Perspektive

Die Wall Street mästet sich am Tod

Gestern, am 15. April, stieg die Zahl der Todesfälle infolge der Corona-Pandemie weltweit auf über 130.000. In den Vereinigten Staaten starben allein am Dienstag mehr als 2.400 und am Mittwoch über 2.300 Menschen, womit die landesweite Gesamtzahl der Opfer auf über 28.000 kletterte. Diese offiziellen Angaben sind zweifellos wesentlich niedriger als die tatsächliche Zahl der Menschen, die bislang dem Virus erlagen.

Seit den 1930er Jahren haben die Vereinigten Staaten im eigenen Land keine Krise mehr erlebt, die so verheerende Auswirkungen auf die soziale Lage der Bevölkerung hatte. Massengräber, die in New York ausgehoben werden, Leichensäcke, die sich in Detroiter Krankenhäusern stapeln, und endlose Autoschlangen, in denen Menschen stundenlang warten, um Lebensmittel für ihre Familien zu ergattern – diese Bilder werden in Erinnerung bleiben wie die Fotografien von Dorothea Lange aus den Jahren der Großen Depression. Dutzende Millionen Amerikaner sind ohne Einkommen und verfügen über keine ausreichenden Ersparnisse, um ihre Hypotheken oder Mieten, Versicherungsbeiträge, Ratenzahlungen und andere Ausgaben zu decken, die jeden Tag, jede Woche, jeden Monat unvermeidlich anfallen. Mehr als 16 Millionen Menschen haben Arbeitslosengeld beantragt. Es wird Wochen, wenn nicht Monate dauern, bis sie eine Zahlung erhalten. Die 1.200 Dollar, die im Rahmen des neuen CARES-Gesetzes vom vergangenen Monat versprochen wurden, sind nur auf sehr wenigen Bankkonten eingegangen.

Hier entwickelt sich eine soziale Katastrophe. Der Jubel der Medien über angebliche „Hoffnungsschimmer“ ist fern jeder Realität, wie sie die große Mehrheit der Bevölkerung erlebt. Die Verweise auf „Peaks“ und „Plateaus“ sind weitgehend hypothetischer Natur. Die Pandemie wütet im ganzen Land. Millionen Menschen, die noch zur Arbeit müssen, gehen ein hohes Risiko ein, dem Coronavirus ausgesetzt zu werden.

Und doch, inmitten dieser dramatischen Krise, gibt es einen kleinen Teil der Gesellschaft, der seinen Reichtum zu vermehren wusste.

Vor etwas mehr als drei Wochen, am 23. März 2020, schloss der Dow Jones mit 18.591 Punkten. Während der vorangegangenen fünf Wochen, als die Schwere der Pandemie allmählich und widerwillig anerkannt wurde, war der Dow Jones von seinem Hoch am 13. Februar mit 29.551 um fast 35 Prozent gefallen.

Seit dem 23. März sind zwei Werte gleichzeitig gestiegen: die Corona-Todesfälle und der Dow Jones (zusammen mit anderen wichtigen Aktienindizes wie S&P 500 und Nasdaq).

Am 23. März hatte die Zahl der Pandemieopfer in den USA 556 erreicht. In den nächsten vier Tagen beschloss der Kongress in aller Eile seine mehrere Billionen Dollar schwere Rettungsaktion für Banken, Unternehmen und Investoren. Das „CARES-Gesetz“ trat am 27. März in Kraft. An diesem Tag schloss der Dow Jones mit 21.636 Punkten. In Erwartung auf die bevorstehende Verabschiedung des Rettungspakets waren die Kurse in nur vier Tagen um fast 3.000 Punkte nach oben geschnellt. Die Zahl der Corona-Toten in den Vereinigten Staaten hatte sich im selben Zeitraum, zwischen dem 23. und 27. März, fast verdreifacht und stieg auf 1.697.

In der Woche vom Montag, 30. März, bis Freitag, 3. April, stiegen die Opferzahlen erneut sprunghaft an und erreichten den Höchststand von 7.139. Während des Wochenendes versuchten die Medien, die Öffentlichkeit auf einen weiteren raschen Anstieg der Todesopfer vorzubereiten. Aber zugleich veränderte sich der Ton der Berichterstattung merklich. Phrasen über „hoffnungsvolle Anzeichen“, „man werde bald über den Berg sein“ und die unvermeidlichen „Hoffnungsschimmer“ wurden fester Bestandteil des Propaganda-Repertoires. Dies ging einher mit einer zunehmend aggressiven Kampagne für eine mehr oder weniger rasche Rückkehr an den Arbeitsplatz.

Im Laufe der vergangenen Woche offenbarte der rapide Anstieg der Todeszahlen das riesige Ausmaß der sozialen Tragödie. Der Höhenflug an der Börse spiegelte die Stimmung der Finanzelite wider, die – soeben von der Regierung mit Billionen beschenkt – darauf setzte, von dieser Krise zu profitieren und noch reicher und mächtiger daraus hervorzugehen.

Bis Montag, den 6. April, erreichte die Todeszahl 10.895 – der Dow Jones schloss mit 22.679 Punkten. Bis zum 9. April stiegen die Todesopfer auf 16.712 – der Dow Jones schloss mit 23.319 Punkten. Und am Dienstag, als die Zahl der Toten die schwindelerregende Marke von 26.000 überschritt, verfolgten die Investoren und Spekulanten mit Freude, wie der Dow Jones um weitere 569 Punkte zulegte und bei 23.950 schloss.

Verweilen wir kurz bei diesen Zahlen. Seit dem 23. März hat die Corona-Pandemie laut offiziellen Statistiken mehr als 25.000 Menschenleben in den Vereinigten Staaten gefordert. Im gleichen Zeitraum ist der Dow Jones um mehr als 30 Prozent gestiegen.

Auf den ersten Blick gibt es in den Wirtschaftsnachrichten nichts, was den außergewöhnlich schnellen Anstieg der Märkte rechtfertigt. Vielmehr deuten alle verfügbaren Informationen darauf hin, dass sich die globalen Auswirkungen der Pandemie als ebenso schwerwiegend und lang anhaltend erweisen könnten wie die Große Depression in den 1930er Jahren.

Am Dienstagmorgen veröffentlichte der Internationale Währungsfonds einen Bericht unter der Überschrift „Der Große Lockdown: Die schlimmste wirtschaftliche Depression seit der Großen Depression“. Der Bericht, der von der IWF-Chefökonomin Gita Gopinath verfasst wurde, beschreibt die derzeitige Situation als „eine Krise wie keine zuvor“ und prognostiziert einen anhaltenden Rückgang des globalen Wirtschaftswachstums. „Damit ist der Große Lockdown die schlimmste Rezession seit der Großen Depression und weitaus schlimmer als die globale Finanzkrise [von 2008–2009].“ Weiter heißt es:

Der kumulierte Verlust des globalen BIP in den Jahren 2020 und 2021 durch die Pandemiekrise könnte rund 9 Billionen Dollar betragen und damit größer sein als die Volkswirtschaften von Japan und Deutschland zusammen.

Offensichtlich sind es nicht die aktuellen Wirtschaftsprognosen, die die Euphorie an der Wall Street befeuert haben, und es ist angesichts des beschleunigten globalen Abschwungs höchst unwahrscheinlich, dass der gegenwärtige Boom aufrechterhalten werden kann. Aber vorerst wird der Rausch an der Börse von zwei Faktoren getrieben: einerseits dem Geldsegen in Billionenhöhe, den die Federal Reserve ohne Kosten und Auflagen zur Verfügung gestellt hat; und andererseits der Erwartung der Unternehmens- und Finanzoligarchie in den USA und Europa, dass diese Krise ihnen die Gelegenheit bietet, die kapitalistische Wirtschaft und die Klassenbeziehungen so umzustrukturieren, dass noch mehr Geld in die Kassen der Kapitalistenklasse gespült wird.

Es gibt allerdings noch einen anderen Faktor, der dieser Euphorie entgegenwirken wird, und das ist der wachsende soziale Widerstand der Arbeiterklasse, die ihre eigenen Vorstellungen darüber entwickelt, wie die amerikanische und die Weltwirtschaft umgestaltet und der Reichtum neu verteilt werden soll.

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