Die herrschende Klasse in Deutschland reagiert mit einer Mischung aus Schock, Wut und Aggression auf die US-Präsidentschaftswahlen. Politik und Medien warnen davor, dass der nach wie vor unklare Ausgang der Wahl und Trumps Versuch, sich vorzeitig zum Wahlsieger zu erklären, die USA weiter destabilisieren und in eine tiefe innen- und außenpolitische Krise stürzen könnten. Gleichzeitig trommeln Vertreter aller Parteien für eine aggressive, von den USA unabhängigere Außen- und Militärpolitik.
„Die eigentliche Botschaft“ der „Entwicklung in den Vereinigten Staaten schon über die letzten Jahre hinweg“ sei „ein Weckruf an Europa“, erklärte der Fraktionsvorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Manfred Weber, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk. „Wir müssen endlich Selbstbewusstsein entwickeln. Europa muss endlich Autonomie entwickeln“. Gerade „bei der Frage der militärischen Kapazitäten“ sei Europa „heute zu ganz großen Teilen von der NATO-Kooperation mit den Vereinigten Staaten abhängig“ und das könne „auf Dauer so nicht bleiben“. Man brauche „einen eigenständigen militärischen Pfeiler der Europäischen Union, der auch wirklich Selbstbewusstsein und auch Souveränität ausstrahlt, gerade in der Unsicherheit, die um uns herum herrscht.“
Weber lies durchblicken, dass die herrschende Klasse in Europa, Trumps faschistische Tiraden und Staatsstreichpläne vor allem als Bedrohung für ihre Propaganda betrachtet, die imperialistische Kriegspolitik als Kampf für Demokratie zu verkaufen. „Vor allem vor dem Hintergrund, dass es [wieder] einen globalen Wettbewerb über die Systemfrage gibt“, wolle man „ja unsere Werte, unsere Vorstellungen gemeinsam vertreten“ und „in die Welt hinaustragen als das richtige Modell“, betonte er. Und „wenn das jetzt in Frage gestellt“ und „in Zweifel gezogen wird“, mache ihm das „sehr, sehr viel Sorge.“
Führende Vertreter der deutschen Regierung äußerten sich ähnlich. „Wir haben zur Kenntnis zu nehmen – und ich glaube, das ist die eigentliche Aufgabe, vor der wir stehen –, egal wer gewinnt, dass Europa souveräner werden muss, dass wir unsere eigenen Hausaufgaben machen müssen und gleichzeitig einen Versuch unternehmen müssen, diese Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen“, erkläre Niels Annen (SPD), Staatsminister im Auswärtigen Amt. Er glaube, „dass die Trump-Präsidentschaft ein Weckruf gewesen“ sei und jetzt hänge „es von uns ab, daraus auch konkrete Politik zu formulieren.“
Annen stellte klar, was er damit meint. „Wir können uns Langsamkeit nicht leisten, denn es geht ja nicht nur um die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Auch gegenüber China und „anderen Regionen in der Welt, in denen eine ungeheure Dynamik entstanden ist in den letzten Jahren“, laufe man Gefahr „als globaler Akteur nicht ausreichend wahr- und ernst genommen zu werden“. Dies habe „direkte Auswirkungen auch auf unsere Fähigkeiten, die eigenen Interessen wahrzunehmen“. Man müsse „einen Zahn zulegen, und das ist genau das, was wir versuchen, auch im Moment in unserer Ratspräsidentschaft“.
Auch die Oppositionsparteien im Bundestag unterstützen diesen Kurs. Im bereits erwähnten Interview mit Weber pflichtete Jürgen Trittin, der für die Grünen im Auswärtigen Ausschuss des Bundestags sitzt, dem CSU-Mann bei und erklärte: „Das heißt, wir werden uns darauf einstellen müssen, dass wir es die nächsten zwei Jahre [die Midterm Elections in zwei Jahren sind das entscheidende nächste Datum] mit den USA zu tun haben, die wesentlich mit sich selber beschäftigt sind und weniger als internationaler globaler Akteur agieren. Und das heißt für uns übrigens auch, dass wir uns um unsere Nachbarschaftspolitik selber kümmern müssen.“
Ein gemeinsames ARD-Interview mit dem außenpolitischen Sprecher der Linkspartei Gregor Gysi und dem AfD-Vorsitzenden Jörg Meuthen unterstrich, wie eng alle etablierten Parteien mit der extremen Rechten zusammenarbeiten, um die außenpolitische Offensive gegen die Opposition in der Bevölkerung durchzusetzen. „Sollten sich die USA auch militärisch ein Stück weit zurückziehen“ unterstütze er das, „was viele, übrigens auch Herr Gysi von der Linkspartei immer wieder fordert: wir müssen sehen, dass wir als souveräner Staat wirklich auch eigenständig verteidigungsfähig sind.“
Aber wenn er sich den Zustand der deutschen Armee anschaue, sei er „mit beklagenswert noch höflich umschrieben“. Vielleicht sei es also „sogar gut, wenn wir aus der fürsorglichen Bemutterung der Vereinigten Staaten auch mal ein bisschen entlassen sind, damit wir unsere eigene Souveränität weiterentwickeln können“, fügte Meuthen zynisch hinzu.
Gysi hatte zuvor bereits in einem weiteren Interview gefordert, Deutschland müsse „aus geostrategischen Gründen“ lernen, „zu den USA auch mal Nein sagen zu können“.
Welche massive Aufrüstungs- und Kriegsoffensive die herrschende Klasse hinter dem Rücken der Bevölkerung vorbereitet, unterstreichen Thinktank-Papiere, die am Vorabend der Wahl veröffentlicht wurden. Unter dem Titel „Welche Reform die Bundeswehr heute braucht – Ein Denkanstoß“ fordern der frühere sozialdemokratische Wehrbeauftragte des Bundestags, Hans-Peter Bartels, und der ehemalige Befehlshaber des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr, Rainer Glatz, die deutsche Armee wieder auf große Kriege vorzubereiten.
„Die künftige Bundeswehrstruktur sollte die Personalstärke der Truppe (zulasten redundanter und ‚Ebenengerechtigkeits‘-orientierter Stabsstrukturen) wieder erhöhen und durchhaltefähige organische Verbände schaffen“, heißt es unter anderem im Papier. „Die für den anspruchsvollsten Hauptauftrag Bündnis- und Landesverteidigung ausgebildeten Kräfte müssen zusätzlich in der Lage sein, weltweite Einsätze zur Krisenintervention wahrzunehmen. Dieser Doppelauftrag verlangt die Vollausstattung mit Material, um eine jederzeit hohe Einsatzbereitschaft zu gewährleisten.“
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Eine aktuelle Veröffentlichung der Münchner Sicherheitskonferenz mit dem Titel „Zeitenwende/Wendezeiten“ mahnt die 2014 öffentlich verkündete Rückkehr Deutschlands zu einer aggressiven Außen- und Großmachtpolitik „weitaus schneller“ umzusetzen als bisher. „Der größte Nachholbedarf“ bestehe dabei„bei den Verteidigungsausgaben.“ Der Maßstab ist dabei nicht mehr das von Trump geforderte Zwei-Prozent-Ziel der Nato sondern weitaus mehr. „Im Sinne des erweiterten Sicherheitsbegriffs“ erscheine „eine breitere Vorgabe im Sinne eines Drei-Prozent-Ziels angemessen, die den Beitrag des Militärs nicht verkennt, aber auch andere Ausgaben als wichtig erachtet,“ heißt es im Papier.
Die Pläne sollen auch unter einer möglichen Präsidentschaft des Kandidaten der Demokraten, Joe Biden, umgesetzt werden. In einem ARD-Brennpunkt warnte der Leiter der Münchner Sicherheitskonferenz, Wolfgang Ischinger, der auch deutscher Botschafter in den USA war, vor Illusionen in eine Biden-Regierung. „Das Falscheste“, was die EU und Deutschland machen könnten, sei die Hoffnung, „mit einem Biden-Wahlsieg ist der Horror vorbei“ und Deutschland könne in seinen „Winterschlaf zurückkehren“. Die Trump-Präsidentschaft werde hoffentlich, „auch wenn sie jetzt enden sollte, als ein Weckruf für Europa verstanden werden“. Deutschland müsse seine „Hausaufgaben machen“ und seine „Sicherheit und europäische Zukunft stärker selbst in die Hand nehmen“.
Die World Socialist Web Site hat vor den US-Wahlen immer wieder betont, dass die Gefahr nicht einfach von Trump ausgeht, sondern die herrschende Klasse insgesamt mit Militarismus, Faschismus und Krieg auf die tiefste Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren reagiert. Das zeigt sich vor allem auch in Deutschland. Die geplante Rüstungsoffensive – das „Drei-Prozent-Ziel“ läuft auf einen Wehretat von über 100 Milliarden (!) Euro jährlich hinaus – ist die größte seit Hitlers Aufrüstung der Wehrmacht vor dem Zweiten Weltkrieg.
Auch innenpolitisch setzt die herrschende Klasse hierzulande wieder auf Autoritarismus und Diktatur, um die Politik des Militarismus, der sozialen Angriffe und der Herdenimmunität gegen die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen durchzusetzen. „Handlungsfähigkeit nach außen erfordert Standfestigkeit im Inneren: Die Covid-19-Pandemie hat in dramatischer Weise deutlich gemacht, wie wichtig das Thema Resilienz ist“, heißt es im Papier der Münchner Sicherheitskonferenz. „Resilienz“ ist eine Codewort für die systematische Überwachung und Unterdrückung der Bevölkerung.
Nach den US-Wahlen besteht die dringende Aufgabe auch auf dieser Seite des Atlantiks darin, die Arbeiterklasse mit einem internationalen sozialistischen Programm zu bewaffnen, das gegen alle bürgerlichen Parteien und gegen das gesamte kapitalistische System gerichtet ist.