Der libanesische Premierminister Hassan Diab kündigte gestern Abend in einer Fernsehansprache an die Nation den Rücktritt seiner Regierung an.
Dieser Schritt erfolgte inmitten wachsender Wut über die katastrophale Explosion im Hafen von Beiruts am vergangenen Dienstag, wo ungesichert 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat lagerten.
Am Wochenende kam es zu Demonstrationen, die in gewalttätigen Zusammenstößen endeten, als Sicherheitskräfte Tränengas und Gummigeschosse auf Demonstranten abfeuerten und mehr als 700 Menschen verletzten.
Diab kündigte den Rücktritt der Regierung an und sagte, er sei zu dem Schluss gekommen, dass die Korruption im Libanon „größer als der Staat“ sei. Er sagte außerdem, dass „dieses Verbrechen“ eine Folge der endemischen Korruption sei und forderte, dass die Verantwortlichen für die tödliche Explosion vor Gericht gestellt werden. Er selbst wolle zurücktreten, damit er „an der Seite der Menschen stehen und den Kampf für den Wandel an ihrer Seite führen“ könne.
Diab gab den korrupten Vorgängern seiner Regierung die Schuld an dem „Erdbeben“, das den Libanon erschüttert, und sagte: „Sie [die politische Klasse] sollten sich schämen, denn ihre Korruption ist es, die zu dieser Katastrophe geführt hat, die sieben Jahre lang verborgen war.“
Es wird berichtet, dass Diab zunächst die Amtsgeschäfte weiterführt. Am Samstag hatte er vorgezogene Parlamentswahlen angekündigt und gesagt, er werde noch zwei Monate im Amt bleiben.
Der Rücktritt der Regierung folgte auf den Rücktritt mehrerer Minister. Hierunter befand sich auch Diabs engster Verbündeter, der Minister für Umwelt und administrative Entwicklung Damianos Kattar, der die Unfähigkeit der Regierung zur Durchführung von Reformen als Grund für seinen Rücktritt angab.
Zwar ist die unmittelbare Ursache der Explosion noch nicht geklärt, aber die Katastrophe ist das Ergebnis krimineller Nachlässigkeit und Gleichgültigkeit, die verschiedene Regierungen und die herrschende Elite an den Tag legten. Jahrelang ignorierten sie wiederholte Warnungen vor den Gefahren, die mit der Lagerung einer solchen Chemikalie ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in der Nähe von Wohngebieten verbunden sind.
Nach Angaben des Gouverneurs von Beirut Marwan Abboud ist die Zahl der Todesopfer der Explosion auf 220 angestiegen, 110 Personen werden immer noch vermisst. Viele der Opfer sind mutmaßlich ausländische Arbeiter und Lastwagenfahrer, was ihre Identifizierung erschwert. Mehr als 6.000 Menschen wurden verletzt. Die Armee hat die Rettungsaktion am Hafen abgebrochen, weil keine Überlebenden mehr gefunden wurden.
Nicht weniger als zwölf Prozent der Stadtbevölkerung - 300.000 Menschen - mussten miterleben, wie ihre Häuser durch die Explosion zerstört oder beschädigt wurden. Gebäude flogen in die Luft, Fenster zersplitterten und ganze Stadtviertel wurden in Brand gesetzt. Die Behörden schätzen die Schadenshöhe auf 10 bis 15 Milliarden Dollar.
Da keine Ausweichunterkünfte zur Verfügung stehen, müssen die Menschen in stark beschädigten Häusern schlafen, viele davon ohne Fenster oder Türen. Gegenüber der BBC sagte Rona Halabi, Sprecherin des Internationalen Roten Kreuzes: „Diese Menschen brauchen eine Unterkunft, sie brauchen Nahrung... sie brauchen auch Reinigungsmittel und Hygieneartikel, sie brauchen Hilfe beim Einsammeln der Überreste ihrer Häuser.“
Sie machte darauf aufmerksam, dass die Explosion schwere Schäden an zwei Wasser- und Elektrizitätswerken verursacht hat. Bereits zuvor waren lange Stromausfälle im Libanon an der Tagesordnung.
Letzte Woche kündigte Präsident Michel Aoun eine Untersuchung der Explosionsursache an. Geklärt werden soll, ob neben Fahrlässigkeit auch „externe Einmischung“ ein Faktor war. Ein Bericht soll innerhalb von vier Tagen vorgelegt werden. Etwa 20 führende Beamte stehen Berichten zufolge unter Hausarrest, bei weiteren wurden die Bankkonten eingefroren.
Ein Richter hat mit der Befragung von Generalmajor Tony Saliba begonnen, der die Staatssicherheit leitet. Offenbar hatte die Sicherheitsbehörde einen Bericht über die Gefahren der Materiallagerung im Hafen erstellt und am 20. Juli eine Kopie an die Büros des Präsidenten und des Premierministers geschickt.
Diab, ein Professor für Ingenieurwesen, wurde im Januar als „Technokrat“ an die Spitze der Regierung gesetzt, nachdem Massenproteste gegen wirtschaftliche Not, Korruption in der Regierung und die entlang religiöser Gräber verlaufende politische Struktur des Landes den Rücktritt von Premierminister Saad Hariri erzwungen hatten. Hariri war der Mann von Washington, Paris und Riad im Libanon.
Viele in Diabs Kabinett waren zuvor berufstätig und nicht politisch mit den wichtigsten Parteien verbunden. Seine Regierung genoss die Unterstützung der Hisbollah, die auch vom Iran unterstützt wird und gemeinsam mit ihren Verbündeten den größten politischen Block im Parlament bildet.
Dies brachte seiner Regierung den unendlichen Hass der christlichen und sunnitischen Plutokraten ein, die mit Hararis Zukunftsbewegung verbündet sind. Sie weigerten sich, mit der Regierung zusammenzuarbeiten, was in den letzten Monaten zum Ausbruch kleiner, aber heftiger Zusammenstöße zwischen den beiden rivalisierenden Blöcken führte. Im vergangenen Juni warnte Präsident Aoun, dass dies einen weiteren Bürgerkrieg in einem Land auslösen könnte, das von 1975 bis 1990 einen erbitterten bewaffneten Konflikt zwischen wechselnden Allianzen erlebte, die wiederum von externen Kräften unterstützt wurden.
Die Hafenexplosion fand inmitten einer beispiellosen Wirtschafts- und Finanzkrise statt, verschärft durch die Coronavirus-Pandemie, die zu einem Einbruch der Tourismuseinnahmen und der Überweisungen aus dem Golf und der libanesischen Diaspora geführt hat. Der Lockdown verursachte unsägliches Leid unter Arbeitern, Flüchtlingen und Migranten. Das dünne Netz sozialer Leistungen wird von religiösen Parteien bereitgestellt, und eine medizinische Versorgung erhält nur, wer hohe Rechnungen begleichen kann.
Im März geriet die Regierung mit einer Euroanleihe in Höhe von 1,2 Milliarden Dollar in Verzug. Dies weitete sich nachfolgend auf die gesamten Auslandsschulden aus, da der Zusammenbruch der Lira die Devisenreserven des hoch verschuldeten Landes vernichtete und damit die Inflation und die weit verbreitete Armut anheizte.
Tage später, nachdem der Ausnahmezustand ausgerufen worden war, kündigte die Regierung an, dass die Zentralbank Dollar in den Markt pumpen würde, um die Währung zu stützen, und dass sie einen Appell an den von den USA dominierten Internationalen Währungsfonds (IWF) für einen Kredit vorbereitete. Ein solches Darlehen ist an die übliche Forderung nach „Reformen des freien Marktes“ gebunden, die Millionen Menschen verarmen lassen und vielfach auch Interessen der herrschenden Elite verletzen.
Vor allem aber wäre ein IWF-Darlehen von der politischen Ausrichtung auf die sunnitischen Ölstaaten abhängig, zu denen sich die Beziehungen in den letzten sechs Jahren abgekühlt haben. Eine solche Angleichung würde sich gegen den Iran und im weiteren Sinne gegen Syrien richten, Bedingungen, die der Hisbollah ein Gräuel sind. Ohne die Akzeptanz der IWF- Bedingungen werden die von den europäischen und regionalen Mächten auf einer Hilfskonferenz im Jahr 2018 zugesagten Kredite nicht vergeben.
Darüber hinaus haben die USA im vergangenen Jahr ihre Sanktionen gegen die Hisbollah, die sie als terroristische Organisation eingestuft haben, ausgeweitet und Druck auf die Regierung wie auch eine lokale Bank ausgeübt. Die Bank wurde letztlich zur Schließung gezwungen, was die ohnehin schon schwere Finanz- und Wirtschaftskrise im Libanon noch verschärfte.
Im vergangenen Juni trat ein US-amerikanisches Gesetz, der so genannte Cesar Act in Kraft, mit dem Sanktionen gegen die syrische Regierung und alle, die mit ihr zu tun haben, verhängt wurden. Dieser unterhöhlt die Finanzen der Hisbollah weiter und hinderte den Libanon daran, syrisches Öl zu kaufen.
Washington, Riad und Paris haben versucht, „maximalen wirtschaftlichen Druck“ auf Beirut auszuüben. Sie haben eine Blockade gegen das Land verhängt mit dem Ziel, die Hisbollah als politische und militärische Kraft im Libanon und in Syrien auszuschalten, als Teil ihrer umfassenderen Kampagne gegen den Iran. Ihr Ziel ist es, ihre lokalen Verbündeten an die Macht zurückzubringen, die Sunnitische Zukunftsbewegung von Hariri und seinen Alliierten.
Am Sonntag erhöhte der französische Präsident Macron den Druck. Als Mitveranstalter einer virtuellen Konferenz der UN, die fast 300 Millionen Dollar an humanitärer Nothilfe für Beirut zusagte, hauptsächlich für medizinische Versorgung, Bildung, Nahrung und Unterkunft, warnte er davor, dass „dies streng überwacht wird“. Er fügte hinzu, dass kein Geld für den Wiederaufbau der Stadt zur Verfügung gestellt werde, solange der Libanon sich nicht verpflichtet, politische und wirtschaftliche Reformen durchzuführen. Zu den Kräften, die die Demonstrationen der letzten Tage organisieren, gehören die christlichen und sunnitischen Parteien und Ex-Generäle rund um Hariris Zukunftsbewegung, die mit den USA verbündet sind. Sie fordern die Bildung einer Interimsregierung zur „Rettung“, die „potenziell vom Militär angeführt“ wird und Bankiers und andere Geschäftsleute einschließen soll, um „die humanitäre und wirtschaftliche Krise zu lösen“ und den Weg für Wahlen auf der Grundlage eines neuen Wahlgesetzes vorzubereiten – innerhalb von drei Jahren. Ihr Ziel ist es, die direkte Herrschaft der Plutokratie im Dienste des Imperialismus wiederherzustellen und den Einfluss der „Mafiosi“ im Libanon und in Syrien – gemeint ist die Hisbollah - zu begrenzen oder auszumerzen.
Damit besteht eine sehr reale Gefahr, dass der berechtigte Zorn von Arbeitern, Jugendlichen und Teilen der Mittelschicht, die von der sich immer weiter ausbreitenden Krise verschlungen werden, hinter einem weiteren Haufen von Kleptokraten kanalisiert wird, diesmal möglicherweise unter der Führung von Militärgenerälen, und sich gegen die verarmten Anhänger der Hisbollah und ihrer Verbündeten richtet.
Entscheidend ist in der gegenwärtigen Situation der Aufbau einer neuen revolutionären Führung, die eine Perspektive für die Vereinigung der Arbeiterklasse über alle religiösen, religiösen, nationalen und ethnischen Spaltungen hinweg vorantreibt, nicht nur im Libanon, sondern in der gesamten Region, im Kampf für den Sturz des Kapitalismus und den Aufbau der Vereinigten Sozialistischen Staaten des Nahen Ostens als Teil eines Weltverbandes sozialistischer Staaten. Dazu müssen Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufgebaut werden.