In dieser Woche hat die Welt den düsteren Meilenstein von einer Million Corona-Toten überschritten. Weltweit nimmt die Pandemie erneut an Fahrt auf. In den USA sind über 210.000 Menschen gestorben, in Brasilien 143.200, in Indien 98.700 und in Mexiko 77.200.
Das Virus breitet sich weiterhin im gesamten Süden aus, Indien erreichte am Mittwoch erschütternde 86.748 neue Fälle an einem Tag.
In Europa, schon früh ein Hotspot der Pandemie, steigen die Corona-Zahlen erneut rasant an. In Großbritannien wurden in den letzten 24 Stunden weitere 7.108 Fälle gemeldet – eine der höchsten Zahlen seit Beginn der Pandemie.
In der vergangenen Woche, am 24. September, registrierte Frankreich einen neuen Höchststand von 16.096 Fällen, mehr als dreimal so viel wie im März, auf dem bisherigen Höhepunkt der Pandemie.
Doch obwohl in den Herbst- und Wintermonaten in Amerika und Europa mit einem weiteren Anstieg der Pandemie gerechnet wird, geben Regierungen auf der ganzen Welt jegliche Bemühungen zur Eindämmung des Virus auf.
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir einfach aufgegeben haben und die Epidemie laufen lassen“, sagte Carlos Del Rio, Medizinprofessor an der Emory University, am Dienstag dem Wall Street Journal. Das ist tatsächlich die Haltung, die in Regierungen und Parlamenten auf der ganzen Welt zunehmend vorherrscht.
Frankreich erlebt gerade die schlimmste Welle in ganz Europa. Doch Präsident Emmanuel Macron erklärte im vergangenen Monat, die französische Bevölkerung müsse „lernen, mit dem Virus zu leben“. Damit legte er seine frühere Rhetorik über einen „Krieg“ gegen die Krankheit ab. Jetzt sagt Macron: „Es muss alles getan werden, um einen totalen Lockdown zu vermeiden.“
Die Theorie der „Herdenimmunität“, anfangs nur von Rechtsextremen wie dem brasilianischen Machthaber Jair Bolsonaro offen vertreten, wird jetzt in den USA und Europa propagiert und gewinnt Anhänger „an der Wall Street“ und unter „Unternehmenschefs“, wie die New York Times kürzlich bemerkte.
Die Trump-Regierung hat jeden Anschein einer Pandemiebekämpfung aufgegeben. Nirgendwo wird das offensichtlicher, als bei Trumps Umgang mit den führenden Gesundheitsexperten, die er faktisch verdrängt und durch den rechtsextremen Quacksalber Scott Atlas ersetzt hat. Atlas wirbt dafür, die Bevölkerung absichtlich mit Covid-19 zu infizieren.
Am Montag fand zum zweiten Mal in Folge ein großes Briefing im Weißen Haus ohne Anwesenheit der erfahrenen Gesundheitsexperten Anthony Fauci, Deborah Birx und Robert Redfield statt. Das Podium hatte vielmehr Scott Atlas.
Am 23. September erklärte Trump auf einer Pressekonferenz, dass er sein Amt nicht friedlich übergeben werde, wenn Biden gewählt wird. Dann gab er Atlas die Möglichkeit, die gesamte Veranstaltung zu dominieren. Dieser attackierte daraufhin Robert Redfield, den Direktor der Centers for Disease Control (CDC), die für die Bekämpfung von Epidemien zuständig sind. Atlas behauptete, Redfield würde die Gefahr der Pandemie „falsch darstellen“.
Die effektive Absetzung der führenden nationalen Gesundheitsexperten wurde ohne jeden Widerstand oder Protest seitens eines Mitglieds der nominalen Oppositionspartei akzeptiert.
Es blieb den Wissenschaftlern überlassen, sich zu verteidigen. NBC News berichtete über ein verzweifeltes Telefongespräch, in dem sich Redfield beschwerte, dass Atlas „Trump mit irreführenden Daten über eine Reihe von Themen bewaffnet, darunter die Infragestellung der Wirksamkeit von Masken und der Gefährdung junger Menschen durch das Virus sowie die potenziellen Vorteile von Herdenimmunität“.
Laut NBC äußerte sich Redfield verzweifelt über Atlas: „Alles, was er sagt, ist falsch.“ Auf die Frage nach einem Kommentar zu Redfields Aussagen kritisierte auch Fauci den Quacksalber: „Ich glaube, Sie wissen, wer der Ausreißer ist.“
Fauci, Birx und Redfield haben, zumindest in der Öffentlichkeit, dafür plädiert, dass die Regierung versuchen sollte, die Pandemie einzudämmen und zu verhindern, dass Menschen sich infizieren. Sie haben die Bevölkerung aufgefordert, Maßnahmen wie das Maskentragen einzuhalten.
Atlas spricht sich dafür aus, nichts dagegen zu unternehmen, dass sich die Pandemie in breiten Bevölkerungsschichten ausbreitet. Im Juli drückte er es so aus: „Gruppen mit geringem Risiko, die sich infizieren, stellen kein Problem dar. Im Gegenteil, das ist sogar positiv.“
Angesichts dieser Entwicklungen ist das ohrenbetäubende Schweigen der Medien ungeheuerlich. Es wird weder berichtet, geschweige denn kritisiert, dass das Weiße Haus faktisch die Politik der „Herdenimmunität“ übernommen hat.
Als Trump im April in einer seiner weitschweifenden Reden auf einer Pressekonferenz darüber spekulierte, ob man Covid-19 nicht durch das Spritzen von Desinfektionsmittel in die Lunge behandeln könnte, sprach die Presse tagelang von nichts anderem. So unverantwortlich Trumps Geschwätz über solche Quacksalberbehandlungen auch sein mag, sie haben vermutlich nur einer Handvoll seiner verblendeten Anhänger geschadet, die seinem Rat gefolgt sind.
Aber Atlas bestimmt faktisch die Politik für ein ganzes Land, die zu Hunderttausenden von zusätzlichen Todesopfern führen könnte – und diesmal kommt kein Mucks aus dem politischen Establishment.
Dieses Schweigen folgt einer eindeutigen Klassenlogik. In seinem letzten Interview mit Laura Ingraham hatte Atlas eine Losung: Öffnet die Schulen!
Aber genau das tun auch die demokratischen Gouverneure, Bürgermeister und Gesetzgeber der Bundesstaaten. New York, der größte Schulbezirk mit über einer Million Schülern, hat am Dienstag den Präsenzunterricht für Grundschulkinder wieder aufgenommen, höhere Klassen müssen ab dem heutigen Donnerstag in die Schule.
Die Wiedereröffnung von Schulen wird von dem „progressiven“ Bürgermeister Bill de Blasio und dem Gouverneur Andrew Cuomo, beide Demokraten, vorangetrieben.
Im ganzen Land haben die Schulöffnungen einen deutlichen Anstieg der Infektionen unter Kindern im Schulalter zur Folge, die jetzt 10 Prozent der Corona-Fälle ausmachen. Im April waren es noch 2 Prozent.
Der überparteiliche Charakter der Kampagne für Schulöffnungen und die Rückkehr der Lehrer zur Arbeit steht ganz im Einklang mit der gesamten Reaktion auf die Pandemie, die ausschließlich von den Finanzinteressen der herrschenden Klasse diktiert wurde.
Anfang dieses Monats veröffentlichte der langjährige Journalistder Washington Post, Bob Woodward, eine Aufnahme von Trump, in der er sagte, er habe bewusst versucht, die Gefahr der Pandemie „herunterzuspielen“.
Weiteres Material in seinem Buch macht deutlich, dass Trump nur die Spitze einer viel umfassenderen Verschwörung war, um die Bedrohung durch die Pandemie zu vertuschen. Der Kongress und führende Regierungsvertreter waren daran beteiligt.
Laut Woodward haben Fauci und Redfield am 9. Februar 25 Gouverneure der Bundesstaaten in einem geheimen Briefing informiert und versucht, ihre Zuhörer „in Angst und Schrecken zu versetzen“:
Der Corona-Ausbruch wird noch viel, viel schlimmer werden, bevor es wieder bergauf geht, warnte Redfield. Wir haben noch nicht einmal einen Vorgeschmack der schlimmsten Ausmaße gesehen, sagte Redfield und ließ seine Worte sacken. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass das, was in China passiert, hier nicht auch passieren wird, sagte er. Damals gab es in China fast 40.000 Fälle mit mehr als 800 Todesopfern, kaum fünf Wochen nach Bekanntgabe der ersten Fälle. Ich stimme voll und ganz zu, erklärte Fauci gegenüber den Gouverneuren. Dies ist eine sehr ernste Angelegenheit. Sie müssen auf Probleme in Ihren Städten und Staaten vorbereitet sein. Fauci konnte die Beunruhigung in den Gesichtern der Gouverneure sehen. „Ich glaube, wir haben sie in Angst und Schrecken versetzt“, sagte Fauci nach dem Treffen.
Woodward bemerkte jedoch, dass die offizielle Pressemitteilung ein völlig falsches Bild zeichnete: „Das Gremium bekräftigte, dass ... das Risiko für die amerikanische Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt gering bleibt.“ Die US-Medien mit ihren unzähligen „anonymen Quellen“ in den staatlichen Geheimdiensten versäumten es, über das Briefing zu berichten. Die New York Times veröffentlichte erst mehr als zwei Wochen danach einen Leitartikel über die Corona-Pandemie.
Tatsächlich gibt es eine grausame Kontinuität zwischen der Vertuschungspolitik Anfang des Jahres und den jetzigen Versuchen, jegliche Eindämmung der Pandemie in den Vereinigten Staaten und in ganz Europa aufzugeben.
Die herrschende Klasse hat weltweit nur eine Sorge, nämlich wie sie die Pandemie als Vorwand nutzen kann, um Billionen auf die Konten der Unternehmen zu schieben. Innerhalb weniger Tage nach der Verabschiedung des CARES-Gesetzes wurde das Motto, „die Heilung darf nicht schlimmer als die Krankheit sein“, aus allen Rohren geschossen – von den Kolumnen der New York Times bis zum Twitter-Account von Donald Trump. Es diente als Rechtfertigung für die Kampagne, den Lockdown vorzeitig zu beenden.
Inmitten der Pandemie die Arbeiter wieder in die Betriebe zu zwingen, hat zu einem massiven Anstieg der Fallzahlen und unzähligen Toten geführt.
Aus Sicht der herrschenden Klasse nützt die Pandemie mittlerweile mehr, als dass sie schadet. Sie tötet ältere Menschen, die keine Gewinne mehr erwirtschaften können, womit weniger Gelder für ihre Versorgung aufgewendet werden müssen.
Diese Politik hat zu mehr als 200.000 Toten in Amerika und über einer Million Toten in der ganzen Welt geführt, das Leben von Millionen weiteren ist bedroht.
Doch inmitten dieser düsteren Katastrophe tritt eine andere gesellschaftliche Kraft auf die Bühne. Arbeiter in mehr als einem Dutzend großer Betriebe in den Vereinigten Staaten und international haben sich unabhängig von den korrupten Gewerkschaften in Aktionskomitees zusammengeschlossen. Sie wehren sich dagegen, dass die Konzerne versuchen, Infektionen zu vertuschen und alle Sicherheitsmaßnahmen zu schleifen, die noch in Kraft sind.
Wenn Arbeiter beginnen, sich gegen die kriminelle Politik ihrer Arbeitgeber zu wehren, sind sie direkt mit dem gesamten kapitalistischen System konfrontiert. Sie müssen die Schlussfolgerung ziehen, dass der Kampf für die Erhaltung des menschlichen Lebens mit dem Kampf gegen den Kapitalismus untrennbar verbunden ist.