Die Nürnberger Prozesse 75 Jahre danach

Dieser Artikel erschien ursprünglich zum 70. Jahrestag der Nürnberger Prozesse. Anlässlich des 75. Jahrestags des Beginns der Prozesse am 20. November 1945 veröffentlichen wir ihn erneut.

Als vergangenen Freitag die Türen zum Schwurgerichtssaal 600 des Nürnberger Justizpalasts geöffnet wurden, konnte man sich eines mulmigen Gefühls nicht erwehren. Hier, am Tag genau vor siebzig Jahren, saßen einundzwanzig der höchsten NS-Politiker und -Militärs auf der Anklagebank und mussten sich für unglaubliche Verbrechen und Millionen Tote verantworten.

Hitler, Himmler, Goebbels waren bereits tot, sie hatten sich durch Selbstmord der Anklage entzogen. Martin Bormann wurde nicht gefasst und in Abwesenheit verurteilt. Zwei weitere
ursprünglich angeklagte NS-Verbrecher, der Führer der Deutschen Arbeitsfront Robert Ley und der Stahl- und Rüstungsbaron Gustav Krupp von Bohlen und Halbach fehlten ebenfalls – Ley beging Selbstmord unmittelbar vor Prozessbeginn, Krupp war verhandlungsunfähig.

Die Namen der im Gerichtssaal versammelten NS-Größen genügen allerdings, um einen Schauer über den Rücken zu jagen und die Bedeutung dieses Prozesses zu unterstreichen – neben dem zweiten Mann im NS-Staat, „Reichsmarschall“ Hermann Göring, saßen der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Hess, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop, der Oberkommandierende der Wehrmacht Wilhelm Keitel, der Chef der Sicherheitspolizei und des SD Ernst Kaltenbrunner, der sadistische Befehlshaber im besetzten Polen Hans Frank, der Verantwortliche für die Massendeportationen von Zwangsarbeitern Fritz Sauckel, der Parteiideologe und Reichsminister für die Ostgebiete Alfred Rosenberg, der Herausgeber des „Stürmer“ Julius Streicher und andere.

In diesen Tagen erinnern zahlreiche Veranstaltungen und Ausstellungen an den ersten Nürnberger Kriegsverbrecherprozess, der vom 20. November 1945 bis zum 1. Oktober 1946 tagte und mit zahlreichen Todesurteilen endete. Die Ausstellung „Memorium Nürnberger Prozesse“ hatte am 20. November drei Zeitzeugen zu einem Podiumsgespräch geladen, die als Dolmetscher (George Sakheim), Leibwächter des Chefanklägers (Moritz Fuchs) und Assistent für den französischen Richter (Yves Beigbeder) gearbeitet hatten. Sie schilderten anschaulich ihre damaligen Erfahrungen.

George Sakheim, Sohn des jüdischen Theaterdramaturgen in Hamburg Arthur Sakheim, der im Exil in Palästina und New York aufgewachsen ist, erlebte die NS-Täter aus nächster Nähe. Er musste auch bei Verhören und Zeugengesprächen dolmetschen, unter anderen von Göring. Der habe sich inszeniert, alle Verantwortung auf Hitler geschoben und sich als „glamour boy“ dargestellt, wie es Moritz Fuchs formulierte.

Noch heute ist Sakheim fassungslos über den Auftritt des Massenmörders und Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss. Der Verteidiger Ernst Kaltenbrunners hatte ihn als „Entlastungszeugen“ bestellt, Sakheim musste im Zeugengespräch dolmetschen, „Eine dermaßen verkommene, degenerierte Person“, sagte Sakman. „Mit eiskalter Miene berichtete er von den brutalsten, sadistischen Vernichtungsaktionen in Auschwitz, wie er täglich 10.000 Menschen töten ließ.“ Und er fügte hinzu: „Ich war damals erst 22 Jahre alt – es war wirklich schwer für mich, dies zu verkraften.“

Als Sakheim später von den Urteilen hörte, empfand er ebenso wie die anderen beiden „große Erleichterung“. Wenigstens einige der übelsten Naziführer hätten ihre verdiente Strafe erhalten. Nach seinen Schlussfolgerungen für heute befragt, rief Sakman: „Vor allem richte ich eine Warnung an die Jugend: Lasst nie wieder eine solche Diktatur zu! Sorgt dafür, sie bereits in einem frühen Stadium zu stoppen.“

Memorium Nürnberger Prozesse

Ausführlich erinnert auch die Ausstellung „Memorium“, die vor fünf Jahren im gleichen Gebäude eröffnet wurde, an den Hauptkriegsverbrecherprozess. Sie informiert ausführlich über den Prozessverlauf, die Angeklagten und ihre Verteidiger, die Zeugen und die Dokumente, die dem Gericht vorlagen, sowie über die internationalen Reaktionen. Originale Filmdokumente von den Verhandlungen zeigen, wie die Angeklagten einer nach dem anderen aufstehen und sich als „nicht schuldig“ bekennen. Zu sehen sind auch zwei originale Bänke, auf denen die Angeklagten saßen.

Dokumentiert werden zudem die zwölf Nachfolgeprozesse, in denen sich Ärzte, Juristen, Wirtschaftsführer wie Krupp, Flick, die IG-Farben-Chefs, die Südost-Generäle und andere verantworten mussten, sowie der Tokio-Prozess zu den japanischen Kriegsverbrechen in Asien.

Ein Raumteil verweist auf den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik. Unter dem Schlagwort „Siegerjustiz“ verurteilten Journalisten und Politiker die Nürnberger Prozesse, die bundesdeutsche Justiz blockte die weitere Verfolgung der NS-Verbrechen ab. Noch 1979 stimmten 222 Bundestagsabgeordnete gegen die Abschaffung der Verjährung von Nazi-Morden, und nur 255 dafür, obwohl dies längst durch die UN-Generalversammlung beschlossen war. Auf der Zuschauertribüne des Bundestags gab es Tumulte von überlebenden KZ-Häftlingen.

Die Leiterin der Ausstellung, Henrike Claussen, und ihre Bildungsreferentin Astrid Betz berichteten der WSWS von wachsenden Besucherzahlen, darunter auch immer mehr Jugendliche. In den fünf Jahren habe sie 370.000 Besucher angezogen, mit steigender Tendenz. Dies sei auch den heutigen Kriegen geschuldet, sagte Astrid Betz, die mit der Ukraine, der Flüchtlingskrise und zuletzt den Pariser Anschlägen „in unsere Nähe gerückt sind“. Auch Henrike Claussen betont: „Die Nürnberger Prozesse sind nicht mehr nur ein historisches Ereignis, nicht nur Geschichte.“

Strafe für Angriffskrieg

In der Tat hat der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess bis heute eine große historische Bedeutung.

Erstmals wurden Politiker und Militärs persönlich für die Verbrechen eines Staates zur Rechenschaft gezogen, in dem sie eine führende Rolle spielten. Weder konnten sie sich auf nationale Gesetze berufen, die ihre Taten als rechtmäßig darstellten, noch auf die Befehle der Regierung oder ihrer Vorgesetzten. Dies stand in scharfem Gegensatz zur späteren Rechtsprechung der Bundesrepublik, die zahllose Nazis mit der Begründung laufen ließ, sie hätten nur auf Befehl gehandelt.

Der amerikanische Chefankläger Robert H. Jackson hielt am 21. November 1945 seine weltweit beachtete Einführungsrede, in der er betonte: „Die Untaten, die wir zu beurteilen und zu bestrafen suchen, waren so ausgeklügelt, so böse und von so verwüstender Wirkung, dass die menschliche Zivilisation es nicht dulden kann, sie unbeachtet zu lassen, sie würde sonst eine Wiederholung solchen Unheils nicht überleben.“ Er fügte hinzu: „Wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Maß, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden.“

Das seit dem Haager Abkommen vor dem Ersten Weltkrieg geltende Völkerrecht, das die Bestrafung von „Kriegsverbrechen“ vorsah, wurde in Nürnberg um folgende Anklagepunkte erweitert: „Verbrechen gegen den Frieden“, „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Verschwörung zur Begehung der genannten Verbrechen“. Dies hatten Vertreter der Sowjetunion, der USA, Großbritanniens und Frankreichs im Londoner Statut vom 8. August 1945 festgelegt. Nach den Urteilen gingen diese Straftatbestände in die „Nürnberger Prinzipien“ ein, die die UN-Völkerrechtskommission am 29. Juli 1950 formulierte.

Erstmals erklären diese die Vorbereitung und Durchführung eines Angriffskriegs als strafbar nach dem Völkerrecht. In Grundsatz VI (a) heißt es: „Verbrechen gegen den Frieden:
i) Planung, Vorbereitung, Einleitung oder Durchführung eines Angriffskriegs oder eines Krieges unter Verletzung internationaler Verträge, Abkommen oder Zusicherungen;
ii) Beteiligung an einem gemeinsamen Plan oder an einer Verschwörung zur Ausführung einer der unter Ziffer i genannten Handlungen.“

Nach 218 Verhandlungstagen, am 1. Oktober 1946, fällte das Gericht zwölf Todesurteile, drei lebenslängliche und vier weitere lange Haftstrafen sowie drei Freisprüche. Die zum Tode Verurteilten wurden am 16. Oktober erhängt, Hermann Göring nahm sich vorher in der Zelle selbst das Leben.

Von Dezember 1946 bis April 1949 folgten zwölf weitere Verfahren, häufig als „Nürnberger Nachfolgeprozesse“ bezeichnet, die allerdings anders als der erste Prozess vor ausschließlich US-amerikanischen Militärtribunalen stattfanden und bei denen die Urteile durchweg milder ausfielen sowie nur halbherzig vollstreckt wurden.

Die Urteile der Nürnberger Prozesse und die Nürnberger Prinzipien fielen mit dem Beginn des Kalten Kriegs zusammen und wurden in den Nachkriegsjahren nicht mehr beachtet. Weder gab es ein internationales Tribunal zu den amerikanischen und französischen Kriegsverbrechen im Vietnamkrieg, noch zum Massenmord des vom Westen gestützten indonesischen Diktators Suharto an Arbeitern und Kommunisten in den 60er Jahren, um nur wenige Beispiele zu nennen.

Erst in den 90er Jahren griff die UN einige Punkte der Nürnberger Prinzipien auf. Mit dem Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien 1993 und einem weiteren für Ruanda 1994 richtete sie diese allerdings gegen untergeordnete Regime und lokale autokratische Herrscher. Dasselbe trifft auf den von der UN unabhängigen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zu, der auf der Grundlage des Römischen Statuts von 1998 errichtet wurde, den jedoch mächtige Staaten wie die USA, Russland, Indien, China oder Israel nicht anerkennen. Als seine größte Tat rühmt er sich des Haftbefehls gegen den Präsidenten des Sudan, Omar al-Bashir, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Die blutigen „Verbrechen gegen den Frieden“ in den vergangenen fünfzehn Jahren, die die amerikanischen und europäischen Großmächte mit immer neuen Angriffs- und Stellvertreterkriegen in Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien angerichtet haben – und die allesamt die Bestimmungen des Grundsatzes VI (a) der Nürnberger Prinzipien erfüllen, werden in Den Haag nicht verhandelt.

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