Die Massenprotest- und Streikbewegung in Belarus, die als Reaktion auf die Präsidentschaftswahl am 9. August entstanden ist, wächst weiter. Am Sonntag fand in der Landeshauptstadt Minsk die größte Demonstration seit der Auflösung der Sowjetunion durch das stalinistische Regime 1991 statt. In der Stadt mit knapp zwei Millionen Einwohnern protestierten etwa 200.000 Menschen gegen Präsident Alexander Lukaschenko, der sich zum Wahlsieger erklärt hatte.
Die Demonstranten trugen die von 1991 bis 1995 benutzte rot-weiße Nationalflagge von Belarus, die auch von der Opposition gegen Lukaschenko unter Führung von Swetlana Tichanowskaja benutzt wird. Sie forderten Lukaschenkos Rücktritt und riefen „Lang lebe Belarus“. Weitere Forderungen waren Neuwahlen, ein Ende der Polizeigewalt und die Freilassung politischer Gefangener. Auf anderen Transparenten war zu lesen: „Tichanowskaja ist die Präsidentin und Oberbefehlshaberin der Republik Belarus.“
Die Polizei sah diesmal von der Unterdrückung der Proteste ab, nachdem letzte Woche während ihres gewaltsamen Vorgehens ein Demonstrant getötet und mehr als 7.000 verhaftet wurden. Mehr als 80 Personen werden noch immer vermisst. Berichten zufolge sollen die Verhafteten gefoltert worden sein.
Am Samstagabend traf sich Lukaschenko jedoch auch mit dem Generalstab und kündigte die Entsendung von Fallschirmjägern nach Grodno an, wo einige der größten Streiks stattfanden. Am Montag erlitt Lukaschenko erneut eine Demütigung, als Arbeiter des Minsker Traktorenwerks ihn während eines Auftritts ausbuhten und seinen Rücktritt forderten.
Laut polnischen Medien sind in Belarus die Arbeiter vieler wichtiger Industriezweige in den Streik getreten, u.a. die Beschäftigten der Minsker Verkehrsbetriebe, der Autowerke, der Elektrowerke sowie der Lastwagen- und Maschinenbaubranche. Auch in mehreren Krankenhäusern schlossen sich die Beschäftigten den Protesten an. Daneben zirkulieren Aufrufe zu einem Generalstreik am Montag. Die Streikenden sollen ähnliche Forderungen stellen wie die Demonstranten in Minsk. Laut einigen Berichten unterstützen sogar einzelne Fabrikmanager die Ausstände. Die Wut über soziale Ungleichheit und die Reaktion auf die Corona-Pandemie gibt den Streiks weiteren Auftrieb.
Als die Pandemie Europa erreichte, führte Lukaschenkos Regime nicht einmal einen vorübergehenden Lockdown ein, sodass sich das Virus sehr schnell in der Bevölkerung ausbreiten konnte. Die Folge sind fast 70.000 Infizierte bei einer Bevölkerung von weniger als zehn Millionen. Da nur sehr begrenzt Tests durchgeführt werden, liegen die Zahlen mit Sicherheit viel höher. Genau wie seine Amtskollegen in Brasilien und den USA hat Lukaschenko das Virus als „Grippe“ und „Schwindel“ verharmlost. Kurz vor der Wahl erkrankte er selbst an Covid-19.
Ein streikender Arbeiter aus einer Fabrik des Düngemittelherstellers Grodno-Asot, wo am 13. August 5.000 bis 7.000 Arbeiter in den Streik getreten sind, erklärte gegenüber dem polnischen Onlineportal Onet.pl, die meisten Arbeiter glaubten nicht an die Richtigkeit der Wahlergebnisse. Er erklärte: „Das Coronavirus hat das Fass zum Überlaufen gebracht. Lukaschenko hat lange gesagt, es gäbe kein Virus. Er gab erst zu, dass es existiert, als er selbst krank wurde. Die Leute starben, die Ärzte waren überfordert. Das hat die Leute noch wütender gemacht, aber sie waren schon vorher wütend. Und dann kam noch die Wahl dazu.“
Laut Ökonomen lebten im Jahr 2019 21,5 Prozent der Bevölkerung unter der offiziellen Armutsgrenze.
Das Ausmaß der Proteste und die Teilnahme von immer größeren Teilen der Arbeiterklasse haben sowohl das Lukaschenko-Regime als auch die Opposition in Panik versetzt. Lukaschenko verunglimpfte die Demonstranten als „Arbeitslose mit krimineller Vergangenheit“ und erklärte, die Proteste seien von „der Nato und fremden Mächten“ angezettelt worden. Tichanowskaja hingegen hat Lukaschenko zum „Dialog“ mit der Opposition aufgerufen und die Bürgermeister aufgefordert, in ganz Belarus Proteste zu organisieren.
Am Montag bot Swetlana Tichanowskaja in einer Videobotschaft an, die Präsidentschaft zu übernehmen, um sicherzustellen, dass „wieder Ruhe und Normalität im Land einkehren“ und „die Rechtsgrundlage für Neuwahlen“ geschaffen werden. Sie appellierte auch an die Unterstützung der Polizei und der Streitkräfte.
Die zentrale Aufgabe für die Arbeiterklasse ist es, einen politisch unabhängigen Kampf gegen den diskreditierten Machthaber Lukaschenko und die offizielle Oppositionsführerin Tichanowskaja zu organisieren. Beide sprechen für Fraktionen der kriminellen Oligarchie, die aus der Auflösung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie hervorgegangen ist. Die Auflösung der Sowjetunion wurde im Dezember 1991 mit der Unterzeichnung des Vertrags von Minsk besiegelt und bildete den Auftakt zur Plünderung des Staatseigentums und zur Wiedereinführung des Kapitalismus. Beide Fraktionen arbeiten eng mit den imperialistischen Nato-Mächten und dem Kreml-Regime zusammen.
Lukaschenko hat jahrzehntelang versucht, die Balance zwischen der Nato und Moskau zu wahren. Seit er 2014 den Nato-Putsch in Kiew unterstützte, haben sich die Spannungen mit Moskau jedoch verschärft. Anfang des Jahres kam es zu einem langwierigen Streit zwischen Russland und Belarus um russische Subventionen für Öllieferungen.
Nachdem er vor der Wahl wochenlang unterstellt hatte, Russland wolle ihn „stürzen“, hat er sich jetzt an den Kreml gewandt und am Samstag mit Putin telefoniert. Dieser soll nur allgemeine Unterstützungsbekundungen geäußert haben, aber keine eindeutige politische oder gar militärische Hilfe versprochen haben. Allerdings erklärte Lukaschenko: „Wir haben uns darauf geeinigt, dass er uns bei der ersten Anfrage umfassende Unterstützung zukommen lassen wird, um die Sicherheit der Republik Belarus zu gewährleisten.“
Vor dem Telefonat hatte das Regime 32 russische Söldner freigelassen, die vor der Wahl verhaftet worden waren. Dies sollte den USA und der EU signalisieren, dass es engere Beziehungen anstrebt. Die Freilassung verärgerte die Selensky-Regierung in der Ukraine, die jahrelang mit Lukaschenko zusammengearbeitet und seine wachsenden Beziehungen mit Amerika und der Nato unterstützt hatte.
US-Außenminister Mike Pompeo war im Februar nach Minsk gereist und hatte Lukaschenko versichert, Washington könne Belarus so viel Öl liefern, wie es braucht, und erklärt: „Sie müssen uns nur anrufen.“ Daneben hat Lukaschenko vor Kurzem angeboten, die Nato und Belarus könnten gemeinsame Militärübungen abhalten.
Die USA und die EU haben zwar die Opposition unterstützt, sich aber auch um eine engere militärische und politische Kooperation mit Lukaschenko bemüht, um Russland zu isolieren. Die Massenproteste gegen die belarussische Regierung haben dort Besorgnis ausgelöst und zu Diskussionen über das weitere Vorgehen geführt.
Die EU verurteilte das Wahlergebnis und verhängte am Freitag Sanktionen gegen hohe belarussische Regierungsvertreter. Pompeo erklärte am Samstag in Warschau seine Unterstützung für die Sanktionen. Der deutsche Außenminister Heiko Maas forderte Neuwahlen, Bundesfinanzminister Olaf Scholz erklärte, Lukaschenko „muss gehen“.
Die Washington Post beklagte in einem Leitartikel die angeblich langsame Reaktion der USA und der EU und schrieb, Lukaschenko „muss gehen“. Die New York Times forderte in einem Leitartikel, maximalen Druck auf das Regime auszuüben. Sie schrieb, die USA und die EU sollten erklären, dass „sie das offizielle Ergebnis nicht akzeptieren und ihn erst als Sieger anerkennen, wenn er seine Schläger abzieht und es eine neue, glaubwürdige Wahl gibt. Um das zu bekräftigen, sollte Washington warten, bevor es einen neuen Botschafter nach Minsk schickt.“
Die Zeit hingegen schrieb diese Woche, ein „geschwächter Lukaschenko“ sei genau das, was der Kreml will. Das Blatt äußerte Bedenken, dass ein Regimewechsel in Minsk vielleicht letztlich Moskaus Interessen dienen könnte. Sie wies außerdem darauf hin, dass Tichanowskaja vor Kurzem in einem Interview das Bündnis zwischen Belarus und Russland abgelehnt, aber Moskaus Annektierung der Krim nicht eindeutig verurteilt hatte.
Sie wies außerdem darauf hin, dass Oppositionsführer Wiktar Babaryka bis Mai die belarussische Bank Belgazprombank geführt hat, die sich im Besitz des russischen Staatsbetriebs Gazprom befindet. Ein weiterer Oppositionsführer namens Waleryj Zepkala ist ein Geschäftsmann, der jahrzehntelang für das Lukaschenko-Regime tätig war, u.a. als Botschafter in den USA. Im April war er mit seiner Familie nach Russland geflohen, nachdem ihm die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl untersagt worden war.
Unabhängig davon, ob Lukaschenko und die Opposition einen Deal aushandeln oder ob das Regime zur Nato oder zu Moskau tendiert, bewegen sich die Arbeiter auf eine Konfrontation mit der kapitalistischen herrschenden Elite von Belarus zu. Keine Fraktion will ihnen demokratische Rechte gewähren oder etwas gegen die Corona-Pandemie unternehmen. Genau wie in den USA, Europa und Russland versuchen alle Seiten, die Arbeiter unter Kontrolle und zurück an die Arbeit zu bringen, damit trotz steigender Todeszahlen weiter Profite erwirtschaftet werden können.
Die Verbündeten der Arbeiter und Jugendlichen, die gegen Lukaschenkos Reaktion auf die Pandemie, gegen soziale Ungleichheit und Polizeiunterdrückung kämpfen, sind ihre Klassenbrüder und -schwestern in Europa und weltweit. Die Zahl der Streiks und Proteste gegen die Reaktion der herrschenden Klasse auf die Pandemie und die jahrzehntelangen Sozialkürzungen nimmt überall zu.
Um die Ressourcen zur Bewältigung der sozialen Krise und der Pandemie zu erhalten und den wachsenden imperialistischen Kriegskurs in Russland und der ganzen Region zu stoppen, ist ein gemeinsamer internationaler Kampf der Arbeiterklasse und Widerstand gegen das Regime notwendig, das aus der Wiedereinführung des Kapitalismus in der Sowjetunion hervorgegangen ist. Die politische Grundlage einer solchen internationalen und sozialistischen Orientierung ist der Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen den nationalistischen Verrat des Stalinismus an der Oktoberrevolution 1917.