Russland: Ärzte und Pfleger protestieren gegen unhaltbare Zustände

In ganz Russland haben Pfleger und Ärzte die Arbeit niedergelegt und sich mit dringenden Appellen an die Öffentlichkeit gewandt. Sie fordern medizinische und persönliche Schutzausrüstung und die Renovierung baufälliger Krankenhäuser.

Die Zahl der bestätigten Coronavirus-Infektionen in Russland ist inzwischen auf über 5300 angestiegen, und mindestens 45 Patienten sind gestorben. In nahezu allen 85 Regionen wurden Fälle registriert. Eine landesweite, regional unterschiedlich gehandhabte Sperre, die in der letzten Märzwoche verhängt wurde, ist bis zum 30. April verlängert worden. Bislang war der Großraum Moskau das Zentrum des Ausbruchs, mit 448 bestätigten Fällen in der Hauptstadt bis Freitagabend.

Dreißig Jahre nach der Auflösung der Sowjetunion und nach jahrzehntelangen Einschnitten in das Gesundheitssystem sind die russischen Krankenhäuser nicht in der Lage, die rasch steigenden Fallzahlen zu bewältigen. Zwar verfügt Russland im Vergleich zu Ländern wie den USA über eine relativ hohe Zahl an Krankenhausbetten pro Kopf, doch die Krankenhäuser sind nicht modern ausgestattet, und die hygienischen Bedingungen sind mangelhaft. Das medizinische Personal ist zudem zumeist stark unterbezahlt. Ärzte und Krankenpfleger verdienen oft nur umgerechnet ein paar hundert Euro im Monat.

In Kamensk-Schachtinsk in der Region Rostow in Südrussland haben elf Ärzte und Pflegende öffentlich ihre Arbeit niedergelegt, um auf die katastrophalen Zustände in ihrem Krankenhaus aufmerksam zu machen.

Eine der Pflegerinnen sagte der Zeitung Argumenty i fakty: „Wir haben diesen Schritt getan, weil wir um unsere Gesundheit und um die Gesundheit der Patienten auf der Station fürchten.“ Die Station für Infektionskrankheiten sei „nicht darauf vorbereitet, Patienten aufzunehmen, die mit Covid-19 infiziert sind“. Ein anderer medizinischer Mitarbeiter erklärte: „In der Abteilung, in der Patienten auf Covid-19 getestet werden, haben wir nicht einmal OP-Masken. Unser Gehalt für die Nachtschicht liegt bei nur 70 Rubel (85 Cent), wir fordern, dass der Lohn erhöht wird.“

Die Beschäftigten verlangen zudem die Einrichtung einer speziellen Abteilung oder eines Gebäudes zur Behandlung von Infizierten unter hygienisch sicheren Bedingungen sowie eine Renovierung des gesamten Gebäudes. Einer beschrieb die Bedingungen im Krankenhaus: „In allen Räumen liegt aufgerissenes Linoleum, die Deckenplatten hängen herunter, die Wasserrohre sind undicht, die Toilettenspülung funktioniert nicht.“

Eine andere Pflegerin sagte der Zeitung: „Wir betraten den Raum mit isolierten Patienten in Seuchenschutzanzügen, die 40 Jahre lang in unserem Keller gelegen hatten. Vor einigen Jahren haben wir die gleichen Anzüge verwendet, um Patienten bei einem Cholera-Ausbruchs in Tschistooserny zu behandeln.“

Die Situation in Kamensk-Shachtinsk ist keine Ausnahme. Im ganzen Land sind Hunderte von Krankenhäusern dringend renovierungsbedürftig, es herrscht ein dramatischer Mangel an Personal und medizinischer Grundausstattung.

In St. Petersburg, der zweitgrößten Stadt des Landes, haben die Ärzte des Pokrowskaja-Krankenhauses in einem Video-Appell am Freitag erklärt: „Wir haben keine Schutzausrüstung. Was wir jetzt tragen, ist nicht dafür geschaffen, vor Virusinfektionen zu schützen. Wir weigern uns nicht zu arbeiten. Wir lieben unsere Patienten und wollen, dass sie alle gesund werden. Aber wir können nicht unter Bedingungen arbeiten, unter denen wir völlig schutzlos sind... Wir wollen gesund zur Arbeit zurückkehren, und wir wollen, dass unsere Familien und Freunde gesund bleiben.“

Bislang wurden drei Krankenhäuser in St. Petersburg, die Covid-19-Patienten behandelt haben, vollständig geschlossen, da das Infektionsrisiko als zu hoch eingeschätzt wurde. Das gesamte medizinische Personal wurde nach Hause geschickt und aufgefordert, sich zu isolieren.

Die Bedingungen, unter denen die Beschäftigten im Gesundheitswesen leiden, sind eine direkte Folge der Restauration des Kapitalismus. Der Mangel in Russland ist natürlich sehr akut, aber auf der ganzen Welt fehlt es an Schutzausrüstung und medizinischen Geräten, vor allem Beatmungsgeräten. Die Beschäftigten sind gezwungen, ihr Leben und das ihrer Familien in Gefahr zu bringen, wenn keine angemessenen Maßnahmen zu ihrem Schutz getroffen werden.

In den USA, dem reichsten kapitalistischen Land der Welt, sehen sich Krankenhausmitarbeiter gezwungen, Halstücher und selbstgemachte Gesichtsmasken zu verwenden. Es gibt schon jetzt nicht mehr genügend Beatmungsgeräte. Am vergangenen Samstag protestierten die Pflegerinnen und Pfleger des Jacobi Medical Center in New York City gegen den Mangel an Personal und Schutzausrüstung. Ähnliche Proteste finden in den gesamten USA statt.

Die Empörung und der Widerstand der medizinischen Fachkräfte in Russland trifft mit dem Anstieg der Coronavirus-Fälle zusammen, der sich im April voraussichtlich erheblich beschleunigen wird. Aufgrund der globalen Unterbrechung der Lieferketten, die die Leiterin der russischen Zentralbank Elvira Nabiullina als „beispiellos“ bezeichnete, wird allgemein erwartet, dass die Wirtschaft in eine Rezession eintritt.

Fast die Hälfte der russischen Staatseinnahmen stammen aus dem Export von Öl und Gas. Der starke Rückgang der Ölpreise hat dramatische Folgen. Experten rechnen damit, dass Russland für den Rest des Jahres mit einem Ölpreis von nur 20 Dollar pro Barrel zurechtkommen muss – ein historischer Tiefstand.

Der Kreml hat die Schließung nicht lebenswichtiger Unternehmen im ganzen Land angeordnet, den Regionen dabei aber erheblichen Spielraum gewährt. Moskau beispielsweise erwägt noch strengere Beschränkungen, einschließlich Zugangskontrollen und die Schließung einiger wichtiger Unternehmen.

Präsident Wladimir Putin hat versprochen, dass alle Arbeiter während der Quarantänezeit ihr volles Einkommen erhalten. Es ist jedoch unklar, ob alle Unternehmen dazu tatsächlich bereit oder in der Lage sein werden.

Die russische Regierung hat nur den Gegenwert von etwa 2 Prozent des BIP für wirtschaftliche Hilfsmaßnahmen bereitgestellt. Im Gegensatz dazu wandte die Regierung zur Bekämpfung der Krise von 2008-2009 etwa 10 Prozent des BIP aus. Ein Großteil davon diente dazu, vom Bankrott bedrohte Oligarchen zu retten.

In einer kürzlich durchgeführten Erhebung gaben 60 Prozent der Befragten an, dass ihr Geld nicht bis zur nächsten monatlichen Gehaltszahlung ausreicht. Von den 33,3 Prozent, die angaben, dass sie über die Runden kommen, haben die meisten Ersparnisse, die nur für 2 bis 6 Monate ausreichen. In einigen Regionen hatten weniger als 10 Prozent genug Ersparnisse für mehr als einen Monat. Etwa 20 Millionen Menschen in Russland, fast 20 Prozent der Bevölkerung, gelten offiziell als „extrem“ arm und müssen mit weniger als umgerechnet etwa 150 Euro pro Monat auskommen.

Die Zerstörung der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie und der Aufstieg einer kriminellen Oligarchie haben Russland zu einem der Länder mit der größten Ungleichheit weltweit gemacht. Die Hälfte der Bevölkerung besitzt weniger als 5 Prozent des Vermögens. Inzwischen besitzen die obersten 10 Prozent 65 Prozent des Gesamtvermögens, und auf das oberste 1 Prozent entfällt mehr als ein Drittel des Gesamtvermögens. Die 100 größten Milliardäre kontrollieren 6-10 Prozent des gesamten Vermögens. Das Gesamtvermögen der zehn reichsten Russen betrug im Jahr 2019 etwa 165 Milliarden Euro.

Das Privatvermögen dieser Oligarchen würde mehr als ausreichen, um den Bau neuer und die Renovierung aller bestehenden Krankenhäuser zu finanzieren, alle neuen Geräte zu kaufen, die in den Krankenhäusern benötigt werden, und allen Beschäftigten des Gesundheitswesens und anderen Teilen der Arbeiterklasse ordentliche Löhne zu zahlen.

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