Verdi fällt Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in den Rücken

Es war ein Ausverkauf mit Ansage. In der Nacht von Samstag auf Sonntag hat sich die Gewerkschaft Verdi mit Bund und Kommunen auf einen Tarifabschluss für die 2,5 Millionen Beschäftigten des öffentlichen Diensts geeinigt, der kaum höher liegt als das provokative erste Angebot der Arbeitgeber.

Die Warnstreiks der vergangenen Wochen, in denen Zehntausende ihre Kampfbereitschaft unter Beweis stellten, dienten der Gewerkschaft lediglich als Begleitmusik für ein abgekartetes Spiel, dessen Ergebnis von vornherein feststand. Verdi-Chef Frank Werneke hatte bereits kurz vor der dritten Verhandlungsrunde angedeutet, dass die Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft (Verdi) ihre offizielle Forderung längst aufgegeben hat und einen sofortigen Abschluss zu den Bedingungen der Arbeitgeber anstrebt.

Diese hatten angeboten, die Löhne und Gehälter in den kommenden 36 Monaten in drei Stufen – beginnend ab März 2021 – um insgesamt 3,5 Prozent zu erhöhen. Nun steigen die Entgelte in den kommenden 28 Monaten bis Ende 2022 in zwei Stufen um 3,2 Prozent.

Die öffentlichen Arbeitgeber hatten gefordert, dass in den ersten sechs Monaten keine Erhöhung erfolgt. Verdi hat jetzt vereinbart, dass diese Zeit um einen weiteren Monat verlängert wird. Der alte Tarifvertrag war Ende August 2020 ausgelaufen. Die erste Erhöhung von 1,4 Prozent kommt zum April nächsten Jahres. Die zweite Erhöhung erfolgt zum 1. April 2022 und beträgt 1,8 Prozent.

Die von Verdi öffentlich genannte Zahl, eine Erhöhung von 4,5 Prozent über 28 Monate, gilt nur für die unterste Entgeltgruppe und -stufe. Weil die erste Erhöhung mindestens 50 Euro beträgt und das niedrigste monatliche Bruttogehalt bei mageren 1929,88 Euro liegt, kommen diese Beschäftigten am Ende der Laufzeit auf eine Steigerung von insgesamt 4,5 Prozent. Von der 4,8-Prozent-Forderung bei einer Laufzeit von 12 Monaten, mit der Verdi in die Tarifverhandlung eingetreten war, ist das selbst für die Geringverdiener im öffentlichen Dienst meilenweit entfernt.

Zusätzlich erhalten die Beschäftigten noch in diesem Jahr eine Einmalzahlung, genannt Corona-Prämie, die 300 Euro für die oberen Lohngruppen (Entgeltgruppen 13-15), 400 Euro für die mittleren (9-12) und 600 Euro für die unteren Entgeltgruppen (1-8) beträgt. Auszubildende in den Kommunen erhalten 225 Euro, die des Bundes 200 Euro. Die tarifvertraglichen Regelungen zur Übernahme der Auszubildenden sowie zur Regelung der Altersteilzeit werden in den nächsten 28 Monaten zunächst fortgeschrieben.

Verdi hatte die Spaltung der Beschäftigten forciert, indem sie für die Beschäftigten in der Pflege an einem eigens eingerichteten „Sondertisch Pflege“ mehr verlangte als für andere Beschäftigtengruppen. Auch hier liegt das Ergebnis nur unwesentlich höher als das erste Arbeitgeber-Angebot. Die Gesamtsteigerung beträgt hier laut Verdi 8,7 Prozent und in der Spitze für Intensivkräfte rund zehn Prozent, statt der von den Arbeitgebern bereits angebotenen 8,5 Prozent.

Auch diese prozentualen Erhöhungen errechnen sich wieder ausschließlich aus den Steigerungen bei den jeweils untersten Entgeltgruppen, da Verdi für die Beschäftigten in der Pflege Zulagen von 70 bzw. 120 Euro zusätzlich zu den beiden prozentualen Steigerungen vereinbart hat. Die monatliche Zulage in der Intensivmedizin steigt um gut 50 auf 100 Euro, die Wechselschichtzulage um 50 auf 155 Euro.

Verdi preist als Durchbruch, dass die Angleichung der Arbeitszeit im Osten an die im Westen auf 39-Wochenstunden zum 1. Januar 2023, d.h. in mehr als zwei Jahren, statt wie von den Arbeitgebern gefordert zum 1. Januar 2024 erfolgt. Dann werden im Osten „nur“ 33 statt 34 Jahre lang andere Arbeitszeiten gegolten haben.

Die Sonderzulagen in der Pflege werden teilweise auf Kosten anderer Beschäftigtengruppen finanziert. Die rund 175.000 Sparkassenangestellten starten nicht mit acht, sondern mit zehn Monaten ohne Lohnerhöhung. Am 1. Juli 2021 erhalten sie 1,4 Prozent mehr, ein Jahr später sind es nur 1,0 Prozent. „Eine Angleichung auf das Niveau des allgemein vereinbarten Abschlusses findet erst zum Ende der Laufzeit ab 1. Dezember 2022 statt“, berichtet die Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA). Zudem wird ihnen zukünftig auch ein Teil ihrer Jahressonderzahlung (Weihnachtsgeld) in freie Tage umgewandelt.

Die öffentlich Beschäftigten an Flughäfen erhalten gar keine Lohn- oder Gehaltserhöhung, ihre Gehälter werden im Gegenteil gekürzt. „Angesichts eingebrochener Fluggastzahlen“ wollen Verdi und die Arbeitgeber zeitnah „einen Notlagentarifvertrag für die Flughäfen abschließen, der Personalkosten senkt“, berichtet der VKA.

Wie bereits der letzte Tarifvertrag sichert auch dieser den öffentlichen Verwaltungen eine außergewöhnlich lange Tariflaufzeit. Die Belegschaften sind in Zeiten, in denen als Folge der Corona-Pandemie heftige Auseinandersetzungen zu erwarten sind, zur Friedenspflicht verdonnert. Die Tarifvereinbarung läuft bis zum 31. Dezember 2022.

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte, der Tarifabschluss bewege sich an der Grenze des finanziell Verkraftbaren. Der Lüneburger Oberbürgermeister Ulrich Mädge (SPD), VKA-Präsident und Verhandlungsführer der öffentlichen Arbeitgeber, sprach von einem „wirtschaftlich verkraftbaren Abschluss“, „der den kommunalen Arbeitgebern Planungssicherheit gibt“. Der Abschluss sei maßvoll und trage den finanziellen Besonderheiten der Corona-Krise Rechnung. Insgesamt umfasse das Paket ein Volumen von rund 4,9 Milliarden Euro.

4,9 Milliarden Euro verteilt auf zweieinhalb Jahre für die Beschäftigten in Altenheimen, Krankenhäusern, Kitas, Müllabfuhr, Straßendienst, Gesundheitsämtern, usw.! Das entspricht einem Bruchteil von 0,36 Prozent der 1,33 Billionen Euro, die in Form von Konjunktur- und Corona-Hilfspaketen auf die Konten von Banken und Unternehmen fließen. Die Anleihenkäufe der Europäischen Zentralbank in Höhe von 1 Billion Euro und die 750 Milliarden Euro des EU-Hilfspakets sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.

Diese Summen werden aus den Beschäftigten des öffentlichen Diensts und der Privatwirtschaft wieder herausgepresst. Das ist der Grund für den miserablen Abschluss für die Beschäftigten der Kommunen und des Bundes. Die Vertreter der etablierten Parteien, die die öffentlichen Arbeitgeber stellen, haben eine regelrechte Hetzkampagne gegen sie losgetreten.

Verhandlungsführer Mädge, ein Sozialdemokrat, der selbst Verdi-Mitglied ist, mahnte, man könne nicht verteilen, was nicht vorhanden sei. Kurz vor der dritten und letzten Verhandlungsrunde, die am Donnerstag begann, stimmten die Medien mit vereinter Kraft in diesen Chor ein. In den Tagesthemen beschimpfte Kirsten Girschick vom Bayerischen Rundfunk die Forderungen der Beschäftigten im öffentlichen Dienst als „unsolidarisch“, Streiks der Kita-Erzieherinnen und der Bus- und Bahnfahrer sogar als „unverantwortlich“. Die Wirtschaft schrumpfe und die Steuereinnahmen würden wegbrechen.

Nahezu gleichlautend argumentierte Nikolaus Piper in der Süddeutschen Zeitung. Der Arbeitskampf sei „einer der unnötigsten und unsolidarischsten“ in der „bundesdeutschen Geschichte“. Weil für die Kommunen die Steuereinnahmen wegbrächen, seien die Forderungen von Busfahrern, Müllwerkern und Sparkassenangestellten „maßlos“. „Insgesamt 4,8 Prozent mehr Lohn für ein Jahr zu fordern, während die deutsche Wirtschaft um 5,4 Prozent schrumpft, darauf muss man erst einmal kommen“, ereifert sich der Zeitungsredakteur.

Die gutverdienenden Redakteure in führenden Tageszeitungen und TV-Sendern, auch den öffentlich-rechtlichen, hatten sich nicht beschwert, als die Bundesregierung in den Worten von Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) die „Bazooka“ herausholte und Billionen an die Unternehmen verteilte.

Einmal mehr hat sich gezeigt, dass die Arbeiterklasse mit einer breiten Front aus Berliner Parteien, Leitmedien, Unternehmen und Gewerkschaften konfrontiert ist.

Auch Verdi hat den Ausverkauf mit der schlechten wirtschaftlichen Lage begründet. „Das ist unter den derzeitigen Bedingungen ein respektabler Abschluss, der für unterschiedliche Berufsgruppen, die im Fokus der Tarifrunde standen, maßgeschneidert ist“, sagte Verdi-Chef Frank Werneke gestern.

Mit der Öffnung der Schulen und dem Wiederhochfahren der Produktion setzen Regierungen und Unternehmen unzählige Menschenleben aufs Spiel, damit die Profite der Konzerne und Banken wieder sprudeln und die Milliarden-Gelder wieder hereinkommen, die an die Unternehmen verteilt werden. Gerade die Beschäftigten in Gesundheit, Pflege, Lebensmittelversorgung, Logistik, Transport und anderen lebensnotwendigen Bereichen sind wegen fehlenden oder nicht umsetzbaren Schutzmaßnahmen tagtäglich hohen Gefahren ausgesetzt.

Doch Verdi hat in diesen Tarifverhandlungen nicht eine einzige Forderung aufgestellt, um Gesundheit und Leben der Beschäftigten im öffentlichen Dienst vor den Folgen der Pandemie zu schützen. Stattdessen arbeitet sie eng mit Staat und Konzernen zusammen, um die Milliardengeschenke an die Konzerne aus der Arbeiterklasse herauszupressen und die Beschäftigten zurück an die Arbeit zu zwingen.

Die World Socialist Web Site und die Sozialistische Gleichheitspartei haben in den letzten Wochen vor dem Ausverkauf gewarnt und die Beschäftigten in allen Bereichen aufgerufen, „unabhängig von den Gewerkschaften ein Netzwerk von Aktionskomitees aufzubauen, um einen Generalstreik gegen die Schulöffnungen und die gesamte Politik der herrschenden Klasse vorzubereiten“. Der jetzige Ausverkauf sollte allen Beschäftigten im öffentlichen Dienst den Anstoß geben, diese Initiative aufzugreifen.

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