent im Jahr 2018 auf 15,9 Prozent gestiegen. Sie erreicht damit einen historischen Höchstwert. Es ist die höchste gemessene Armutsquote seit der Wiedervereinigung vor dreißig Jahren. Diese Zahlen nennt der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, der am 20. November veröffentlicht wurde.
Bei dem Wiederanstieg der Armut handelt es sich um ein flächendeckendes Problem. Elf der sechszehn Bundesländer haben steigende Armutszahlen, darunter Nordrhein-Westfalen, Bayern, Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen. Am schlimmsten von wachsender Armut betroffen ist Bremen. Hier ist jeder Vierte arm, gefolgt von Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern, Berlin und NRW mit Armutsquoten zwischen 18,5 und 19,5 Prozent.
In Nordrhein-Westfalen ist die Armutsquote seit 2006 zweieinhalbmal so schnell gewachsen wie im Bundesgebiet. Am stärksten konzentriert sich die Armut im Ruhrgebiet mit einer Armutsquote von 21,4 Prozent. Das größte Ballungsgebiet Deutschlands ist nach Einschätzung des Paritätischen Wohlfahrtsverbands die Problemregion Nr. 1.
Von den 5,8 Millionen Menschen des Ruhrgebiets leben 1,3 Millionen in Armut. Seit 2006 ist die Armut hier um 36 Prozent gestiegen. Im Vergleich: In ganz Deutschland stieg die Armut in diesem Zeitraum um durchschnittlich 14 Prozent. In der Städteregion Duisburg/Essen betrug der Anstieg der Armut in dieser Zeit sogar 48 Prozent. Die Armutsquote lag hier im letzten Jahr bei 21,5 Prozent, in der Region Dortmund bei 22 Prozent.
Die weit verbreitete Armut drückt sich auch in der Quote der Menschen aus, die Hartz IV beziehen. In ganz Deutschland waren das 8,4 Prozent, im Ruhrgebiet 15 Prozent. Fast jedes vierte Kind in dieser Region musste von Hartz IV leben. In manchen Städten und Kreisen sind es sogar mehr als 30 Prozent. In Gelsenkirchen sind 40 Prozent der Kinder von Hartz IV abhängig.
Zur geografischen Verteilung der Armut heißt es in dem Bericht: „Armutsgeografisch zerfällt Deutschland also durchaus in zwei Teile – allerdings nicht in Ost und West, sondern in Nord und Süd. Im gut gestellten Süden haben Bayern und Baden-Württemberg eine gemeinsame Armutsquote von 12,1 Prozent. Der Rest der Republik, vom Osten über den Norden bis in den Westen, kommt zusammen auf eine Quote von 17,4 Prozent. Außerhalb von Bayern und Baden-Württemberg lebt durchschnittlich mehr als jeder Sechste unterhalb der Armutsgrenze.“
Angesichts der massiven Kurzarbeit und angekündigten Massenentlassungen in der Auto- und Zulieferindustrie, die sich stark in Bayern und Baden-Württemberg konzentrieren, ist zu befürchten, dass die Armut auch in diesen Bundesländern weiter anwachsen wird.
Von den 15 Regionen mit der größten Armut befinden sich ein Drittel in Nordrhein-Westfalen, überwiegend im Ruhrgebiet. Ein zweites Drittel sind Städte und Regionen in Niedersachsen und Bremen. Und ein weiteres Drittel befindet sich in Sachsen-Anhalt, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.
Sehr stark angewachsen ist die Armut zwischen 2006 und 2019 auch im Rhein-Main-Gebiet mit den Städten Frankfurt/Main und Offenbach und in der Region um Darmstadt im Süden von Hessen. Hier stieg die Armutsquote von 10,5 (2006) auf 15,3 Prozent (2019).
Der Bericht vermerkt dazu: „Hohe Reichtumsquoten einer Region oder eines Bundeslandes können durchaus mit hohen Armutsquoten einhergehen.“ Hessen hat deutschlandweit die zweithöchste Reichtumsquote und liegt inzwischen bei der Armutsquote mit 16,1 Prozent über dem bundesweiten Durchschnitt.
Als arm gilt, wer mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens auskommen muss. Diese Grenze lag im letzten Jahr für einen Einpersonenhaushalt bei einem Nettoeinkommen von 1074 Euro im Monat, für eine Familie mit zwei Kindern unter 14 Jahren bei 2256 Euro.
Das höchste Armutsrisiko haben Arbeitslose. Bei ihnen beträgt der Anteil der Armen 57,9 Prozent, bei Alleinerziehenden 42,7 Prozent und bei kinderreichen Familien 30,9 Prozent. Menschen mit geringer Qualifikation sind mit 41,7 Prozent und Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit mit 35,2 Prozent von Armut betroffen.
Bei allen Gruppen ist die Armut 2019 gegenüber dem Vorjahr wieder gestiegen. Die stärkste Zunahme im längerfristigen Vergleich gab es bei Rentnern. Unter ihnen wuchs die Armutsquote seit 2006 um sechzig Prozent auf 17,1 Prozent. Der überwiegende Teil der Armen arbeitet (33 Prozent) oder ist in Rente (23,6 Prozent).
Die weite Verbreitung von Armut ist das Ergebnis jahrzehntelanger, gegen die Arbeiterklasse gerichteter Politik. Einen besonderen Anstoß für die Entwicklung des riesigen Niedriglohnbereichs gaben die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze der SPD/Grünen-Koalition von Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die von 1998 bis 2005 regierte. Seither haben alle Regierungskoalitionen, überwiegend mit Beteiligung der SPD, diese Entwicklung verschärft.
Die Zahlen im diesjährigen Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbands stammen aus der Zeit vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. Seitdem haben sich die sozialen Gegensätze weiter verschärft, und ein weiterer starker Anstieg der Armut ist abzusehen.
In dem Bericht heißt es dazu: „Die Auswirkungen der Corona-Krise dürften diesen Trend (zu Ungleichheit) noch einmal spürbar beschleunigen. Was die Auswirkungen dieser Krise auf die Einkommen anbelangt, handelt es sich nicht um einen allgemeinen Wohlstandsverlust. Vielmehr trifft sie derzeit insbesondere Erwerbstätige im Gastronomiebereich oder in Leiharbeit Tätige, viele Minijober*innen und Soloselbständige, womit die Corona-Krise letztlich zu mehr Ungleichheit und mehr Armut in dieser Gesellschaft beitragen wird.”
Der Paritätische Wohlfahrtsverband warnt: „Es gibt also genügend Anzeichen, dass die Corona-Krise auch mit weiter wachsender Ungleichheit und mit einer weiter wachsenden Armut einhergeht. Es spricht vieles dafür, dass der aktuelle Armuts-Rekordwert von 15,9 Prozent in 2019 im Jahr 2020 noch einmal deutlich ansteigen wird.“
Die Verfasser der Studie kritisieren, dass die bisherigen sozialen Sicherungssysteme nicht ausgereicht haben, um Menschen vor Armut, Obdachlosigkeit, Altersarmut und anderen prekären Lebenslagen zu schützen. Die Sätze für Hartz IV und andere Unterstützungsleistungen sind viel zu niedrig, um davon menschenwürdig leben zu können. Sie kritisieren auch, dass von den Hunderten Milliarden Euro, die die Bundesregierung zur Unterstützung der Wirtschaft ausgegeben hat, nichts für die besonders von Arbeitsplatzverlust und Armut Betroffenen vorgesehen ist.
Von Seiten der Regierung sind keine Maßnahmen gegen Armut zu erwarten. Im Gegenteil: Die Politik der vergangenen Jahre war und ist geprägt von einem Frontalangriff auf die Arbeiterklasse und ihre verwundbarsten Teile. Die Regierungsmaßnahmen während der Corona-Pandemie sind wie in allen anderen Ländern davon geprägt, die Interessen der Wirtschaft, der Reichen und Superreichen auf Kosten der Arbeiter zu schützen, die trotz Infektions- und Lebensgefahr zur Arbeit gezwungen werden.
Schulen und Kitas dürfen nicht geschlossen werden, damit die Eltern zur Arbeit gehen und Profite erwirtschaften können. Diese Woche hat die Zahl der mit Covid-19 Infizierten in Deutschland eine Million überschritten. Über 15.000 Menschen sind durch Covid-19 verstorben, und ein Ende ist nicht in Sicht.
Die weit verbreitete Armut ist das Ergebnis einer gigantischen Umverteilung des Reichtums der Gesellschaft von unten nach oben. So berichtete die Wirtschaftswoche vom 7. Oktober, dass die Reichen durch die Corona-Krise noch reicher geworden sind: „In Deutschland stieg das Nettovermögen der Ultrareichen nach einem Einbruch zu Beginn der Coronapandemie bis Ende Juli auf 594,9 Milliarden Dollar. Bei der letzten Untersuchung (Stichtag März 2019) waren es 500,9 Milliarden Dollar. Der Club der Superreichen wuchs seitdem von 114 auf 119 Mitglieder. Den größten Zuwachs erzielten die deutschen Dollar-Milliardäre nach Ausbruch der Pandemie in den Bereichen Technologie (plus 46 Prozent), Gesundheitswesen (plus 12 Prozent) und Finanzwesen (plus 11 Prozent).“
Zu den reichsten Deutschen gehören nach einer jüngst veröffentlichten Rangliste des Manager Magazins die Unternehmerfamilie Reimann mit einem geschätzten Vermögen von 32 Milliarden Euro. Auf Platz zwei steht Lidl-Gründer Dieter Schwarz mit einem geschätzten Vermögen von 30 Milliarden Euro. Als Drittplatzierte werden die Geschwister Susanne Klatten und Stefan Quandt genannt, die fast die Hälfte der BMW-Aktien besitzen. Ihr Vermögen ist infolge der Corona-Krise um 1,5 Milliarden Euro auf geschätzt 25 Milliarden Euro gesunken – eine immer noch schwindelerregend hohe Zahl.