Belarus: Opposition ruft Generalstreik gegen Lukaschenko-Regierung aus

Die Pattsituation zwischen der EU- und Nato-freundlichen belarussischen Opposition und dem Regime von Alexander Lukaschenko hat ein neues Stadium erreicht, nachdem die Opposition am Montag einen Generalstreik ausgerufen hat. Am Sonntag hatten mehr als 100.000 Demonstranten erneut den Rücktritt von Lukaschenko gefordert, der sich selbst zum Sieger der Präsidentschaftswahl am 9. August erklärt hatte. Die Bereitschaftspolizei setzte Blendgranaten gegen die Demonstranten ein und verhaftete mindestens 500 Menschen.

Am gleichen Abend ignorierte Lukaschenko das „Ultimatum“ der Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja, sein Amt niederzulegen. Tichanowskaja beansprucht ebenfalls den Sieg in der Präsidentschaftswahl und lebt seit August im litauischen Exil. Die Opposition behauptet, Zehntausende Arbeiter, Schüler und Studierende seien am Montag ihrem Aufruf zum Generalstreik gefolgt. Allerdings beteiligten sich scheinbar vorwiegend Schüler und Studenten an den Streiks und Demonstrationen.

In der Hauptstadt Minsk versammelte sich eine große Menge von Studierenden vor der Belarussischen Staatlichen Universität (BGU), vertrieb die Sicherheitskräfte und blockierte Straßen im Stadtzentrum. Beschäftigte von Kommunikationsunternehmen und sechs verschiedenen städtischen Krankenhäusern sollen sich an den Protesten beteiligt haben. In den sozialen Netzwerken kursierten Bilder, auf denen Proteste und Streiks von Studenten und Schülern im ganzen Land zu sehen sind. Viele Cafés, Restaurants und Bibliotheken blieben Berichten zufolge ebenfalls geschlossen. In Minsk und anderen Städten beteiligten sich Rentner an den Großdemonstrationen gegen Lukaschenko.

Kundgebung gegen Lukaschenko in Minsk am 25. Oktober (Quelle: Homoatrox / CC BY-SA 3.0)

Laut dem Telegram-Kanal NEXTA nahmen auch viele Bahnarbeiter am Streik teil, sodass es am Montag zu beträchtlichen Einschränkungen des Zugverkehrs kam. NEXTA, der mittlerweile wichtigste Kanal der Opposition, wird von einem jungen belarussischen Blogger betrieben, hinter dem eine Stiftung in Warschau steht, die wiederum von der rechtsextremen polnischen Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) finanziert wird.

NEXTA berichtete außerdem über eine Demonstration von 200 Arbeitern des Kunstdüngerwerkes Grodno Asot im Westen des Landes, die am Montagmorgen den Streik unterstützte. Dabei sollen mindestens 50 Teilnehmer verhaftet worden sein. Am Dienstag rief die Opposition zu einem „Wirtschaftsboykott“ gegen das Regime auf, u.a. durch einen Boykott von Unternehmen, die von Personen aus Lukaschenkos Umfeld geführt werden. Sie riefen außerdem dazu auf, generell Einkäufe zu reduzieren und die Zahlung von Nebenkosten für zwei Monate zu verweigern.

Laut einer Analyse des Handelsblatts hat die Streikwelle im August und Anfang September die belarussische Wirtschaft „an den Rand des Zusammenbruchs“ gebracht und Ausfälle in Höhe von Milliarden Dollar verursacht. Das belarussische BIP lag 2019 bei unter 60 Milliarden Dollar. Die Streikkomitees, die damals gegründet wurden, sind laut Medienberichten seitdem aufgelöst worden oder zusammengebrochen.

Bisher sieht es nicht so aus, dass die Streiks ein so großes Ausmaß wie im August angenommen haben. Allerdings fürchtet das Lukaschenko-Regime eindeutig die Ausbreitung von Streiks in der Arbeiterklasse sowie das Anwachsen der Bewegung unter Jugendlichen und bereitet sich auf die gewaltsame Unterdrückung der Proteste vor. Am Dienstag warnte Lukaschenko in einem Gespräch mit seinen Ministern vor einer drohenden „Radikalisierung“ und erklärte, die Regierung sei mit einem „terroristischen Krieg“ von „kriminellen, organisierten Banden“ konfrontiert.

Er betonte, die Demonstranten hätten „eine rote Linie überschritten“ und wies sein Kabinett an: „Versuchen Sie nicht, irgendjemanden zu überzeugen – nicht die Arbeiter, nicht die Studenten, nicht die Lehrkräfte, die Ärzte oder die Beschäftigten im öffentlichen Dienst. ... Wer sich illegal an nicht genehmigten Protesten beteiligt hat, hat sein Recht auf ein Studium verwirkt. Stecken Sie sie ins Militär oder setzen Sie sie auf die Straße, aber sie müssen aus den Hochschulen verschwinden. Das Gleiche gilt für die Lehrkräfte – es sind nur wenige, aber diejenigen, die sich in den Hochschulen empörend verhalten, [müssen entlassen werden]. Ich wiederhole: Versuchen Sie nicht, irgendjemanden zu überzeugen, das ist zwecklos. ... Ich appelliere erneut an die Eltern der Schüler und Studenten: Sorgen Sie dafür, dass Ihre Kinder von der Straße kommen, andernfalls wird es schmerzhaft.“

Die russische Regierung verweigerte eine Stellungnahme zur Situation und betonte, dass sie Lukaschenko keine Empfehlungen gebe, wie er auf die Proteste und Streiks reagieren soll. Allerdings soll der Chef des russischen Auslandsgeheimdienstes Sergei Naryschkin Lukaschenko am 22. Oktober im Präsidentenpalast besucht haben.

Offenbar herrscht große Sorge wegen der Streiks und der Tatsache, dass Lukaschenko die Protestbewegung auch nach elf Wochen noch nicht unterdrücken konnte. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow erklärte am Montag: „Natürlich beobachten wir die Situation. Es ist für uns sehr wichtig, dass die Fabriken in Belarus zuverlässig und pünktlich funktionieren.“

Die Onlinezeitung Gazeta.ru veröffentlichte eine Analyse der potenziellen Folgen von großen Streiks in Belarus auf die russische Wirtschaft. Etwa 45 Prozent aller belarussischen Exporte gehen nach Russland, das vor allem von der belarussischen Produktion von Traktoren und Zulieferteilen für die russische Rüstungsindustrie abhängig ist und in beträchtlichem Ausmaß Milchprodukte aus Belarus bezieht. Laut Gazeta.ru ist Moskaus größte Befürchtung, dass Streiks den Betrieb der Ölpipeline Druschba beeinträchtigen könnten, die russisches Öl durch Belarus an die Europäische Union liefert. Russlands Wirtschaft ist bereits durch die Corona-Pandemie schwer getroffen, sein Bruttoinlandsprodukt wird dieses Jahr voraussichtlich um neun Prozent sinken.

Noch mehr als die wirtschaftlichen Auswirkungen der Streiks in Belarus fürchtet die russische Oligarchie jedoch ein Übergreifen der Proteste auf Russland. In der russischen Arbeiterklasse herrscht große soziale und politische Wut über die massenhafte Verelendung der Bevölkerung und die Corona-Politik der „Herdenimmunität“.

Nach der jahrzehntelangen stalinistischen Herrschaft und der Wiedereinführung des Kapitalismus durch die stalinistische Bürokratie sind die Arbeiter in Belarus, Russland und im Rest der Region mit den gleichen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Problemen konfrontiert. Doch jeder Kampf für sozialen und politischen Fortschritt erfordert die unabhängige Intervention der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines sozialistischen und internationalen Programms.

Ein solcher Kampf ist nur möglich auf der Grundlage eines bewussten politischen Bruchs mit Tichanowskajas rechter, extrem nationalistischer und antikommunistischer Opposition, die von den imperialistischen Mächten unterstützt wird. Trotz ihrer begrenzten Appelle an die weit verbreitete soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit steht die Opposition der Arbeiterklasse zutiefst feindselig gegenüber. Sie spricht für Teile der herrschenden Klasse und des gehobenen Kleinbürgertums, die durch eine engere Anbindung des Landes an die EU und die Nato ihre eigenen sozialen Interessen durchsetzen wollen.

Anfang Oktober hatte sich Tichanowskaja mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, Bundeskanzlerin Angela Merkel und Außenminister Heiko Maas getroffen. Zweifellos spricht die Opposition mittlerweile alle wichtigen Schritte mit Berlin und Paris ab. Die Opposition erhält außerdem finanzielle Unterstützung und befindet sich in Diskussionen mit den Regierungen von Polen und den baltischen Staaten, die allesamt extrem anti-russisch und nationalistisch sind.

Vor allem der deutsche Imperialismus betrachtet die Krise des Lukaschenko-Regimes als Gelegenheit, seinen eigenen Einfluss in der Region zu stärken und Russland zu schwächen. Angesichts der zunehmenden interimperialistischen Spannungen mit den USA und des internationalen Wirtschaftszusammenbruchs hat Berlin jüngst seine Intervention in Osteuropa deutlich ausgeweitet. In dieser Hinsicht besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Berlins aggressiver Intervention in den hochgradig zweifelhaften Fall des oppositionellen Putin-Gegners Alexei Nawalny und der Unterstützung für Tichanowskajas Opposition in Belarus.

Deutsche Unternehmen haben in der Region bereits in erheblichem Maß Fuß gefasst und sie nach der Wiedereinführung des Kapitalismus 1989–1991 in eine Plattform billiger Arbeitskräfte für den deutschen Kapitalismus verwandelt. Belarus ist außerdem in Bezug auf geostrategische Erwägungen und Kriegsvorbereitungen gegen Russland von enormer Bedeutung. Nach der Ukraine, wo Berlin und Washington im Jahr 2014 einen rechtsextremen Putsch unterstützt haben, ist Belarus das letzte Land an der russischen Westgrenze, das nicht direkt mit der Nato verbündet ist. Obwohl Lukaschenko in den letzten Jahren bereits versucht hat, das Gleichgewicht zwischen der Nato und Russland zu halten, wäre die Einsetzung eines offen pro-westlichen Regimes in Minsk ein schwerer geostrategischer Schlag für Moskau. Deutschland und die USA versuchen außerdem, den Einfluss Chinas zurückzudrängen, das unter Lukaschenko zu einem der wichtigsten Investoren in die belarussische Wirtschaft geworden ist.

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