Am Mittwoch, den 28. Oktober veranstaltete die Fakultät für Politikwissenschaft der San Diego State University ein Online-Forum mit David North, dem Leiter der internationalen Redaktion der WSWS, und Adolph Reed, emeritierter Professor der Universität von Pennsylvania. Wir veröffentlichen hier die einleitenden Bemerkungen von David North zu der Veranstaltung.
Eingangs möchte ich der Fakultät für Politikwissenschaft der San Diego State University sowie Jonathan Graubart, Briana Wiley, Emanuele Saccarelli und Latha Varadarajan meinen Dank dafür aussprechen, dass sie diese Diskussion organisiert und mich eingeladen haben. Lassen Sie mich auch sagen, dass ich mich freue, das Podium mit einem so angesehenen Wissenschaftler wie Professor Adolph Reed zu teilen, der theoretisch unbestechlich, politisch kämpferisch und der Sache der Arbeiterklasse ergeben ist.
Ich durfte bereits in den letzten Jahren eine Reihe von Vorträgen an der San Diego State University halten, aber immer persönlich und vor einem sichtbaren Publikum. Diese Veranstaltungen – insbesondere die Diskussionen im Anschluss an den Vortrag – waren immer sowohl angeregt als auch anspruchsvoll. Deshalb möchte ich meine einleitenden Bemerkungen heute möglichst kurz halten, damit viel Zeit für Fragen und einen Meinungsaustausch bleibt.
Latha hat diese Diskussion sehr gut eröffnet, indem sie auf die außergewöhnlichen Umstände hinwies, unter denen wir uns hier treffen. Die Pandemie ist etwas, das wir auf der World Socialist Web Site als „auslösendes Ereignis“ bezeichnet haben. Sie ist in gewisser Weise ein ebenso bedeutendes historisches Ereignis wie der Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Es ist ein Ereignis, das, wenn ich direkt die Studierenden dieser Hochschule ansprechen darf, Ihr Leben tiefgreifend verändern und einen weitreichenden Einfluss auf die Zukunft haben wird. Es ist ein Ereignis, das nicht nur und nicht einmal vorwiegend durch die Wissenschaft und Medizin gelöst werden wird, sondern durch politisches Handeln. Wenn man über die Erfahrungen des vergangenen Jahres – mit der ständig steigenden Zahl der Todesopfer, dem Elend und der Tragödie – eines sagen kann, dann, dass sie den politischen, sozialen, wirtschaftlichen und auch moralischen Bankrott des kapitalistischen Systems vollständig und unwiderruflich offen gelegt haben.
Es ist heute ähnlich wie zum Ausbruch des Ersten Weltkrieg, der die Mythen und das Selbstvertrauen einer Epoche zerstörte, in der der Kapitalismus unbesiegbar schien, bis es 1917 damit vorbei war. Millionen von Menschen auf der ganzen Welt spüren die Folgen dieser Pandemie in allen Teilen der Welt, und zwar unabhängig von ihrer Nationalität, ethnischen Zugehörigkeit, Hautfarbe oder Religion. Latha hat bereits auf die Zahl der Todesopfer in Amerika hingewiesen, die mehr als 227.000 betragen dürfte. Weltweit sind über eine Million Menschen gestorben. In Brasilien beträgt die Zahl der Todesopfer 157.000, in Indien 120.000, in Italien 57.000, in Großbritannien 46.000. Deutschland hat heute bekannt gegeben, dass es erneut stärkere Beschränkungen des öffentlichen Lebens verhängt.
Jeder Versuch, dieses Virus unter Kontrolle zu bringen, ist gescheitert. Und das nicht, weil die Gesellschaft nicht fähig wäre, wirkungsvolle Gegenmaßnahmen zu organisieren, sondern weil alle Maßnahmen zur Eindämmung durch die Anforderungen und Interessen des kapitalistischen Systems vereitelt werden. Nirgendwo zeigt sich dies so offen und krass wie in den Vereinigten Staaten. Schlagartig wurde sichtbar, dass die Gesellschaft im angeblich höchstentwickelten kapitalistischen Land der Welt in sozialer und kultureller Hinsicht so heruntergekommen ist wie nirgendwo sonst.
Vor diesem Hintergrund werden wir über die aktuelle Lage in den Vereinigten Staaten diskutieren. Als ein, wie gesagt, „auslösendes Ereignis“ verschärft und beschleunigt die Pandemie alle Widersprüche, die bereits vor ihrem Ausbruch vorhanden waren. Trump ist nicht unvermittelt der Hölle entstiegen. Er ist nur der deutlichste und übelste Ausdruck der weit fortgeschrittenen Fäulnis des politischen Systems in diesem Land.
Wenn ich meine einleitenden Bemerkungen ganz kurz halten wollte, könnte ich die im Titel dieses Forums gestellte Frage – „Was ist von der amerikanischen Demokratie am Vorabend der Wahlen von 2020 noch übrig?“ – mit zwei Worten beantworten: „Nicht viel.“ Eine solche Antwort ist jedoch ganz offensichtlich nicht ausreichend.
Die Notwendigkeit einer ausführlicheren Erklärung ändert allerdings nichts daran, dass die Zwei-Wort-Antwort richtig ist. Wir sind weniger als eine Woche von den Präsidentschaftswahlen entfernt, und die zentrale Frage, die Millionen Menschen umtreibt, ist nicht, wer am kommenden Dienstag gewinnt, sondern ob das Ergebnis am Wahltag überhaupt darüber entscheiden wird, wer am 20. Januar 2021 ins Weiße Haus einzieht.
Was sind die Fragen, die sich Millionen Menschen stellen oder über die sie nachdenken?
Werden die Wahlen am kommenden Dienstag von Gewalt begleitet sein? Werden bewaffnete Faschisten Wähler bedrohen, die gegen Trump sind? Werden die Stimmen gegen Trump, insbesondere die per Briefwahl abgegebenen, überhaupt ausgezählt? Wird der Oberste Gerichtshof – der nun mehrheitlich mit wüsten Reaktionären besetzt ist – die Auszählung der Stimmen blockieren oder aus dem einen oder anderen vorgeschobenen Grund Zehntausende von Stimmen gegen Trump in den entscheidenden „Battleground States“ für ungültig erklären? Werden die Parlamente in den Bundesstaaten, die von den Republikanern kontrolliert werden, das Wahlergebnis einfach ignorieren, wenn Biden die Mehrheit der Stimmen erhält; und dann – wozu der Oberste Gerichtshof bereits seine Zustimmung signalisiert hat – Wahlmännerlisten festlegen, die bei der Sitzung des Electoral College Ende Dezember für Trump stimmen werden?
Wird Trump das Wahlergebnis akzeptieren, wenn klar festgestellt werden sollte, dass er unterlegen ist? Alles deutet derzeit darauf hin, dass er dies nicht tun wird. Trump wird behaupten, dass die von den Medien gemeldeten Abstimmungsergebnisse „Fake News“ sind, dass die Wahl gefälscht wurde und dass er Präsident bleiben wird.
Und selbst wenn er sich entschließt, das Weiße Haus gezwungenermaßen zu räumen, wird Trump eine bedeutende politische Kraft bleiben. Er wird an seine Anhänger in der Polizei im ganzen Land und bei den rechten Milizen appellieren und sich beschweren, dass man ihm den Dolch in den Rücken gestoßen hätte. Er wird weiterhin eine paramilitärische Truppe aufbauen, die außerhalb der Verfassung steht und auf die er und andere in seinem Gefolge – unter Anwendung von Gewalt und Terror – sich stützen werden, um den Kampf um die Wiedererlangung der Macht fortzusetzen.
Nichts in den politischen Szenarien, die ich eben skizziert habe, ist im Geringsten übertrieben. Es sind auch keine bloßen Mutmaßungen darüber, was noch passieren könnte. Bereits jetzt wird der Wahlkampf von gewalttätigen Verschwörungen dominiert. Erst vor zwei Wochen hat das FBI ein weit fortgeschrittenes Komplott zur Entführung und Ermordung der Gouverneurin von Michigan aufgedeckt. Ähnliche Pläne gab es in Virginia. Es ist offensichtlich, dass die Verschwörer Teil eines nationalen rechten Terrornetzwerks sind.
Noch bedrohlicher als das Komplott selbst war die Reaktion von Trump, den Medien und der Demokratischen Partei. Trump hat, was niemanden überrascht, seine politische und moralische Solidarität mit den Attentätern zu erkennen gegeben und ihnen so gut wie unverhüllt mehr Glück für den nächsten Versuch gewünscht. Wie bereits zuvor prangerte er Michigans Gouverneurin Whitmer an und drohte anderen demokratischen Gouverneuren und gewählten Amtsträgern offen mit physischer Gewalt.
Diesen Vorfall, das schockierendste Ereignis im ganzen Wahlkampf, haben die Medien so gut wie begraben. Das Komplott zur Ermordung der Gouverneurin von Michigan und zum Sturz der Regierung dieses Bundesstaats wurde als nebensächlicher Zwischenfall behandelt, der nur beiläufig erwähnt werden muss. Innerhalb von zwei Tagen war die Geschichte von den Titelseiten der überregionalen Zeitungen, und innerhalb von weniger als einer Woche fast vollständig aus den Nachrichten verschwunden.
Was die Demokraten betrifft, so grenzt ihre Reaktion auf die geplante Ermordung eines führenden Mitglieds ihrer eigenen Partei an völlige Gleichgültigkeit. Sie erklärten sich nur ganz oberflächlich mit Gouverneurin Whitmer solidarisch. Biden sowie der Vorsitzende der Demokratischen Partei im Senat, Charles Schumer, und die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, fordern keine umfassende Untersuchung der terroristischen Verschwörung gegen Whitmer und die Regierung des Bundesstaates. Die Angelegenheit wurde bei der letzten Debatte zwischen Biden und Trump noch nicht einmal erwähnt.
Was ist der Grund für die außergewöhnlich verhaltene Reaktion der Demokraten? Warum haben sie die faschistische Verschwörung Trumps für den Fall seiner Wahlniederlage nicht zu einem zentralen Thema gemacht? Warum warnen sie nicht davor, dass die amerikanische Demokratie insgesamt in Gefahr ist?
Wenn man diese Fragen beantwortet, dringt man zum Kern der Frage vor, die das Thema dieser Veranstaltung ist. Wenn man den Wahlkampf mit einer Metapher beschreiben wollte, könnte man ihn als Schiffbruch der amerikanischen Demokratie in Zeitlupe beschreiben. Trump und sein Gefolge versuchen, die Grundlagen für eine politische Diktatur mit ausgeprägt faschistischem Charakter zu schaffen. Anders kann man sein Vorgehen nicht interpretieren.
Trump spricht für die skrupellosesten Teile der Konzern- und Finanzoligarchie, deren Politik im Wesentlichen darin besteht, alles abzuschaffen, was die Ausbeutung der Arbeiterklasse einschränkt. Deshalb erklärt er so offen und brutal seine Gleichgültigkeit gegenüber dem Verlust von Menschenleben. Nichts darf die Öffnung der Wirtschaft aufhalten. Nichts darf verhindern, dass die Arbeiter in die Fabriken, die Schüler in die Schulen und die Lehrer in ungeschützte Klassenzimmer gejagt werden, nur damit weiterhin Profite in die Kassen der Finanzelite fließen.
Die Demokratische Partei wiederum könnte man als „So tun als ob“-Partei bezeichnen. Es ist eine Partei, die vorgibt, in der Opposition zu sein, die vorgibt, eine Volkspartei zu sein, aber in Wirklichkeit nicht weniger an die herrschende Oligarchie gebunden ist als die Republikaner selbst. In der Arbeitsteilung der amerikanischen Politik erfüllt sie eine ganz bestimmte Funktion: Sie macht ihren ganzen Einfluss geltend, um zu verhindern, dass eine Protestbewegung von unten entsteht, die die finanziellen Interessen der Machthaber ernsthaft gefährden könnte.
Es geht ihnen nicht in erster Linie um Trumps Drohungen gegen die Demokratie, nicht um die Gefahr einer Diktatur, sondern darum, dass der Widerstand dagegen zu einer Massenbewegung werden könnte, die die finanziellen und militärischen globalen Interessen des amerikanischen Kapitalismus und Imperialismus bedroht.
So ist im Wesentlichen die Lage. Was steckt dahinter? Man kann nicht ernsthaft über die politische Realität in Amerika diskutieren, ohne das erschütternde Ausmaß der sozialen Ungleichheit anzusprechen. Marx hatte Recht. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte von Klassenkämpfen. In der heutigen Zeit ist es die Geschichte des Kampfs zwischen der Kapitalistenklasse und der Arbeiterklasse.
Wenn es eine Wahl gibt, die sich mit der gegenwärtigen Situation in den Vereinigten Staaten vergleichen lässt, dann ist es die Wahl von 1860. Damals war ein wesentlicher Teil des Landes, in dem die Sklavenbesitzer das Sagen hatten, nicht bereit, ein Wahlergebnis zu akzeptieren, das einen gegen die Sklaverei eingestellten Präsidenten ins Weißen Haus brachte. Als sich zeigte, dass diese Wahl ihren Interessen entgegenstand, begannen sie einen Aufstand, der in den Bürgerkrieg mündete. Der Konflikt, der sich nicht unterdrücken ließ, brach sich schließlich in einem offenen Krieg Bahn.
Vor der Wahl hatte Lincoln bekanntlich gesagt, dass die Vereinigten Staaten nicht überleben können, wenn sie halb für die Sklaverei und halb für die Freiheit sind. Auch die Demokratie kann nicht bestehen in einem Land, in dem praktisch der gesamte Reichtum von den reichsten 0,1 Prozent oder 5 Prozent der Bevölkerung vereinnahmt wird, in dem es relativ wohlhabende 10 Prozent gibt, während die restlichen 90 Prozent auf verschiedenen Stufen wirtschaftlicher Not oder in völliger Armut leben.
Dies sind die Verhältnisse, die die Demokratie in Amerika und auch rund um die Welt untergraben. In jedem Land regiert eine Oligarchie. In Amerika nimmt dies besonders ungeheuerliche und offene Formen an, aber im Grunde ist die Situation überall auf der Welt die gleiche.
Das ist das Problem, das der Krise hier zugrunde liegt, und deshalb gibt es daraus keinen Ausweg und keine Möglichkeit, die Demokratie zu verteidigen, außer der, sie auf einer ganz neuen Grundlage wiederherzustellen: auf der Grundlage des Sozialismus, auf der Grundlage des Übergangs der Macht an die Arbeiterklasse, die große Mehrheit der Bevölkerung. Dies ist nicht nur eine amerikanische Frage, es ist eine globale Frage. Und es ist keine Frage der Hautfarbe, mit der unaufhörlich von den eigentlichen Problemen abgelenkt wird. Es geht um das Schicksal der großen Mehrheit auf der Welt, die aus arbeitenden Menschen besteht, d. h. aus der Arbeiterklasse.
Wenn wir über das Schicksal der amerikanischen Demokratie oder demokratischer Rechte überall auf der Welt sprechen, müssen wir uns darüber klar werden, an welchem Punkt wir stehen. Die große Frage in der jetzigen Zeit ist, dass Demokratie nur auf der Grundlage sozialer Gleichheit, durch die Abschaffung des kapitalistischen Systems möglich ist.
Ich spreche hier sowohl als Herausgeber der World Socialist Web Site als auch als Vorsitzender der Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten. Ich hoffe, dass ihr sehr genau über die Situation nachdenken werdet, mit der ihr als Studierende, als junge Menschen, als Arbeiter konfrontiert seid, und zu dem Schluss kommt, dass ein grundlegender und tiefgreifender Wandel in der Gesellschaft notwendig ist, der alle Teile der Arbeiterklasse vereint.