Julian Assange: Neue US-Anklage nicht offiziell vor britischem Gericht zugestellt

WikiLeaks-Gründer Julian Assange war am Montag erneut nicht in der Lage, persönlich oder per Videolink an einer Anhörung teilzunehmen, bei der es weiterhin um sein Auslieferungsverfahren in die Vereinigten Staaten ging.

Sein juristisches Team erklärte, dass Assange auf den Rat seiner Ärzte handelt. Diese sind über das Infektionsrisiko besorgt, das durch die Nutzung einer unbelüfteten Videokabine im Belmarsh-Gefängnis entsteht, weil diese im Laufe des Tages von vielen Gefangenen genutzt werden kann.

Diese Bedingungen hindern Assange nun schon über drei Monate lang daran, bei seinem Gerichtsverfahren anwesend zu sein. Sein Risiko, an Corona zu erkranken, ist besonders hoch, da er an einer Atemwegserkrankung und an den Auswirkungen jahrelanger psychologischer Folter leidet.

Keine Vorkehrungen wurden getroffen, um sowohl Assanges Gesundheit zu schützen, als auch ihm die Möglichkeit zu geben, an seinem eigenen Verfahren teilzunehmen. Stattdessen versuchte Bezirksrichterin Vanessa Baraitser gestern, Assange per Videolink zum Erscheinen zu drängen.

Baraitser sagte, sie habe eine Mitteilung vom Belmarsh-Gefängnis erhalten, aus der hervorgehe, dass es „nicht so ist, dass er [Assange] aus Gesundheitsgründen nicht erscheine“. Sie verlangte medizinische Gutachten, um sein zukünftiges Nicht-Erscheinen zu rechtfertigen. Assanges Verteidiger Kronanwalt (QC) Mark Summers antwortete, man werde entsprechende Beweise vorlegen.

Die medizinische Untersuchung Assanges sowohl der Anklage als auch der Verteidigung ist mittlerweile per Telefon zum Abschluss gebracht worden.

Baraitser ging danach auf die von den Vereinigten Staaten am Mittwoch, den 24. Juni, gegen Assange erhobene Ersatzanklage ein. Diese wurde nicht offiziell in das Auslieferungsverfahren eingeführt. Das ist eine weitere kafkaeske Entwicklung, bei der das Gerichtsverfahren im Vereinigten Königreich weiter auf der Grundlage einer Anklageschrift fortgesetzt wird, die bereit ersetzt worden ist, so dass das Verfahren in den USA keine Rechtskraft haben wird.

Der Staatsanwalt Joel Smith sagte, zu dieser Frage werde die Anklage sich zu diesem Zeitpunkt nicht äußern.

Dazu sagte Summers: „Wir sind, gelinde gesagt, vom zeitlichen Ablauf dieser Entwicklung überrascht und außerdem erstaunt, dass wir aus der Presse [und nicht durch das Gericht] davon erfahren haben.“ Er sagte, die Verteidigung werde darauf nicht antworten, solange die neue Anklage nicht offiziell vor dem britischen Gericht zugestellt worden sei.

Die Einführung einer neuen Anklage in einem so späten Verfahrensstadium, nachdem die erste Hälfte der Auslieferungsanhörung im Vereinigten Königreich bereits stattgefunden hat, ist eine grobe Verletzung eines ordnungsgemäßen Verfahrens. Zumindest, so Summers, könnte dieser Sachverhalt „dazu führen, dass der September-Termin [für die nächste Anhörungsphase] kippen wird“. Die Verteidigung ist bisher verpflichtet, diesen Termin einzuhalten.

Assanges Anwälte scheinen in seiner Verteidigung mit einer „besonderen“ Argumentationslinie vorgreifen zu wollen. Das Besondere ist ein bestimmtes Auslieferungsprinzip, das besagt, dass sich der Angeklagte nur den Anklagepunkten im Zielland stellen müsse, für die er ausgeliefert werde. Wenn das Vereinigte Königreich Grund zu der Annahme hat, dass zusätzliche Anklagen erhoben werden könnten, sobald der Angeklagte ausgeliefert worden ist, dann ist dies ein Auslieferungshindernis.

Die USA haben keine neuen Anklagepunkte offiziell bekannt gegeben, aber die neue Anklageschrift weitet den Umfang der Vorwürfe, die in den bestehenden Anklagepunkten enthalten sind, erheblich aus.

Diese Änderungen sind offenbar auch eine Reaktion darauf, dass Assanges Anwaltsteam während der ersten Phase der Auslieferungsanhörung im Februar wichtige Punkte der Anklage zerpflücken konnte.

Unter dem Vorwurf der „Verschwörung zum Computer Hacking“ wurde Assange schon bisher beschuldigt, sich 2010 mit der berühmten Whistleblowerin Chelsea Manning verschworen zu haben, um sich unbefugt Zugang zu geheimen Dokumenten auf US-Computersystemen zu verschaffen. Die Verteidigung hat dies im Februar entschieden angefochten. Nun zeigt sich, dass es der US-Regierung wohl bewusst ist, auf wie wackeligen Füßen ihre Position steht.

In der neuen Anklageschrift werden allgemeinere Anschuldigungen erhoben, wonach Assange zwischen 2009 und 2015 Hacker rekrutiert und zu Hackerangriffen auf eine Reihe von geheimen, offiziellen und privaten Computern angestiftet haben soll. Diese Anklage beinhaltet auch einen Hinweis auf das Spionagegesetz. Es ist wahrscheinlich ein Versuch, mindestens eine der Anschuldigungen gegen Assange als unpolitisch darzustellen.

Wie der Kronanwalt der Verteidigung, Edward Fitzgerald (QC), in der ersten Anhörungswoche energisch plädierte, wird Assange ganz klar wegen „politischer Vergehen“ angeklagt, was bedeutet, dass er auf keinen Fall ausgeliefert werden dürfte.

Die neuen Anschuldigungen hängen stark von den Zeugenaussagen zweier FBI-Informanten ab, die längst diskreditiert worden sind. Einer von ihnen hat eine lange Betrugsbilanz, und der andere war im Auftrag des FBI in eine Provokation verwickelt.

Weiter werden Assanges Worte und Taten zur Unterstützung des Whistleblowers Edward Snowden und zur Transparenz von Informationen als Aufforderung zum Diebstahl von Verschlusssachen interpretiert. Auf dieser selben Grundlage werden auch die ehemalige WikiLeaks-Redakteurin Sarah Harrison und der ehemalige WikiLeaks-Sprecher Jacob Applebaum ins Visier genommen. Keine Anstrengung wird gescheut, ihre vermeintlichen Rekrutierungsbemühungen mit tatsächlichen Fällen des Durchsickerns oder Hackens in Verbindung zu bringen.

Darüber hinaus hatte der Vorwurf der „unbefugten Offenlegung von Verteidigungsinformationen“ Assange früher lediglich vorgeworfen, dass er die Protokolle des Afghanistan- und des Irak-Kriegs und die Telegramme des US-Außenministeriums im Internet veröffentlicht hatte. Dies wird nun auf die „Verteilung“ der Dokumente – zum Beispiel an andere Medienorganisationen – ausgeweitet.

Auch dies ist wahrscheinlich eine Reaktion auf die Tatsache, dass die Verteidigung beweisen konnte, dass WikiLeaks darauf achtete, keine unredigierten Telegramme des Außenministeriums zu veröffentlichen.

Schließlich wurde die Anklage wegen „Verschwörung zur Erlangung und Offenlegung von Informationen der Landesverteidigung“ zeitlich ausgedehnt. Der einzige spezifische Verweis bezieht sich auf Informationen, die von Chelsea Manning offengelegt worden waren, aber der Wortlaut wurde geringfügig geändert, wodurch das Spektrum der möglichen Anschuldigungen ausgeweitet wurde.

Der Chefredakteur von WikiLeaks, Kristinn Hrafnsson, sagte nach der Anhörung: „Eine neue Anklage soll nun das erreichen, was auf dem Etikett steht: Sie soll die bestehende Anklage ersetzen. Aber die USA haben keine neue Anklage, die sie erheben könnten. Sie sind nicht einmal in der Lage, dem Gericht oder der Verteidigung das neue Dokument zuzustellen. Das zeigt nur, dass es sich lediglich um eine aufgepeppte Pressemitteilung und keineswegs um eine neue Anklage handelt. Das zeigt, wie missbräuchlich sie mit einem rechtmäßigen Verfahren in Großbritannien umspringen.“

Gleichzeitig vertieft die neue Anklageschrift den Angriff der US-Regierung auf die Pressefreiheit.

Harrison, Applebaum und der ehemalige WikiLeaks-Mitarbeiter Daniel Domscheit-Berg werden nun ebenfalls als „Mitverschwörer“ ins Visier genommen. Bemühungen, einem verfolgten Whistleblower (Snowden) zum Asyl zu verhelfen, und sogar Reden zur Verteidigung seiner Taten werden kriminalisiert, ebenso wie die allgemeinsten Erklärungen zur Unterstützung der Transparenz der Regierung.

Zum Beispiel wird in der Anklageschrift Harrisons Aussage zitiert, als sie sagte: „Von Anfang an betrachteten wir es als unsere Aufgabe, klassifizierte oder auf andere Weise zensierte Informationen von politischer und historischer Bedeutung zu veröffentlichen.“

Die Verlagerung des Schwerpunkts auf das Verteilen von klassifiziertem Material durch WikiLeaks, z.B. an Partner-Medienorganisationen, bedroht nun ein breites Spektrum von Journalisten und Medien.

Am Montag kündigte Baraitser am Ende des Verfahrens an, dass die letzte Phase der Auslieferungsanhörung „fast sicher“ ab dem 7. September am Zentralen Strafgerichtshof in London (dem „Old Bailey“) stattfinden werde.

Völlig unklar bleibt, unter welchen Bedingungen dieses Verfahren stattfinden wird. Seitdem überall Maßnahmen zur sozialen Distanzierung gelten, hat nur noch eine sehr kleine Zahl von Journalisten Zugang zum Westminster Magistrates Court. Die überwiegende Mehrheit war gezwungen, sich über eine praktisch unverständliche Leitung in eine Online-Konferenz einzuwählen. Obwohl diesmal die Audioqualität für das Verteidigungsteam verbessert wurde, blieben Richter und Staatsanwaltschaft schwer zu verstehen. Eine Option, sich über eine Videoverbindung in das Gericht einzuwählen, funktionierte nicht.

Die nächste mündliche Verhandlung ist für Montag, den 27. Juli, um 10 Uhr angesetzt.

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