Gegen die seit Wochen anhaltende Streikbewegung in Frankreich soll mit brutaler Gewalt vorgegangen werden. Diese Forderung stellte niemand geringeres als der frisch pensionierte Chef des französischen Generalstabes, General Pierre de Villiers.
Millionen Franzosen beteiligten sich in diesem Monat an Streiks und Demonstrationen im öffentlichen Dienst, die in weiten Teilen des Landes den Fern- und Nahverkehrs zum Erliegen brachten. Die Proteste richten sich gegen die Bestrebung von Präsident Macron, massiv Rentenkürzungen vorzunehmen.
Arbeiter in Frankreich und auf der ganzen Welt müssen General de Villiers Aussagen als Warnung verstehen und äußerst ernst nehmen. Die soziale Ungleichheit hat im kapitalistischen System derartige Ausmaße erreicht, dass demokratische Herrschaftsformen nicht mehr aufrechterhalten werden können und Teile der herrschenden Elite darauf drängen, eine blutige Militärdiktatur zu errichten.
Bereits im letzten Jahr ordnete Präsident Macron eine gnadenlose Unterdrückung der „Gelbwesten“ an, die gegen soziale Ungleichheit auf die Straße gingen. Ihnen folgten Studentenproteste und die jetzigen Streiks. Die „Gelbwesten“ wurden mit gepanzerten Fahrzeugen und Wasserwerfern konfrontiert, tausende Bereitschaftspolizisten, bewaffnet mit Gewehren und Gummigeschossen, gingen gegen sie vor. Mehr als 10.000 Teilnehmer wurden verhaftet und im Gefängnis verhört, über 4.400 wurden verletzt, zwei Dutzend haben durch Gummigeschosse ihr Augenlicht verloren, fünf Demonstranten büßten durch Polizeigranaten ihre Hände ein, und eine unbeteiligte Person kam ums Leben. Das ist die umfassendste Welle staatlicher Repressionen seit der Besetzung der Nationalsozialisten (1940-1944) im Zweiten Weltkrieg.
Im März diesen Jahres erlaubte der Militärbezirkskommandant General Bruno Le Ray französischen Soldaten, das Feuer auf Demonstranten zu eröffnen. Ein solcher Befehl wurde in Frankreich seit 1948 nicht mehr erteilt.
Dennoch bestand General de Villiers darauf, dass die Unterdrückung der sozialen Proteste erheblich ausgeweitet werden müsse. Als Macron und der französische Premierminister Edouard Philippe vertrauliche Treffen sowohl mit dem Generalstab, als auch mit Gewerkschaftsfunktionären vorbereiteten, um die Massendemonstrationen vom Dienstag auszuwerten, sagte de Villiers der Mediengruppe RTL: „Wir müssen wieder ein Gleichgewicht zwischen Entschlossenheit und Menschlichkeit herstellen… In unserem Land fehlt es an Entschlossenheit.“
De Villiers wird als möglicher neofaschistischer Präsidentschaftskandidat für die Wahlen 2022 gehandelt. Er betonte, dass ihm der immer schärfere Konflikt zwischen Arbeitern und Staat Furcht einjage: „Zwischen denen, die befehlen, und jenen, die gehorchen, ist eine Kluft entstanden. Diese Kluft ist tief. Die ‚Gelbwesten‘ waren schon ein erstes Anzeichen dafür.“ Weiter sagte de Villiers: „Die Ordnung muss wieder hergestellt werden. So kann das nicht weitergehen.“
Natürlich machten weder de Villiers noch Macron genaue Aussagen dazu, wie viele Menschen sie bei ihrem Versuch, die sozialen Proteste zu zerschlagen, noch bereit sind, zu töten, zu verstümmeln und ins Gefängnis zu werfen. Doch ist sich die herrschende Klasse offensichtlich darüber bewusst, dass sie bereits einen gewalttätigen Kampf gegen die Arbeiterklasse führt. Um de Villiers Schritt zu verstehen, muss daran erinnert werden, was dessen Vorgänger taten, als sie „mehr Entschlossenheit“ gegen die Arbeiter zeigten.
Im Jahr 1848 erhoben sich Arbeiter in ganz Europa zur Revolution gegen die Monarchien, die aus der Niederlage Frankreichs in den napoleonischen Kriegen hervorgegangen waren. Im Juni desselben Jahres gingen die Pariser Arbeiter auf die Straße. Die Regierung hatte ohne Ankündigung versucht, die Nationalwerkstätten zu schließen, die zur Arbeitsbeschaffung errichtet worden waren. Die Arbeiter wollten sich jedoch nicht mit Armut und Hunger abfinden. Die brutale Antwort von General Eugène Cavaignac folgte prompt, als die Armee und die Sicherheitskräfte im Juniaufstand über 3.000 Arbeiter töteten, 25.000 festnahmen und 11.000 Demonstranten ins Gefängnis steckten oder gleich nach Algerien deportierten.
Im März 1871 versuchte die Regierung der Dritten Französischen Republik, Paris zu entwaffnen. Die Kanonen, die zur Selbstverteidigung der Stadt im Krieg gegen Preußen angeschafft worden waren, sollten entwendet werden. Daraufhin brach in Paris erneut ein Aufstand aus, und über Nacht übernahmen die Arbeiter die Macht. Nur kurze Zeit später brach die französische Armee unter General Patrice de MacMahon, unterstützt vom preußischen Generalstab, erneut in Paris ein und schlachtete die Aufständischen ab.
Unter der Führung von Adolphe Thiers, liberal-konservativer Historiker und erster Staatspräsident der Dritten Republik Frankreichs, wurden schätzungsweise 20.000 Arbeiter getötet und 60.000 verhaftet. Am 24. Mai 1871, als in Paris die berüchtigte „blutigen Maiwoche“ wütete, prahlte Thiers vor der Nationalversammlung, dass er „Ströme von Blut“ fließen lasse.
Aus diesen bitteren Erfahrungen des internationalen Klassenkampfs entwickelten die größten damaligen Revolutionäre die marxistische Staats- und Revolutionstheorie. Diese diente 1917 in Russland als Richtschnur, als die Arbeiter in der Oktoberrevolution die Staatsmacht übernahmen.
Wie Friedrich Engels 1884 schrieb, richtet der Staat eine „öffentliche Gewalt [ein], die nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sich selbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Diese besondre, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätige bewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich geworden seit der Spaltung in Klassen. […] Diese öffentliche Gewalt existiert in jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Menschen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissen und Zwangsanstalten aller Art […] Sie verstärkt sich […] in dem Maß, wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschärfen“. [„Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“, S. 165–166]
Daraus folgt für Arbeiter die Notwendigkeit, die Staatsmacht zu übernehmen, um die konterrevolutionäre Gewalt der herrschenden Klasse zu unterdrücken, mittels eines sozialistischen Programms soziale Gleichheit zu schaffen und die Klassenspaltung der Gesellschaft zu überwinden. Und obwohl seit der Existenz der Pariser Kommune fast 150 Jahre vergangen sind, sind Engels Worte hochaktuell. Er spricht die entscheidenden Fragen an, mit denen die Arbeiter in Frankreich und auf der ganzen Welt heute wieder konfrontiert sind.
Seit zwei Jahren flammen überall auf der Welt soziale Kämpfe auf, von den Autoarbeitern und Lehrern in den USA bis hin zu Massenprotesten gegen soziale Ungleichheit und autoritäre Herrschaftsformen in Algerien, im Libanon, in Irak, Chile, Bolivien und vielen anderen Ländern. Dieses weltweite Wiederaufleben des Klassenkampfes ist das Ergebnis sozialer Widersprüche, die im globalisierten kapitalistischen System über Jahrzehnte herangereift sind. Seit der Auflösung der stalinistischen Sowjetunion 1991, und besonders seit dem Finanzcrash von 2008, fließt der Reichtum, den die Arbeiter schaffen, ungehindert an die Finanzaristokratie, wie auch in die imperialistischen Kriege in Afghanistan, Syrien, Libyen und Mali.
Wie der Aufbau von Militär- und Polizeikräften auf der ganzen Welt zeigt, nimmt die Schärfe des Klassengegensatzes ständig zu. Durch die Rentenkürzungen, die Präsident Macron durchsetzen will, würden zig Milliarden Euro an die Banken fließen. Es wird deutlich, dass demokratische Staaten ihren Namen nicht verdienen. Sie sind nichts weiter als kaum verhüllte Diktaturen der herrschenden Klasse. Der Marxismus spricht vom Staat als einer besonderen Formation bewaffneter Menschen. Das trifft selbst auf ein Land wie Frankreich zu, das von einer langen bürgerlich-demokratischen Tradition geprägt ist. Um das zu verstehen, reicht es aus, an irgendeinem Streiktag durch eine x-beliebige Straße in Paris zu gehen.
Das hat auch zum Bankrott der pseudolinken Kräfte geführt. So verteidigen Bewegungen wie La France insoumise (Unbeugsames Frankreich) von Jean-Luc Mélechon diesen Staat und die bestehende Gesellschaftsordnung. Nicht nur unterstützen sie die Versuche der Gewerkschaften, einen reaktionären Deal mit Macron auszuhandeln, sondern sie vertuschen auch die Pläne des Staatsapparats für militärische Repression. Anstatt vor General de Villiers zu warnen, schürt Mélenchon Illusionen in die Neofaschistin Marine Le Pen. Er pries ihre zynische Erklärung zur Unterstützung des Streiks als „Fortschritt“ und wichtigen Schritt „in Richtung Humanismus“.
Die entscheidende Aufgabe besteht nun darin, die Arbeiterklasse zu warnen und sie politisch gegen die Gefahr der staatlichen Repression zu rüsten. Kein Vertrauen in die Gewerkschaften und ihre pseudolinken Verbündeten! Der Weg nach vorne besteht im Aufbau gewerkschaftsunabhängiger Aktionskomitees. Nur so können immer breitere Schichten der Arbeiterklasse für den Kampf gegen die Finanzaristokratie, die Macron-Regierung und drohende staatliche Repressionen und Diktatur mobilisiert werden.