Frankreich: 1,5 Millionen Demonstranten und Zehntausende von Streikenden protestieren gegen Austerität und Ungleichheit

An der größten Arbeitsniederlegung in Frankreich seit Jahrzehnten beteiligten sich am Donnerstag Zehntausende Bahnarbeiter, Beschäftigte des öffentlichen Diensts und des Bildungswesens, während 1,5 Millionen Menschen an Demonstrationen gegen die Rentenkürzungspläne von Präsident Emmanuel Macron teilnahmen.

Der Streik ist Teil eines umfassenden internationalen Wiederauflebens des Klassenkampfs gegen soziale Ungleichheit und Unterdrückung durch Militär und Polizei.

Die streikenden Arbeiter in Frankreich reihen sich ein in die Massenproteste im Irak, dem Libanon, Chile, Kolumbien, Hongkong und Algerien, und in die Streiks der amerikanischen Autoarbeiter und Lehrer sowie der britischen Bahnarbeiter. Am Donnerstag gingen Arbeiter der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF, Lehrer und Arbeiter der Pariser Verkehrsbetriebe, der Krankenhäuser, Flughäfen, Häfen, der Energiebranche, Studierende und Anwälte zusammen auf die Straße.

Der Streik hat die norme soziale Kraft der Arbeiterklasse gezeigt. In ganz Frankreich kam der Schienenverkehr zum Erliegen, nur einer von zehn Hochgeschwindigkeitszügen (TGV) und drei bis fünf Prozent der Regionalexpresszüge fuhren. Laut dem Management der SNCF nahmen 85,7 Prozent der Lokführer und 73,3 Prozent der Fahrdienstleiter am Streik teil.

In Paris kam der öffentliche Verkehr nahezu zum Erliegen. Laut der Verkehrsgesellschaft RATP wurden elf der 16 U-Bahnlinien komplett stillgelegt, die anderen wurden nur eingeschränkt befahren.

Die Streikenden blockierten Treibstoffdepots, und sieben der acht französischen Ölraffinerien wurden bestreikt, sodass es langfristig zu Benzinknappheit im ganzen Land kommen könnte.

Laut Statistiken des Staatssekretärs im Ministerium für den öffentlichen Dienst, Olivier Dussopt, nahmen 32,5 Prozent der Staatsbediensteten (u.a. im Bildungswesen, bei der Post und der ehemaligen France Telecom) am Streik teil. Von den Schullehrern beteiligten sich 51,15 Prozent der Grundschul- und 42,32 Prozent der Sekundarschullehrer. Viele Kinder blieben zu Hause oder mussten in Notfall-Service-Zentren gebracht werden, die von den städtischen Behörden unterhalten werden.

Mehrere wichtige französische Flughäfen wurden durch Streiks verschiedener Gruppen von Arbeitern, u.a. von Fluglotsen im Süden, stark beeinträchtigt. Dazu gehörten auch die beiden großen Flughäfen von Paris und die Flughäfen in Nizza, Marseille, Lyon, Toulouse und Bordeaux.

In mehreren Branchen wird der Streik in den kommenden Tagen weitergehen. Laut Angaben aus den Gewerkschaften soll der Zugverkehr bis Montag stark betroffen sein, und die Fluggesellschaften kündigten die Streichung von 20 Prozent ihrer Flüge für Freitag an. Viele Lehrer werden vermutlich auch am Freitag streiken. Der Verband der Lastwagenfahrer IOTRE gab in der Nacht von Donnerstag auf Freitag bekannt, er werde am Freitag mit 15 Blockaden gegen die Benzinpreiserhöhungen der Macron-Regierung protestieren.

Hunderttausende von Streikenden beteiligten sich an Protestveranstaltungen, die in ganz Frankreich organisiert wurden. Laut den Gewerkschaften demonstrierten in Paris 250.000 Menschen, in Marseille 150.000, in Toulouse 100.000 und in Lille 40.000. Dazu kamen Zehntausende in Montpellier, Bordeaux und Nantes sowie etwa 285.000 weitere in etwa 40 anderen Städten. In mehreren Städten nannten die Behörden der Presse keine Teilnehmerzahlen.

 

Bekannte Aktivisten der „Gelbwesten“ wie Eric Drouet, Priscilla Ludosky und Maxime Nicolle riefen ihre Unterstützer auf, an den Protesten teilzunehmen, ohne jedoch die Gewerkschaftsbürokratien formell zu unterstützen.

In mehreren Städten kam es zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, u.a. in Lyon, Nantes, Rennes und Paris. In Paris hielten die Sicherheitskräfte große Teile der Demonstrationszüge auf und attackierten sie dann, zuerst auf der Place de la République, danach auf der Place de la Nation.

Die Macron-Regierung hatte einen massiven Polizeieinsatz organisiert, der vom Ausmaß her mit denen während der größten „Gelbwesten“-Proteste im letzten Dezember vergleichbar ist, aber für einen von den Gewerkschaften organisierten sozialen Protest völlig beispiellos war.

Das Magazin L'Express berichtete: „Insgesamt werden in ganz Frankreich 108 Spezialeinheiten eingesetzt werden: 60,5 Einheiten der mobilen Militärpolizei und 47,5 Einheiten der Bereitschaftspolizei. Abgesehen vom Raum Paris werden sie überwiegend im Süden, Südosten und Norden eingesetzt werden. Der Norden, Westen und Südwesten werden dabei leicht unterbesetzt bleiben. Daneben werden 180 motorisierte Teams der BRAV [Brigaden zur Unterdrückung gewaltbereiter Aktionen] eingesetzt. Was die technischen Mittel angeht, so werden sechs Wasserwerfer einsatzbereit gemacht, zusätzlich werden drei Drohnen über Paris fliegen.“

Ein anonymer hochrangiger Vertreter des Sicherheitsapparats erklärte, er sei „sehr besorgt“ wegen der Demonstration in Paris und behauptete: „Wir stehen kurz vor einem Aufstand.“

In Paris mobilisierten die Sicherheitskräfte Panzerwagen, Wasserwerfer, Soldaten und Bereitschaftspolizei mit Sturmgewehren, um Barrikaden um den Elysée-Palast und andere Regierungsgebäude zu errichten. Insgesamt wurden zwischen 6.000 und 8.500 Bereitschaftspolizisten mobilisiert. Bis um 20 Uhr gab es 90 Verhaftungen, darunter 71 Präventivverhaftungen. Zuvor waren bereits 11.490 Menschen vorsorglich festgehalten und durchsucht worden.

Der Streik vom 5. Dezember ist das Produkt eines neuen Stadiums im Klassenkampf angesichts der Radikalisierung von wachsenden Teilen der internationalen Arbeiterklasse. Der Aufruf zum Streik ging von der staatlichen Eisenbahngesellschaft SNCF aus, wo die Gewerkschaften befürchteten, sie könnten die Kontrolle verlieren. Im Herbst fanden dort zwei große spontane Streiks gegen die geplante Privatisierung der SNCF sowie gegen Lohnsenkungen und Lohnspaltung statt. Doch nachdem der Aufruf erfolgt war, ergriffen immer mehr Arbeiter die Gelegenheit, an einem legalen, genehmigten Streik teilzunehmen.

Diese Mobilisierung zeigt, dass in der breiten Masse der Widerstand gegen die Politik der Europäischen Union – Nullrunden im öffentlichen Dienst, drastische Angriffe auf Renten und soziale Rechte – wächst. Macron will mehrere spezielle Rentenkassen abschaffen und setzt auf ein Rentensystem auf der Grundlage von Punkten ohne festen Geldwert. Der Staat hat Forderungen nach größerer sozialer Gleichheit und besseren Lebensbedingungen für die Arbeiter arrogant zurückgewiesen und plant stattdessen tiefgreifende Kürzungen der Renten, im Gesundheitswesen und bei anderen wichtigen Sozialprogrammen.

Unter den Arbeitern herrscht weitverbreitete Opposition gegen die kapitalistische Gesellschaftsordnung und berechtigtes Misstrauen gegenüber den Gewerkschaften, die mit Macron die Kürzungen aushandeln und bis jetzt, seit seiner Wahl 2017, keinen nennenswerten Streik organisiert hatten.

Breiter gefasst ist keines der Probleme, gegen die sich der Streik richtete, ein nationales Problem. Sie sind allesamt – niedrige Löhne, die Ausbeutung an unterbesetzten Arbeitsplätzen, soziale Ungleichheit, die Unterdrückung jeden Widerstands gegen das Diktat der Banken durch Militär und Polizei – internationale Probleme, gegen die in diesem Jahr Dutzende und sogar hunderte Millionen Arbeiter auf der ganzen Welt auf die Straße gegangen sind. Die Lösung dieser Probleme erfordert die Enteignung der milliardenschweren Finanzaristokratie, die das wirtschaftliche Leben durch die internationalen Finanzmärkte beherrscht.

Zu diesem Zweck müssen die Arbeiter mit den national basierten Gewerkschaftsbürokratien brechen und von den Gewerkschaften unabhängige Aktionskomitees aufbauen, damit sie den Gewerkschaften die Kontrolle über den Kampf entreißen und sich weltweit zusammenschließen können.

Der „Sozialdialog“ zwischen Gewerkschaften, Arbeitgeberverbänden und dem Staat in Frankreich hat der Arbeiterklasse jahrzehntelang nur soziale Rückschritte gebracht. Tatsächlich unterstützten hochrangige Vertreter der Macron-Regierung während des Streiks die Gewerkschaften und machten deutlich, dass ihnen bewusst ist, dass die Gewerkschaften die Rentenkürzungen akzeptieren und jeden politischen Kampf gegen Macron abwürgen wollen.

Der Vorsitzende von Macrons Parlamentsfraktion in der Nationalversammlung, Gilles Legendre, erklärte: „Keine Gewerkschaft denkt ernsthaft, dass [er] aufgeben wird.“ Das bedeutet, die Gewerkschaften wollen in Wirklichkeit einen faulen Kompromiss mit dem Staat und den Arbeitgeberverbänden abschließen und den Arbeitern aufzwingen. Dieser würde nahezu alle Kürzungen beinhalten, die Macron plant.

Ministerpräsident Edouard Philippe erklärte in seiner Kommandozentrale im Verkehrsministerium: „Insgesamt haben sich die Streiks und Proteste wie geplant entwickelt. Heute wurden viele Protestveranstaltungen in Frankreich organisiert, die meisten davon liefen gut ab. ... Ich möchte den Gewerkschaften meinen Respekt für ihren organisatorischen Erfolg erweisen.“

Solche Äußerungen bestätigen die Warnungen der Parti de l’égalité socialiste und ihren Aufruf zum Aufbau von Aktionskomitees, um den Kampf unabhängig von den Gewerkschaften zu führen. Durch einen Kampf im rein nationalen Rahmen unter der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie, die eng mit dem Staat verbündet ist, werden die Arbeiter nichts gewinnen. Um zu siegen, müssen sie den Gewerkschaften die Kontrolle über den Kampf aus den Händen nehmen und eine sozialistische, internationalistische und revolutionäre Perspektive übernehmen.