Perspektive

Corona-Forschung: USA verbreiten erfundene Behauptungen über „russischen Hackerangriff“

Die „Back-to-work“-Politik aller kapitalistischen Regierungen heizt die Covid-19-Katastrophe massiv weiter an. Weltweit hat die Zahl der Infizierten die Marke von 14 Millionen überschritten, und mehr als 600.000 Todesopfer sind zu beklagen. In den USA, dem Epizentrum der Pandemie, stellen die täglichen Infektionszahlen immer neue Rekorde auf. Viele Testeinrichtungen sind zusammengebrochen, und in mancher Region sind die Krankenhäuser an ihrer Belastungsgrenze oder schwer überlastet.

Trotz alledem entschied die New York Times am Freitag, auf ihrer Titelseite einen Artikel zu veröffentlichen, in dem der russische Geheimdienst beschuldigt wird, US-amerikanische, britische und kanadische Forschungsergebnisse für einen Corona-Impfstoff „stehlen“ zu wollen. Der Artikel verbreitet völlig kritiklos Behauptungen, welche die Geheimdienste dieser drei Länder in einer gemeinsamen Erklärung am 16. Juli erhoben haben. Darin beschuldigen die Agenten eine völlig ominöse Einheit namens APT29, angebliche Hackerangriffe gegen Computersysteme westlicher Firmen, Forschungsorganisationen und Regierungsbehörden auszuführen, die an der Entwicklung eines Covid-19-Impfstoffs beteiligt sind.

Das Vorgehen erinnert an frühere antirussische Verleumdungen, beispielsweise über Moskaus angebliche „Wahlmanipulation“ von 2016 und die kürzlich von der New York Times erfundenen russischen Taliban-Kopfgelder auf US-Soldaten. Wie schon in jenen Fällen, gibt es auch jetzt wieder keine Beweise. Weder die Geheimdienste, noch die Times oder die anderen Medien legen irgendwelche Fakten vor, um ihre reißerischen Behauptungen zu untermauern. Dennoch stellt die gesamte bürgerliche Presse die geheimdienstlichen Verlautbarungen sofort als unanfechtbare Tatsachenberichte dar.

Im Gegensatz zur Titelstory über den angeblichen russischen Hackerangriff, fiel dagegen die Berichterstattung der Times über einen tatsächlichen Angriff auf Twitter in dieser Woche eher bescheiden aus. Als die Zeitung berichtete, dass die Twitter-Accounts einiger bekannter Persönlichkeiten und Unternehmen – darunter Barack Obama, Joe Biden und Apple – kompromittiert worden waren, war der Tonfall deutlich gedämpfter.

Die Times würdigte diesen gewaltigen Hackerangriff aus verschiedenen Gründen nur einer Randnotiz – unter anderem deshalb, weil er unbequeme Fragen über die Fähigkeit der Technologieunternehmen aufwirft, die Konten ihrer Nutzer zu manipulieren. Doch dem vermeintlichen russischen Cyberangriff, bei dem es weder ein bestimmtes Ziel, noch einen bestimmten Tatzeitpunkt gegeben haben soll, und für dessen Existenz keinerlei Beweise vorliegen, widmet die Zeitung ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. In dem Artikel zu APT29 wird der Twitter-Hack nicht einmal erwähnt – denn dies würde die offensichtliche Schlussfolgerung nahelegen, dass es gar keine staatlichen Kräfte braucht, um einen erfolgreichen Cyberangriff durchzuführen.

Bei der Beschreibung der angeblichen Aktivitäten dieser Einheit APT29 (alias „Cozy Bear“, Kuschelbär) zitiert die Times wie üblich größtenteils namentlich nicht genannte „Beamte“. Es wird festgestellt, dass Regierungsbeamte „zur Identität der Opfer der Hackerangriffe keine Angaben machen“. Keinerlei Datumsangaben oder spezifische Fälle von Hackerangriffen werden angegeben. Die Zeitung zitiert jedoch Robert Hannigan, den ehemaligen Chef des britischen Geheimdiensts GCHQ, der als „offenbare“ Hauptziele die Universität Oxford und das britisch-schwedische Unternehmen AstraZeneca ausgemacht haben soll, die gemeinsam an einem Impfstoff forschen.

Die US-amerikanische Medienberichterstattung räumt ein, dass keine vertraulichen Informationen kompromittiert wurden, und dass es keinerlei Beweise dafür gibt, dass von den angeblichen Hackern tatsächlich Daten gestohlen wurden. Die Times zitiert Hannigan mit den Worten, dass die Hacker nicht versuchten, die Impfstoffproduktion zu stören.

Die Nationale Sicherheitsbehörde der USA veröffentlichte am Donnerstag eine Pressemitteilung („APT29 nimmt Entwicklung eines Impfstoffs gegen Covid-19 ins Visier“), die sogar noch fadenscheiniger ist. Auf nur dreieinhalb Seiten Text erklärt die Behörde – ohne irgendwelche Beweise zu liefern –, dass APT29 „mit ziemlicher Sicherheit“ Teil des russischen Geheimdienstes sei. Weiter wird behauptet, dass die Gruppe „bis zum Jahr 2020“ Organisationen in den Blick genommen habe, die sich in den USA, Großbritannien und Kanada mit der Entwicklung von Impfstoffen beschäftigen, um in den anvisierten Computersystemen durch den Einsatz von Malware „Fuß zu fassen“. Das Papier schweigt jedoch darüber, ob ihr dies gelungen sei.

Unbelegte Vorwürfe des Impfstoff-„Hackings“ werden nicht nur gegen Russland erhoben. So behauptete FBI-Direktor Christopher Wray letzte Woche, dass China „daran arbeitet, amerikanischen Gesundheitsorganisationen zu schaden“, die Forschung zu Covid-19 betreiben. Generalstaatsanwalt William Barr wiederholte am Donnerstag in einer Rede in Michigan diese Vorwürfe.

Aus welchem Grund werden derartige Verleumdungen gegen Russland und China vorgebracht?

Zwischen den konkurrierenden Unternehmen und Nationen herrscht ein erbitterter globaler Kampf darüber, wem es zuerst gelingt, einen Impfstoff gegen das Coronavirus zu patentieren. Milliarden Dollar für Manager, Investoren und Bankiers stehen auf dem Spiel – sowie ein immenser geopolitischer Vorteil für das Land, das aus diesem Impfstoff-Wettlauf als Sieger hervorgeht.

In einem Artikel über den sogenannten „Impfstoff-Nationalismus“ schrieb das Wall Street Journal am 27. Mai:

Pharmazeutische Unternehmen stellen sich zunehmend auf Exportverbote für künftige Coronavirus-Impfstoffe ein und verteilen ihre Produktionskapazitäten auf verschiedene Kontinente. Sie reagieren damit auf einen sich abzeichnenden geopolitischen Wettlauf um die Versorgung mit Ressourcen für einen wissenschaftlichen Durchbruch, der mit einer enormen wirtschaftlichen und politischen Macht verbunden wäre …

Ein Coronavirus-Impfstoff wäre für das erste Land, das in der Lage ist, ihn in großem Maßstab herzustellen, eine monumentale Errungenschaft – ein zivilisatorischer Triumph, vergleichbar mit der Mondlandung. Sie würde es dem Gewinner ermöglichen, seine Volkswirtschaft mehrere Monate vor den anderen wiederzubeleben. Der Gewinner könnte dann entscheiden, welche Verbündeten er in welcher Reihenfolge mit dem Heilmittel beliefern möchte. Von seiner medizinischen Produktion wäre die gesamte Erholung der Weltwirtschaft abhängig.

Von allen Großmächten verfolgen die Vereinigten Staaten am unverhohlensten einen nationalistischen Kurs, der darauf abzielt, die amerikanischen Oligarchen zu bereichern und den Impfstoff nicht als lebensrettendes Heilmittel einzusetzen, sondern als Waffe gegen Länder, die sich im Fadenkreuz des US-Imperialismus befinden. Dazu zählen in erster Linie China und Russland, aber auch Iran, Venezuela, Nordkorea, Kuba und andere. Die herrschende Elite der USA beabsichtigt zudem, mit dem Impfstoff ein Druckmittel gegen ihre europäischen „Verbündeten“ zu erlangen, insbesondere gegen Deutschland.

Washington wird den Impfstoff denjenigen Ländern vorenthalten, die es als Hindernis für sein Weltmachtstreben betrachtet, und wird jene mit dem Zugang zu dem lebensrettenden Medikament belohnen, die sich hinter seine Kriegs- und Eroberungspläne stellen.

Wie die Zeitschrift Science im Mai schrieb, basiert das „Warp-Speed“-Impfstoffprogramm der Trump-Regierung darauf, „internationale Zusammenarbeit zu meiden – ebenso wie jegliche Impfstoffkandidaten aus China“. Vielmehr ziele es auf die Entwicklung von Impfstoffen ab, die „den Amerikanern vorbehalten“ sind.

Die amerikanische herrschende Klasse ist zunehmend besorgt, dass sie das Rennen um den Impfstoff verlieren könnte. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) berichtet, dass derzeit mehr als 160 Impfstoffe entwickelt werden und bereits 23 klinische Studien am Menschen begonnen haben. Russland entwickelt zurzeit 26 Impfstoffe, von denen sich zwei in der klinischen Erprobung befinden. Von den potenziellen Impfstoffen, die sich gegenwärtig in verschiedenen Stadien der Erprobung am Menschen befinden, werden acht in China entwickelt. Das staatliche chinesische Unternehmen Sinopharm und ein weiteres chinesisches Unternehmen haben bereits verkündet, sich in der letzten Testphase zu befinden.

Am Donnerstag, dem Tag der gemeinsamen antirussischen Erklärung der US-amerikanischen, britischen und kanadischen Geheimdienste, veröffentlichte die Washington Post einen Artikel, der von den Fortschritten des chinesischen Impfstoffprogramms berichtet. Zuvor hatte die Times einen Artikel gebracht, in dem es mit Blick auf China heißt: „In gewisser Hinsicht ist es [China] dabei, das Rennen zu gewinnen: Bereits vier Unternehmen lassen ihre jeweiligen Impfstoffkandidaten am Menschen testen.“

Auch Reuters veröffentlichte am Donnerstag einen Artikel, dem zufolge Russland plant, in diesem Jahr 30 Millionen Dosen eines experimentellen Covid-19-Impfstoffs im Inland und potenziell weitere 170 Millionen Dosen im Ausland herzustellen. Der Bericht zitiert Kirill Dmitriev, den Leiter des russischen Staatsfonds, mit den Worten: „Auf der Grundlage der aktuellen Ergebnisse glauben wir, dass der Impfstoff im August in Russland und im September in einigen anderen Ländern zugelassen werden wird … und damit möglicherweise der erste Impfstoff der Welt sein wird.“

Der US-Imperialismus ist unter keinen Umständen bereit zuzulassen, dass Russland oder China den globalen Markt für einen Covid-19-Impfstoff beherrschen. Er versucht ihre Bemühungen im Vorhinein zu kriminalisieren, sehr wahrscheinlich als Auftakt für ein Einfuhrverbot eines solchen Medikaments in die USA und weitere, von ihnen abhängige Länder wie Großbritannien und Kanada.

Mit Blick auf die Entwicklung eines Coronavirus-Impfstoffs sagte WHO-Generaldirektor Tedros Adhanom Ghebreyesus im vergangenen Monat gegenüber der Presse: „Zwischen Besitzenden und Nicht-Besitzenden sollte kein Gegensatz bestehen.“ Doch in der Realität, die von den Klasseninteressen der kapitalistischen Oligarchen bestimmt wird, die die Welt beherrschen, ist genau das Gegenteil der Fall. Vor allem die Vereinigten Staaten streben danach, einen Covid-19-Impfstoff unter ihrer Kontrolle als Waffe einzusetzen.

Für die amerikanische Finanzoligarchie spielen Menschenleben keine Rolle. Ihre einzige Sorge gilt den Profiten der US-Konzerne und der Dominanz des amerikanischen Imperialismus.

In einer rationalen und humanen Gesellschaft würde sich bei der Entwicklung eines lebensrettenden Wirkstoffs die Frage der Geheimhaltung gar nicht erst stellen – schon gar nicht inmitten einer tödlichen Pandemie. Private Profitinteressen und nationaler Eigennutz würden vollständig den weltweit koordinierten Bemühungen untergeordnet sein, die revolutionären Errungenschaften in Wissenschaft und Technologie und das Wissen von Experten in jedem Land zu nutzen, um das Virus einzudämmen und schließlich auszurotten. Zugleich würde man allen physisch und wirtschaftlich Betroffenen die erforderliche medizinische Versorgung und soziale Unterstützung gewährleisten.

Doch im Kapitalismus ist das unmöglich. Die Perversion, die Impfstoff-Forschung und -Bereitstellung der Gier der Konzerne und dem Streben nach geopolitischer Vorherrschaft unterzuordnen, entlarvt den Bankrott des Kapitalismus auf obszöne Weise. Der menschliche Fortschritt und das Leben selbst sind unvereinbar mit einem System, das darauf beruht, dass eine Konzern- und Finanzelite persönlichen Reichtum aufhäuft und die Welt in rivalisierende Nationalstaaten gespalten ist.

Der Kampf gegen die Pandemie ist der von der internationalen Arbeiterklasse geführte Kampf, die kapitalistischen Parasiten zu enteignen, sie zu stürzen und den Weltsozialismus zu errichten.

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