Chinesische Botschaft in Paris kritisiert Politik der „Herdenimmunität“: Frankreich bestellt chinesischen Botschafter ein

Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian hat am Montag den chinesischen Botschafter in Frankreich, Lu Shaye, einbestellt. Zuvor hatte dessen Botschaft Chinas Vorgehen während der Corona-Pandemie verteidigt.

Im Mittelpunkt dieses diplomatischen Vorfalls steht der Gegensatz zwischen Europa und China, wo die Pandemie derzeit als eingedämmt gilt und die wenigen Dutzend neuen Fälle größtenteils aus dem Ausland stammen. Obwohl in Frankreich und ganz Europa täglich Tausende an Covid-19 sterben, fordern die Regierungen ein Ende der Ausgangsbeschränkungen und zwingen die verängstigte Bevölkerung zurück an die Arbeit. Gleichzeitig läuft in den französischen Medien eine antikommunistische Kampagne, um China als ursprünglichem Epizentrum der Corona-Pandemie die Schuld an der Katastrophe in Europa zu geben.

Am Sonntag veröffentlichte ein anonymer chinesischer Diplomat auf der Website der Botschaft eine lange Erklärung, in der er die herrschenden Eliten Europas kritisierte: „Chinas Sieg über die Pandemie verbittert sie. Mit ihren konstruierten Argumenten, China habe 'ihre Reaktion verzögert' und 'die Wahrheit unterdrückt', machen sie im Wesentlichen China für die Pandemie verantwortlich. (…) Gleichzeitig haben wir erlebt, wie sich Politiker im Westen um Wählerstimmen rauften und Herdenimmunität forderten, was darauf hinauslief, dass sie sich von ihren Bürgern abgewandt, sie dem Virus ausgesetzt und sich gegenseitig medizinische Hilfslieferungen gestohlen haben.“

Chinesische Botschaft in Paris, 2009 (Wikipedia)

Das französische Außenministerium erklärte daraufhin in einem Kommuniqué: „Bestimmte öffentliche Positionen von Vertretern der chinesischen Botschaft in Frankreich entsprechen nicht der eigentlichen Qualität der bilateralen Beziehungen zwischen unseren Staaten.“ Weiter hieß es, Le Drian wolle gegenüber dem chinesischen Botschafter sein „Missfallen“ über „bestimmte aktuelle Äußerungen“ zu Covid-19 mitteilen.

Die chinesische Erklärung hat Paris verärgert, weil sie die Lügen offenbart, die die europäischen Mächte den Arbeitern über Covid-19 erzählen. Die hohen Opferzahlen in Europa waren nicht unvermeidlich. Auch ist die „Herdenimmunität“, d.h. das bewusste Infizieren der Bevölkerung mit dem Coronavirus, sodass die Überlebenden möglicherweise gegen das Virus immun sind, nicht die einzige Strategie im Kampf gegen die Krankheit. Diese Lügen wurden als Rechtfertigung benutzt, um Arbeiter an unsichere Arbeitsplätzen zu ketten, wo sie nicht nur Profite für die Banken erarbeiten, sondern auch das Virus verbreiten.

Für die Ausbreitung von Covid-19 in Amerika und Europa ist nicht China verantwortlich, sondern der Kapitalismus. Natürlich regiert auch die stalinistische Diktatur in China über eine kapitalistische Gesellschaft. Sie hat den Kapitalismus 1989 wieder eingeführt, als sie sich der Weltwirtschaft öffnete und Arbeiter und Studenten massakrierte, die auf den Tiananmen-Platz gegen die Politik der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) protestierten. Doch die verbliebenen Elemente einer rudimentären staatlichen Planwirtschaft, Massenquarantänen und die Mobilisierung der Industrie ermöglichten in China eine deutlich effektivere Reaktion auf Covid-19 als in Europa.

Die einheitliche, demokratische und weltweite Einführung solcher Strategien, die im Kampf gegen Covid-19 von entscheidender Bedeutung ist, erfordert eine weltweite Revolution der Arbeiterklasse – einschließlich der chinesischen –, und den Übergang zum Sozialismus. Die erbitterten Angriffe der französischen bürgerlichen Medien gegen China, die Antikommunismus mit Aufrufen zu antichinesischem Rassismus verbinden, machen deutlich, dass die hauptsächliche Triebkraft hinter dieser Kampagne nichts als die Angst der Bourgeoisie vor Sozialismus und Revolution ist.

Der Kommentator und Ex-Offizier Renaud Girard, der seine Journalistenkarriere 1994 als Berichterstatter für Le Figaro in Ruanda begann, als Frankreich den blutigen Völkermord des Hutu-Regimes an den Tutsi unterstützte, bezeichnete Covid-19 als den Beweis für das Scheitern von Marxismus und Kommunismus. Er schrieb, die Pandemie habe „den Bankrott von drei Ideologien gezeigt: des Kommunismus, des Europäismus und des Globalismus. Die Kommunistische Partei Chinas hat die größte Verantwortung für die Entstehung und anfängliche Verbreitung dieser hoch ansteckenden Krankheit.“

Le Monde schrieb in einer Kolumne: „China trägt große Verantwortung für diese Epidemie, die von einem Wildtier übertragen wurde, mit dem Handel verboten ist“. Chinesen, die Schuppentiere gegessen haben, wurden für die globale Pandemie verantwortlich gemacht. Über diese Schuppentiere wurde das Coronavirus möglicherweise von Fledermäusen auf Menschen übertragen. In einem Post, der mit einem großen kommunistischen Hammer-und-Sichel-Symbol illustriert war, erklärte die Zeitung scheinheilig: „Die chinesische Diktatur zensiert die Medien, sodass die Öffentlichkeit nicht weiß, wie viele tatsächlich erkrankt sind.“

Isabelle Lasserre, Reporterin der rechten Zeitung Le Figaro, äffte Donald Trump nach und behauptete, China würde „bei der Weltgesundheitsorganisation die Fäden ziehen“. Sie bestand darauf, dass Covid-19 die Überlegenheit der westlichen kapitalistischen Demokratie über die chinesische Diktatur beweise: „Während Diktaturen durch das Unterwartete destabilisiert wurden, reagierten die Demokratien ruhig, transparent und rational. Sie konnten vorhersehen und erklären. Ihre offenen und koordinierten Gesundheitssysteme reagierten schnell. (…) Die Demokratien haben bewiesen, dass ihr System das effektivste ist.“

Die Behauptung, die europäischen Regime würden am effektivsten gegen das Virus vorgehen, wirft lediglich ein Schlaglicht auf die verächtliche Haltung der europäischen Bourgeoisie gegenüber Menschenleben. In China, dem ursprünglichen Epizentrum von Covid-19, gab es 82.295 Fälle und 3.342 Tote. In Europa gibt es jedoch mindestens 935.338 Fälle und 74.662 Todesopfer. Und während die WHO die chinesischen Corona-Fallstatistiken unabhängig bestätigt hat, fehlen in der europäischen Statistik tausende Menschen, die in Altenheimen sterben. Europäische Regierungsvertreter gaben außerdem zu, dass die tatsächliche Zahl der Corona-Fälle in Europa doppelt- oder zehnmal so hoch sein könnte wie offiziell angegeben.

Der Enthusiasmus der antichinesischen Kampagne, angesichts einer enormen Zahl von Corona-Toten in Europa, und die Klassenbrutalität in Form der Strategie der „Herdenimmunität“, die die Finanzaristokratie anstrebt, sind zwei Seiten derselben Medaille. Für die herrschende Klasse ist die Arbeiterklasse nur eine Herde, deren Bestand reduziert wird. Zehn- oder hunderttausende vorzeitige Todesfälle bedeuten aus ihrer Sicht, dass Milliarden Euro nicht für die Behandlung und die Renten dieser Personen verschwendet werden müssen, sondern in die Aktienmärkte und die Vermögen der Finanzoligarchie umgeleitet werden können.

Die Versuche, die KPCh für die Corona-Toten verantwortlich zu machen, sind politische Lügen. Die Erklärung der chinesischen Botschaft in Paris hat diese Lügen widerlegt und deutlich gemacht, dass China Europa frühzeitig vor Covid-19 gewarnt hat.

In der Botschaftserklärung heißt es: „Schon am 30. Dezember letzten Jahres berichteten wir öffentlich über Fälle einer bisher unbekannten Lungenentzündung. Ab dem 3. Januar haben wir die WHO und die ganze Welt regelmäßig über die Entwicklung der Krankheit informiert und in Rekordzeit den Erreger identifiziert. Am 11. Januar übermittelten wir der WHO die gesamte Gensequenz des Virus. Am 23. Januar wurde Wuhan unter Quarantäne gestellt, mehr als 800 Menschen waren kontaminiert, nur neun davon befanden sich im Ausland. In Europa und den USA begann die Epidemie erst einen Monat später.“

Diese Erklärungen werden durch öffentlich verfügbare Berichte in den globalen Medien gestützt, und niemand hat versucht, sie zu widerlegen. Es ist außerdem öffentlich belegt, dass die europäischen Regierungen die Bedrohung durch Covid-19 anfangs herunterspielten, sie mit der saisonalen Grippe verglichen, soziale Distanzierungsmaßnahmen ablehnten und von den Arbeitern forderten, weiter zur Arbeit zu gehen.

Die Erklärung kontrastiert die europäische Politik mit der chinesischen: „China hat nicht gezögert, Billionen Yuan aus seinem Bruttoinlandsprodukt zu nehmen, hunderte Milliarden Yuan ins Gesundheitswesen zu pumpen und mehr als 40.000 medizinische Arbeitskräfte aus dem ganzen Land zu mobilisieren, die nach Wuhan und in die Provinz Hubei gingen. Die Epidemie konnte so innerhalb von zwei Monaten besiegt werden.“

Doch obwohl den europäischen herrschenden Klassen immense finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, lehnten sie eine derartige Politik ab und forderten stattdessen massive Rettungspakete für die Banken. Mit einem vernichtenden Verweis auf „gewisse politische und kulturelle Eliten im Westen“ heißt es in der Note: „Dass die westlichen Länder den Ernst des Virus unterschätzt, zu spät improvisierte Maßnahmen eingeführt und die Epidemie damit unkontrollierbar gemacht haben, belastet ihr Gewissen nicht und raubt ihnen nachts auch nicht den Schlaf.“

Der fatale Widerspruch innerhalb der stalinistischen Strategie der KPCh ist allerdings, dass ihre exportbasierte Integration in die Weltwirtschaft Handels- und politische Abkommen mit dem amerikanischen und europäischen Kapital erfordert, um diesem chinesische Arbeiter als billige Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen. Der barbarische Charakter des westlichen Kapitals wurde durch die Covid-19-Pandemie entlarvt.

Die wachsende Wut und die zunehmenden Proteste und Streiks der Arbeiter in Europa und der Welt laufen in eine andere politische Richtung: in die eines vereinten Kampfes der internationalen Arbeiterklasse für die Enteignung der Vermögen der Superreichen sowie den Einsatz dieser Mittel zur Eindämmung der globalen Pandemie.

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