Diese Perspektive erschien vor der Bekanntgabe von Joe Bidens Wahlsieg am 7. November auf der englischsprachigen Ausgabe der World Socialist Web Site.
Es gibt keinen legitimen Grund für die anhaltende Verzögerung bei der Bekanntgabe der diesjährigen Wahlergebnisse und des Sieges von Joe Biden, dem Kandidaten der Demokratischen Partei.
Hinsichtlich der Stimmenzahl („Popular Vote“) hat Biden einen Vorsprung von mehr als vier Millionen und auch im Wahlkollegium ist er auf dem besten Wege, mit großem Vorsprung zu gewinnen. In Pennsylvania führt Biden derzeit mit über 28.000 Stimmen – und mit der Auszählung von immer mehr Briefwahlzetteln aus überwiegend demokratischen Gebieten des Bundesstaates nimmt sein Vorsprung stetig zu. Ein Sieg in diesem Staat allein würde ihm die notwendigen Stimmen im Wahlkollegium geben.
Allerdings hat keiner der großen Fernsehsender Biden bisher als Sieger bezeichnet. Biden sagte zwar am Freitagabend in einer Rede, dass „die Zahlen eine deutliche Sprache sprechen“, doch auch er hat keinen Sieg verkündet, obwohl Trump – der eindeutig verloren hat – dies getan hat.
Die einzige Publikation, die Biden zum Sieger in Pennsylvania und der Präsidentschaftswahl erklärt hat, ist Vox, und ihre Erklärung umreißt klar die Gründe, die allen anderen Netzwerken dafür ebenfalls zur Verfügung stehen würden. Am Freitagmorgen erklärte Drew McCoy, der Präsident von Vox' Wahlanalysepartner Decision Desk: „Das Rennen ist nach unserer Überzeugung aufgrund der Stimmzahlen aus Philadelphia vorbei.“ Er fügte hinzu: „Es ist ziemlich offensichtlich geworden, dass mit der Auszählung der verbleibenden Stimmen im ganzen Bundesstaat und in Philadelphia Bidens Vorsprung weiterhin wachsen wird.“ McCoy sagte, dass Biden nach Ende der Auszählungen den Staat „wahrscheinlich mit einem Vorsprung im Bereich von einem bis zwei Prozent“ gewonnen haben wird. Das liegt weit über dem Niveau, das eine Neuauszählung erfordern würde.
Die Verzögerung bei der Bekanntgabe der Wahlergebnisse ist eine kalkulierte politische Entscheidung, die nur der extremen Rechten zugutekommen kann. Derzeit wird hinter den Kulissen intensiv darüber diskutiert, wie die beispiellose politische Krise in den Vereinigten Staaten gelöst werden kann und wie sich eine künftige Biden-Regierung zusammensetzen würde. Die Republikaner versuchen dabei, Zugeständnisse beim Regierungspersonal herauszuhandeln.
Trump intensiviert derweil seine eigenen Verschwörungen, um an der Macht zu bleiben. Seinem Wahlkampfteam sagte er am Freitag, dass er sich weigern werde, seine Abwahl einzugestehen, egal wie die Abstimmung ausfallen werde. Sein Ziel ist es, eine Art „Dolchstoß“-Legende zu schaffen, die für die Entwicklung einer faschistischen Bewegung die besten Bedingungen schaffen würde – unabhängig davon, ob er Präsident ist oder nicht.
Die Trump-Kampagne hat in Michigan und Pennsylvania Klagen eingereicht, um die Auszählung von Stimmzetteln zu verhindern, strebt in Wisconsin eine Neuauszählung an und plant, seinen Fall vor den Obersten Gerichtshof zu bringen, dem nun die von Trump jüngst ernannte Amy Coney Barrett angehört. Für seinen Rechtsstreit hat Trump den langjährigen politischen Intriganten David Bossie ausgewählt, der zur Zeit der Clinton-Regierung als Chefermittler für den Ausschuss des Repräsentantenhauses tätig war, der die Whitewater-Affäre untersuchte.
Trump und seine Verbündeten sprechen die Sprache des Bürgerkriegs. Am Donnerstag rief der langjährige Trump-Kumpan Stephen Bannon dazu auf, die Köpfe von Anthony Fauci, dem Direktor des National Institute of Health, und von FBI-Direktor Christopher Wray aufzuspießen und sie „als Warnung“ vor dem Weißen Haus aufzustellen.
Wenn die Situation umgekehrt wäre, hätten die Republikaner zweifellos bereits den Sieg erklärt und die Demokraten hätten nachgegeben. Im Jahr 2000 kapitulierten die Demokraten vor der Intervention des Obersten Gerichtshofs, der die Wahl zugunsten von George W. Bush entschied, indem er eine Neuauszählung in Florida stoppte, wo Bush nur 537 Stimmen Vorsprung hatte. Als Gore seine Niederlage in einer Rede verkündete, forderte er alle Amerikaner dazu auf, sich „hinter unserem neuen Präsidenten zu vereinen“, bevor er von der politischen Bühne verschwand.
Bei den Wahlen von 2016 gab Clinton bereits in den frühen Morgenstunden nach dem Wahltag zugunsten Trumps ihre Niederlage bekannt. Zu diesem Zeitpunkt hatten die großen Fernsehsender noch nicht einmal in den großen umkämpften Staaten Pennsylvania, Michigan und Wisconsin endgültige Wahlergebnisse verkündet. Trumps Mehrheit in diesen Staaten war letztendlich extrem knapp – 10.000 Stimmen in Michigan, 20.000 in Wisconsin und weniger als 40.000 in Pennsylvania.
Während Trump nun weiter seine Intrigen spinnt, um im Amt zu bleiben, kriechen die Demokraten auf Händen und Knien und während sie einschläfernde Phrasen über „Geduld“ verbreiten und die Notwendigkeit beschwören, „einen kühlen Kopf zu bewahren“ und „zuversichtlich zu bleiben“.
Biden nahm in seinen kurzen Bemerkungen am Freitag keinen Bezug auf Trump oder seine Verschwörungen. Er wiederholte erneut seine Aussage, dass „wir zwar Gegenspieler [sein mögen], aber keine Feinde“ und dass seine Verantwortung „darin bestehen wird, die gesamte Nation zu vertreten“. Im Kontext der bürgerlichen Politik bedeutet dies de facto eine Regierung der nationalen Einheit mit den Republikanern. Biden unterhält enge Beziehungen zu Mitch McConnell, dem republikanischen Mehrheitsführer im Senat, mit dem er gestern Nachmittag Gespräche geführt haben soll.
Eine weitere Figur in den Verhandlungen hinter den Kulissen ist Lindsey Graham, der Vorsitzende des Justizausschusses des Senats. Am Freitagmorgen erklärte Graham seine Unterstützung für Trumps Bemühungen, die Wahl zu stehlen, und spendete persönlich 500.000 Dollar für die Gerichtsprozesse, um in Pennsylvania, Michigan und Nevada die Wahlen zu kippen.
Später am selben Tag sagte Graham, dass er unter bestimmten Bedingungen mit einer Biden-Regierung zusammenarbeiten würde. „Wenn es darum geht, eine gemeinsame Basis zu finden, werde ich das tun“, sagte Graham gegenüber Reportern. „Der Vizepräsident verdient ein Kabinett. Ich werde ihm mitteilen, für wen ich zu stimmen bereit wäre, für das Amt des Außenministers, Generalstaatsanwalts...“ Mit anderen Worten: Die Republikaner fordern bei der Zusammensetzung einer künftigen Biden-Regierung ein Vetorecht.
Die Reaktion der Demokraten auf die Krise nach den Wahlen stimmt mit dem gesamten Rahmen ihrer Opposition gegen Trump in den letzten vier Jahren überein. Seit Obama erklärt hat, die Wahl sei ein Freundschaftsspiel („intramural scrimmage“) zwischen zwei Spielern desselben Teams, haben die Demokraten in allen wesentlichen Fragen der Innenpolitik mit Trump zusammengearbeitet. Sie haben daran gearbeitet, die massenhafte Opposition gegen Trump in der Bevölkerung der anti-russischen Kampagne unterzuordnen, die von mächtigen Fraktionen innerhalb des Militärs und der Geheimdienste vorangetrieben wird.
Während des Wahlkampfes taten die Demokraten alles, was sie konnten, um Trumps Putschvorbereitungen und seine Anstiftung zu faschistischer Gewalt zu vertuschen, selbst als es um Bemühungen ging, Staatsregierungen zu stürzen, die von der Demokratischen Partei gestellt wurden und Gouverneure hinzurichten, die den Demokraten angehören.
Die Reaktion der Demokraten wird durch die von ihnen vertretenen Klasseninteressen bestimmt. Die Demokraten sind eine Partei der Wall Street und des Militärs. Ihre größte Angst besteht darin, etwas zu tun oder zu sagen, das zu weiterer Unruhe in der Bevölkerung führen könnte. Der Konflikt innerhalb der herrschenden Klasse soll hinter verschlossenen Türen und auf der Grundlage einer möglichst rechten Politik ausgetragen werden.
Die Demokratische Partei würde sich unter einer künftigen Biden-Regierung voll und ganz auf den Kampf gegen links konzentrieren. Nur wenige Tage nach der Wahl mehren sich bereits die Stimmen innerhalb der Demokraten, dass die Partei als zu links wahrgenommen worden wäre. Dies sei der Grund, weshalb die Präsidentschaftswahlen so knapp ausgegangen seien und weshalb es im Repräsentantenhaus zu Stimmenverlusten gekommen sei.
Die Abgeordnete Abigail Spanberger, eine der führenden Demokraten aus den Reihen der CIA, prangerte am Mittwoch in einer Telefonkonferenz mit Abgeordneten der Demokraten mit wütenden Worten den Sozialismus an. „Wir dürfen die Worte Sozialist oder Sozialismus nie wieder verwenden... Das ist bedeutsam, und wir haben deswegen gute Mitglieder verloren.“ Die Demokraten, so Spanberger, müssten sich „auf das Wesentliche zurückbesinnen“ – das heißt, auf die Belange des Militärs und der Geheimdienste.
Unter einer Biden-Regierung würde die gesamte Gesetzgebung der Demokraten mit den Republikanern abgestimmt werden. Politico berichtete am Freitag: „Das nach wie vor unsichere Wahlergebnis erzwingt eine vollständige Neubewertung der Frage, welche Politik und welche vom Kabinett ernannten Personen in der Lage sein werden, unter den Republikanern die notwendige Unterstützung zu gewinnen. Die Demokraten befürchten, nicht in der Lage zu sein, bei Fragen wie einer umfassenden Einwanderungsreform, dem Wahlrecht und Maßnahmen gegen den Klimawandel Fortschritte zu erzielen – ebenso wie bei noch unmittelbareren Fragen, wie der Verabschiedung eines Coronavirus-Rettungspakets von mehreren Billionen Dollar. Dort werden mehr Kompromisse erforderlich sein, als viele in der Partei wollten.“
Mit anderen Worten, eine Biden-Regierung wird von brutalen Kürzungs- und Sparmaßnahmen gekennzeichnet sein. Das ist keine Überraschung: Dies ist immer die Absicht der Demokraten gewesen. Im Verlauf ihrer Kampagne haben die Demokraten weder ein Programm angeboten, um die Coronavirus-Pandemie anzugehen, noch die durch die Politik der herrschenden Klasse hervorgerufene massive soziale Krise.
Während des Wahlkampfes wurde von pseudolinken Gruppen aus dem Umfeld der Demokratischen Partei viel darüber geredet, dass ein Sieg Bidens „Raum“ für die Umsetzung von sozialen Reformen schaffen würde. Biden ist noch nicht einmal zum Sieger erklärt worden, da entlarven sich diese Behauptungen bereits als politischer Betrug.