Während sich die Corona-Pandemie ausbreitet, gerät der Bürgerkrieg in Libyen außer Kontrolle. Seit dem Nato-Krieg gegen Libyen 2011 bekämpfen sich dort rivalisierende, von den imperialistischen Mächten unterstützte Warlords.
Am 5. Juli flogen unbekannte Kampfflugzeuge einen Angriff auf den Luftwaffenstützpunkt al-Watiya. Den Stützpunkt hatten die Streitkräfte der von Italien und der Türkei unterstützten international anerkannten Regierung der Nationalen Übereinkunft (GNA) erst vor kurzem von der von Frankreich unterstützten Libyschen Nationalarmee (LNA) von Chalifa Haftar zurückerobert. Bei dem Angriff wurden Hangars beschädigt und militärisches Gerät der Türkei zerstört, die ihre Unterstützung für die GNA mit Italien abstimmt. Ein Vertreter der LNA, Chaled al-Mahdschub, erklärte gegenüber dem Nachrichtensender Al-Arabiya: „Es wird bald weitere ähnliche Angriffe geben. ... Wir befinden uns in einem echten Krieg mit der Türkei, die Ambitionen auf das Öl in Libyen hat.“
Die spanische Nachrichtenseite Atalayar erklärte unter Berufung auf Quellen aus dem türkischen Militär, es hätten „neun Präzisionsschläge gegen türkische Luftabwehrsysteme“ stattgefunden, bei denen mehrere türkische Geheimdienstler verwundet wurden. Weiter hieß es, die Angriffe seien „erfolgreich“ gewesen und hätten zur „vollständigen Zerstörung von drei Radarstellungen“ geführt. Allerdings wies Atalayar Berichte zurück, laut denen bei den Angriffen Flugzeuge der Typen MiG-29 oder Su-24 eingesetzt wurden, die die LNA von Moskau erhalten hat. Stattdessen seien bei den Angriffen französische Rafale-Jets eingesetzt worden.
Auch Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Frankreich selbst setzen Rafales ein und könnten für den Angriff auf al-Watiya verantwortlich sein. Am 21. Juni drohte der ägyptische Diktator General Abdel Fattah al-Sisi mit einer Intervention in Libyen gegen die Türkei.
Das Büro des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan twitterte als Reaktion auf den Angriff, die Türkei werde ihre Operationen in Libyen verstärken und die Küstenstadt Sirte sowie den größten Luftwaffenstützpunkt des Landes in al-Dschufra angreifen. Beide befinden sich in Zentral-Libyen und werden von Truppen der LNA kontrolliert. Als Rechtfertigung für die Intervention nannte die Türkei die Kontrolle über die Ölversorgungsleitungen und die Unterstützung Russlands für die LNA.
Im Vorfeld des Angriffs auf al-Watiya hatten türkische und italienische Regierungsvertreter den Stützpunkt besucht, der kaum 150 Kilometer von Tripolis entfernt liegt. Der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar hatte nur wenige Stunden vor dem Angriff einen Besuch in Tripolis beendet. Dort hatte er die „türkische Souveränität und unsere dauerhafte Rückkehr nach Libyen nach dem Rückzug unserer Vorväter“ verkündet. Damit meinte er offenbar die Herrschaft des Osmanischen Reichs über Libyen bis 1911, als Italien das Land besetzte und danach bis zu seiner Niederlage im Zweiten Weltkrieg 1943 als Kolonie verwaltete.
Am 24. Juni kam der italienische Außenminister Luigi di Maio nach Tripolis. Zuvor hatte er sich mit seinem türkischen Amtskollegen Mevlüt Çavuşoğlu in Ankara getroffen, während die türkische und die italienische Marine zusammen Militärübungen abhielten. In Tripolis erklärte Di Maio, der Krieg sei von zentraler Bedeutung für Roms strategische Interessen und bezeichnete Libyen als „Priorität für unsere Außenpolitik und nationale Sicherheit“.
Der Angriff auf al-Watiya hat die erbitterten Zerwürfnisse zwischen den imperialistischen Nato-Mächten und zwischen den Regionalmächten um die Aufteilung der Beute aus dem Krieg von 2011 offenbart.
Angesichts revolutionärer Aufstände der Arbeiterklasse in Ägypten und Tunesien im Jahr 2011 drängten Paris, London und Washington die Nato dazu, Libyen zu bombardieren und islamistische sowie Stammesmilizen zu bewaffnen, um das Regime von Oberst Muammar Gaddafi zu stürzen. Berlin lehnte die Teilnahme an dem Krieg ab, und die Kriegsparteien setzten sich über die anfänglichen Einwände der Türkei hinweg. Die westlichen Medien und kleinbürgerliche pseudolinke Gruppen wie die französische Nouveau Parti anticapitaliste (NPA) bezeichneten die imperialistische Vergewaltigung Libyens als humanitären Krieg zum Schutz libyscher Demonstranten.
Auf diese Weise entstanden nicht nur die Bedingungen für den anhaltenden Stellvertreterkrieg in Syrien zwischen Russland und der Nato, die viele der in Libyen mobilisierten islamistischen Stellvertretermilizen nach Syrien schickte, sondern auch für einen rücksichtslosen Kampf um die Aufteilung Libyens und seiner massiven Ölvorkommen.
Die Kämpfe zwischen rivalisierenden Milizen, die nach dem Krieg von 2011 ausbrachen, haben Tausende Menschenleben gefordert, und jetzt verwüstet auch die Corona-Pandemie Libyen. In den letzten zwei Juni-Wochen verdoppelte sich die Zahl der Fälle auf 713, mittlerweile liegt sie laut Worldometer bei 1.182. Nur 295 Menschen sind bisher genesen, 35 sind gestorben. Die Krankheit breitet sich in einem Land aus, dessen Gesundheitswesen und Infrastruktur durch zehn Jahre Blutvergießen zerstört wurden.
Das International Rescue Committee berichtete diesen Monat: „Dieses Jahr verzeichnete Libyen die weltweit größte Zahl von Angriffen auf medizinische Einrichtungen. Erst gestern wurde ein Krankenwagen von einem Luftangriff zerstört, wobei das Fahrzeug und die nahegelegene medizinische Einrichtung schwer beschädigt wurden. Letzte Woche wurden zwei Ärzte von einer Mine getötet, die unter einer Leiche versteckt war, die sie aus einem Krankenhaus brachten. Das libysche Gesundheitssystem liegt bereits am Boden, und weitere derartige Angriffe machen es Ärzteteams in diesem Land noch schwerer, auf die Pandemie zu reagieren.“
Die Nato-Mächte schicken jedoch keine medizinische und humanitäre Hilfe, sondern plündern Libyen und drohen, die Kämpfe zu einem offenen regionalen Krieg zu eskalieren. Mehrere Regionalmächte spielen dabei eine wichtige Rolle: Die Türkei und Algerien unterstützen die GNA, Ägypten und die VAE die LNA. Auch Moskau hat eingegriffen, indem es die LNA gegen die von Islamisten dominierte GNA unterstützt. Ein entscheidender Aspekt des Konflikts ist jedoch der Wettkampf zwischen großen Ölkonzernen wie Total (Frankreich) und Eni (Italien).
Die türkische Nachrichtenagentur Anadolu schrieb am 3. Juli, die GNA „rückt auf Sirte vor, das Tor zum Osten des Landes und zu seinen Ölfeldern“. Sie erklärte, Sirte habe aus zwei Gründen eine „entscheidende“ Bedeutung: „Zum einen hat Sirte beträchtlichen wirtschaftlichen Wert als Tor zur Region des libyschen Öl-Halbmonds, der aus wichtigen Hafenstädten wie al-Zuweytinah, Ras Lanuf, Marsa al Brega und as-Sidr besteht, über die Berichten zufolge 60 Prozent aller libyschen Ölexporte abgewickelt werden. Zum anderen ist die Stadt strategisch wichtig, da die GNA von dort aus die libysche Küste von der Hauptstadt im Westen bis nach Bengasi im Osten kontrollieren kann.“
Eni beherrscht die Ölfelder im Nordwesten Libyens, die von der GNA kontrolliert werden. Doch ein Großteil der Ölvorkommen und Raffinerien im „Öl-Halbmond“ befinden sich unter der Kontrolle von Total und den LNA-Milizen in der Region Kyrenaika rund um Bengasi, dem Zentrum der von der Nato unterstützten Revolte gegen Gaddafi. Weitere Vorkommen und Raffinerien befinden sich in der Region Fessan, die an die zwei ehemaligen französischen Kolonien Niger und Tschad angrenzt. Paris übt im Rahmen seines so genannten Kriegs gegen den Terror in Mali und der Sahelzone die Kontrolle über die beiden Länder aus.
Die Konflikte zwischen den imperialistischen Nato-Mächten werden immer offensichtlicher. Tarek Mergerisi vom Europäischen Rat für Außenpolitik erklärte gegenüber der Financial Times über Frankreichs Unterstützung für Haftar: „Frankreich hat in Libyen andere Interessen als Deutschland und Italien, und es ist aktiv geworden, um diese Interessen zu schützen. Es hat Sicherheitsinteressen in der Sahelzone und baut Sicherheitspartnerschaften mit den Vereinigten Arabischen Emiraten auf, an denen auch Ägypten stark beteiligt ist.“
Dorothée Schmid vom Französischen Institut für Internationale Beziehungen (IFRI) erklärte, in Paris herrsche „strategische Panik“ angesichts von Haftars jüngsten Rückschlägen. Sie verwies auf das zunehmende Chaos und die Unsicherheit in der Nato hin und erklärte: „Frankreich ist in dieser Sache ziemlich isoliert, und alle warten auf die Wahlen in Amerika.“
Eine weitere Eskalation wird sich nur verhindern lassen, wenn die Arbeiterklasse in Afrika und dem Nahen Osten die Kämpfe wieder aufnimmt, die sie vor zehn Jahren begonnen hat, und sie mit den zunehmenden Streiks und Protesten in Amerika und Europa zu einer sozialistischen Antikriegsbewegung vereint. Ohne eine revolutionäre Intervention der Arbeiterklasse werden die herrschenden Eliten allesamt in einen Krieg schlittern.
Im Mittelmeer nehmen die Spannungen zu. Frankreich hat sich am 1. Juli aus den Nato-Operationen im Mittelmeer zurückgezogen, um dagegen zu protestieren, dass ein türkisches Kriegsschiff angeblich gedroht hat, auf eine französische Fregatte zu feuern, als diese ein Handelsschiff nach Libyen kontrollieren wollte. Ägypten wiederum soll eine russische Küstenabwehrbatterie vom Typ „Bastion“ erworben haben, angesichts von Berichten, dass die Türkei eine Marinebasis im libyschen Misrata errichten will.