Am Samstag haben in Frankreich Hunderttausende von Streikenden und „Gelbwesten“ gegen die von Präsident Emmanuel Macron geplanten Rentenkürzungen demonstriert, während Premierminister Edouard Philippe kosmetische „provisorische“ Zugeständnisse ankündigte. Diese zynischen Manöver sollen es den Gewerkschaften erlauben, die Streikenden bis mindestens Mai über den Inhalt der Kürzungen im Unklaren zu lassen und auf diese Weise den Streik schrittweise zurückzufahren, während man Macron umfassende neue Befugnisse für Rentenkürzungen gibt.
Während in ganz Frankreich die Streikenden demonstrierten, schlug Philippe in einem Brief vor, eine Konferenz zwischen Unternehmerverbänden und Gewerkschaften über die Finanzierung der Renten zu organisieren, die sich über vier Monate hinziehen soll. Eine Analyse von Philippes Brief macht jedoch deutlich, dass er keine nennenswerten Zugeständnisse macht. Nach seinem Plan werden alle grundlegenden Komponenten von Macrons Kürzungen in der einen oder anderen Form in Kraft treten.
Diese Tatsache macht deutlich, dass die Verhandlungen der Gewerkschaften eine Falle sind. Mit Macron gibt es nichts zu verhandeln. Zwischen der französischen sowie der internationalen Arbeiterklasse, die gegen soziale Ungleichheit und Militarismus kämpft, und der Macron-Regierung sowie den internationalen Finanzinstituten wie BlackRock, die sie unterstützen, hat sich ein unversöhnlicher Konflikt entwickelt. Für Arbeiter besteht der Weg vorwärts in diesem Kampf im Aufbau von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften einen Kampf zum Sturz von Macron organisieren.
Philippes Brief behält sich die Möglichkeit vor, Macrons Kürzungen in vollem Umfang durchzusetzen. Zu diesen Kürzungen gehört die Schaffung eines Rentensystems auf der Basis von Punkten, die anhand der letzten 25 Jahre und nicht von 15 Jahren oder sechs Monaten Arbeitslohn berechnet werden. Der Staat kann den Wert dieser Punkte in jedem Haushaltsjahr nach eigenem Ermessen kürzen, wenn eine neue Generation von Arbeitern in Rente geht. Weitere Pläne sind die Abschaffung der Pensionspläne im öffentlichen Dienst und eine Anhebung des „ausgeglichenen Rentenalters“ um zwei Jahre auf 64. Philippes Brief deutet an, er könnte den letzten Angriff „provisorisch“ aussetzen, falls die Gewerkschaften einen anderen Weg finden, die Sozialausgaben zu kürzen.
Er schreibt: „Ich bestätige, dass die Regierung ein nationales, punktebasiertes Rentensystem schaffen will [...] Die Sonderrentenpläne werden nach einer Übergangsperiode abgeschafft, die im Dezember festgelegt wird. Dieses allgemeine System wird für alle Einwohner Frankreichs gelten.“
Weiter heißt es: „Der Gesetzentwurf wird die Notwendigkeit eines ausgeglichenen Rentenhaushalts und die entscheidende Verantwortung der Gewerkschaften und Unternehmerverbände bei der Steuerung des Programms festschreiben. Deshalb wird der Gesetzesentwurf auch festlegen, dass das künftige allgemeine System ein ausgeglichenes Rentenalter enthalten wird.“ Der Brief schlägt vor, dass die Gewerkschaften und Unternehmerverbände eine Konferenz abhalten, um über einen ausgeglichenen Rentenhaushalt zu verhandeln und „bis Ende April 2020 Ergebnisse vorlegen“.
Philippe fügt hinzu, bis die Unternehmerverbände und die Gewerkschaften ihre Vorschläge vorlegen, „bin ich bereit, die vorgeschlagenen kurzfristigen Maßnahmen aus dem Gesetzentwurf zu streichen [...] und das Rentenalter erst 2027 auf 64 Jahre zu erhöhen“.
Doch sobald die Gewerkschaften Vorschläge präsentieren, wird die Regierung laut Philippe drakonische Vollmachten fordern, um die Renten drastisch zu kürzen: „Die Regierung wird den Gesetzentwurf verändern, um vom Parlament ein umfassendes Ermächtigungsgesetz zu fordern, sodass alle Maßnahmen zur Gewährleistung des Gleichgewichts des Rentensystems bis 2027 per Dekret durchgeführt werden können.“ Das bedeutet, die Regierung kann die Erhöhung des Rentenalters, auf die sie angeblich verzichtet, und sogar noch stärkere Kürzungen per Dekret einführen.
Selbst rechte Politiker wie die Neofaschistin Marine Le Pen und der gaullistische Senator Roger Karoutchi haben sich über Philippes Brief lustig gemacht und erklärt, sei hätten keine Ahnung, was ein „provisorischer“ Verzicht auf eine Rentensenkung bedeuten soll. Die Gewerkschaftsbürokratie begrüßte den Brief dennoch. Die Confédération française démocratique du travail (CFDT) erklärte, er „bedeutet den Verzicht auf das ausgeglichene Alter in der Reform und damit die Bereitschaft der Regierung zu Kompromissen“.
Auch die Union nationale des syndicats autonomes (UNSA) unterstützte Macron und nannte Philippes Brief „ein gutes Zeichen, das es uns erlaubt, in Ruhe über die Frage der Ausgeglichenheit zu diskutieren“.
Der Vorsitzende der stalinistischen CGT Philippe Martinez gab zu: „Das Thema Rentenalter ist eine Fata Morgana, die unseren Widerstand gegen die Kürzungen nicht ändern wird.“ Er betonte, er werde weiterhin an den Gesprächen mit der Regierung und den Unternehmerverbänden teilnehmen und gab damit an, die CGT habe an „allen“ Gesprächen mit Macron über Rentenkürzungen seit 2017 teilgenommen.
Die Gewerkschaftsbosse und die Millionen von Arbeitern, die gegen die Reform streiken und protestieren, trennt eine Klassenkluft. Die Streiks wurden von einfachen Arbeitern begonnen, und sie sind entschlossen, diese Reform nicht nur zu verhindern, sondern auch die Kriegs- und Aggressionspolitik zu beenden, die Macron und die internationalen Finanzmärkte vertreten.
Sylvie, ein Mitglied der „Gelbwesten“-Bewegung, erklärte in Paris gegenüber Journalisten der WSWS: „Es ist uns egal, ob sie die Erhöhung des Rentenalters zurücknehmen. Wir sind gegen die Kürzungen, basta [...] Wir wissen, dass wir den Gewerkschaften nicht völlig trauen, aber die einfachen Arbeiter sind entschlossen.“
Mikaël, ein Bauarbeiter und Mitglied der „Gelbwesten“, erklärte: „Ich glaube wirklich, dass die Gewerkschaftsführer gemeinsame Sache mit Macron machen. Die einfachen Arbeiter, die sich an den Protesten beteiligen, werden nicht aufgeben. Aber ich glaube, die Gewerkschaftsführer tun nichts Gutes. Ich appelliere an alle Bauarbeiter, uns zu unterstützen. Wir müssen wirklich alle zusammenkommen, um der Sache ein Ende zu bereiten.“
Auch der Widerstand gegen Krieg und die Finanzaristokratie wächst. Der Heizungsingenieur Laurent erklärte gegenüber der WSWS: „Sie zerstören alles. Wir wollen eine Zukunft für unsere Kinder [...] Sie wollen uns ins 19. Jahrhundert zurückschicken.“
Laurent ist begeistert über die wachsenden Streiks und Proteste auf der ganzen Welt, u.a. in Indien und dem Libanon: „Wir erkennen, dass die Bevölkerung überall manipuliert und unterdrückt wird. Es sind immer die Gleichen, die alles entscheiden und überall Schaden anrichten. Wenn man mit einem Malier redet, kommt man irgendwann auf [den französischen Ölkonzern] Total und [das Finanzimperium] Bolloré zu sprechen, und dann merkt man, dass wir die gleichen Feinde haben. Die gleichen Parasiten versuchen, alle Länder zu zerstören. Und wenn sie morgen einen Krieg beginnen, werden sie ihn benutzen, um die Unterdrückung sämtlicher Völker und die Verschärfung dieser Politik zu rechtfertigen.“
Laurent fügte hinzu, der jüngste US-Drohnenmord am iranischen General Qassim Soleimani „ist Terrorismus. Man kann nicht einfach Menschen ermorden, egal ob man mit ihren politischen Ansichten übereinstimmt. Heute ist es überall so, kriminelle Aktionen sind möglich, so wie die Ermordung von Saddam Hussein oder Gaddafi“, den Herrschern des Irak und Libyens, die nach den Nato-Kriegen gegen ihre Länder durch die vom Imperialismus unterstützten Kräfte ermordet wurden. Laurent erklärte: „Sie wurden für Öl und Geld getötet.“
Mehrere Demonstranten wiesen auf die wachsende Gefahr von Krieg und Unterdrückung angesichts der Iran-Krise und Macrons Bestrebungen hin, seine Kürzungen durchzusetzen. Die Französischlehrerin Sophie erklärte, die Polizeigewalt wird „unerträglich und, was noch schlimmer ist, alltäglich. Und kommen Sie mir nicht mit den Medien und den Intellektuellen, die eigentlich dagegen sein sollten. Sie schweigen allesamt auffällig über das Thema. Polizeigewalt ist skandalös, und am schlimmsten ist, dass sie es ungestraft tun können. Was bei den letzten Protesten am Donnerstag passiert ist, war schrecklich, sie haben aus nächster Nähe Gummigeschosse abgefeuert."
Sie warnte, dass Angriffe auf den Iran und den Nahen Osten benutzt werden, um Nationalismus und Unterdrückung in Europa zu rechtfertigen: „Viele von uns denken, dass es sich vor allem um eine Strategie handelt, um den Klassenkampf in dieser Region abzuwürgen. Wir haben miterlebt, wie es dazu beigetragen hat, die Proteste im Libanon zu unterdrücken. [...] Es ist bekannt, dass Krieg ein erprobtes Mittel ist, um die Wut der Bevölkerung abzuwürgen.“
Das verdeutlicht, dass es die wichtigste Aufgabe ist, den Gewerkschaften die Kontrolle über den Kampf zu entreißen, unabhängige Organisationen aufzubauen und einen politischen Kampf gegen Krieg und Austerität und für den Sturz der Macron-Regierung zu organisieren.