Der Brexit-Konflikt hat den britischen Imperialismus in eine Herrschaftskrise gestürzt, für die es wenige historische Präzedenzfälle gibt. Er ist mittlerweile von einer Sprache geprägt, die Anleihen bei Kriegs- und Gewaltausdrücken macht. Selbst auf den englischen Bürgerkrieg wird Bezug genommen. Die Lage ist brandgefährlich. Umso dringender ist es, dass die Arbeiterklasse als unabhängige Kraft eingreift und ihre eigenen Interessen vertritt.
Der Brexit hat offenbart, dass die parlamentarische Herrschaft in Scherben liegt. Der Supreme Court ist zu dem einstimmigen Urteil gelangt, dass die fünfwöchige Aussetzung des Parlaments durch den konservativen Premierminister Boris Johnson „rechtswidrig und nichtig“ war und „extreme Auswirkungen auf die Grundlagen der britischen Demokratie“ hatte. Mit diesem Urteil sollte ein ungeregelter Austritt aus der EU verhindert werden. Denn damit würde das Vereinigte Königreich den Zugang zu Märkten verlieren, auf die die Hälfte seines gesamten Außenhandels entfällt. Das Karfreitagsabkommen in Nordirland wäre gefährdet, die Gefahr eines Auseinanderbrechens des Landes würde sich zuspitzen. Außerdem drohen wirtschaftliche Verwerfungen, die zwangsläufig politische und soziale Auseinandersetzungen auslösen würden.
Doch die Ereignisse seit der Wiedereinberufung des Parlaments am Mittwoch haben bewiesen, dass diese Institution nicht dazu tagt, gegen diesen brutalen politischen Gangster vorzugehen. Wenn sich Johnson wie eine Miniaturausgabe seines Vorbilds Donald Trump aufführt und die Oppositionsparteien verächtlich abkanzelt, dann deshalb, weil er genau weiß, was sie für erbärmliche Feiglinge sind – allen voran Labour-Chef Jeremy Corbyn.
So erklärte Johnson, dass der Supreme Court kein Recht habe, über eine „im Wesentlichen politische Frage“ zu urteilen. Er bekräftigte, dass ihn nichts davon abhalten werde, die Europäische Union am 31. Oktober zu verlassen. Wiederholt forderte er Corbyn und die kleineren Oppositionsparteien heraus, einen Misstrauensantrag im „Zombie-Parlament“ zu stellen und Neuwahlen anzusetzen – weil er genau weiß, dass Corbyn nichts dergleichen tun wird. Corbyn hat der Forderung des rechten Labour-Flügels um Blair zugestimmt, kein Misstrauensvotum gegen Johnson zu beantragen und sich stattdessen im Bündnis mit den EU-Befürwortern unter den Torys, den Liberaldemokraten, der Scottish National Party und anderen auf die Verhinderung eines ungeregelten Brexits zu konzentrieren.
So hatte Johnson freie Bahn, Corbyn als Gefangenen seiner eigenen Partei zu verspotten und höhnisch „Freiheit für den Gefangenen von Islington“ (Corbyns Wahlkreis) zu fordern. Corbyn, so Johnson weiter, könne keine Neuwahlen fordern, weil seine eigenen Abgeordneten vor seinem Wahlsieg mehr Angst hätten als vor seiner Niederlage.
Corbyn hatte nichts anderes zu antworten, als Johnson kleinlaut zu drängen, sich „ehrenhaft“ zu verhalten und zurückzutreten oder sich zumindest bei „der Königin und dem Land“ zu entschuldigen.
Es blieb den weiblichen Abgeordneten der Labour Party überlassen, einen Gegenangriff zu versuchen. Paula Sherriff kritisierte Johnson, weil er im Zusammenhang mit den Brexit-Gegnern Wörter wie „Kapitulation“ und „Verrat“ verwende. Dies habe zu Morddrohungen gegen Abgeordnete geführt. Als Johnson daran erinnert wurde, dass die Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox kurz vor dem Brexit-Referendums 2016 von einem Faschisten ermordet wurde, antwortete Johnson, der beste Weg, ihr Andenken zu ehren, bestehe darin, „den Brexit über die Bühne zu bringen“.
Die Debatte am Donnerstag war von einer Sprache und „Kultur“ beherrscht, die der Sprecher des Unterhauses John Bercow, ein EU-Befürworter, als „vergiftet“ bezeichnete. Ein Abgeordneter nach dem anderen meldete sich zu Wort, um Johnson moralisch anzuklagen. Der Premierminister verurteilte daraufhin pro forma Drohungen gegen weibliche Abgeordnete, bestand jedoch auf seinem Recht, den Benn Act als „Kapitulationsgesetz“ zu bezeichnen. Dieses Gesetz zwingt die Regierung, einen weiteren Aufschub der Austrittsfrist zu beantragen, wenn bis zum 19. Oktober keine Vereinbarung mit der EU erzielt wird. Für seine Haltung wurde Johnson von Rechtsextremen wie Katie Hopkins, Tommy Robinson (der gegen die „Verräter im Parlament“ wetterte) und Jayda Franzen von Britain First als Held gefeiert. Der Mörder von Jo Cox, Thomas Mair, hatte „Britain First“ gerufen, als er auf sein Opfer einstach und schoss.
Johnsons Hurrapatriotismus, seine Law-and-Order-Sprache und seine Kampagne, das „Volk“ gegen das Parlament und die Justiz zu mobilisieren, zeigen unverkennbar, dass er auf eine autoritäre Herrschaft zusteuert. Aber die Ursache für diese Gefahr liegt letztlich nicht in seiner Person. Überall auf der Welt spielen sich ähnliche Prozesse ab. Die faschistischen Tiraden von Donald Trump, die sich Johnson zum Vorbild nimmt, sind nur ein Beispiel.
Die einzige Möglichkeit, Widerstand zu leisten, ist eine neue Politik auf der Grundlage des Klassenkampfs. Das Parlament ist in der Tat ein faulender Leichnam, und keine Fraktion der herrschenden Klasse hat ein echtes Interesse an demokratischen Rechten. Die Pro-Remain-Abgeordneten geben sich nur deshalb als Verteidiger der parlamentarischen Souveränität aus und rufen die Gerichte an, weil sie mit der verfeindete Fraktion in einem erbitterten Streit darüber liegen, wie ein Handelskrieg und ein militärischer Konflikt für die räuberischen imperialistischen Interessen Großbritanniens am besten geführt werden können: im Bündnis mit der Trump-Regierung oder durch den Verbleib Großbritanniens innerhalb des europäischen Blocks.
Die reaktionäre nationalistische Agenda des Brexits kann nicht durch eine Hinwendung zur EU bekämpft werden. Die Europäische Union rüstet selbst militärisch auf und hat erst in dieser Woche Unterstützung für die Kriegsvorbereitungen der USA gegen den Iran signalisiert. Sie errichtet Grenzmauern und Konzentrationslager für Migranten und plant nicht weniger brutale Sparmaßnahmen als die Brexiteers. Egal, in welcher Form er geführt wird, der Kampf um die globale Vormachstellung wird mit weiteren Angriffen auf die Arbeiterklasse einhergehen, die polizeistaatliche Maßnahmen erfordern.
Am Mittwoch befasste sich das Parlament mit der „Operation Yellowhammer“, dem Notfallplan der Regierung für einen ungeregelten Brexit. Dieser Plan geht davon aus, dass es zu einem Mangel an Lebensmitteln und lebenswichtigen Medikamenten, massiven Preiserhöhungen und wirtschaftlichen Verwerfungen kommen wird. Der Zusammenbruch des traditionsreichen Reiseveranstalters Thomas Cook ist dafür nur der Vorgeschmack. Doch niemand auf den Bänken der Opposition sprach sich dagegen aus, wie geplant 50.000 Soldaten und 10.000 Bereitschaftspolizisten einzusetzen, um „öffentliche Unruhen“ und Streiks zu bekämpfen. In Wirklichkeit sind die oppositionellen Parlamentier mit diesen Repressionsvorbereitungen völlig einverstanden.
Corbyn wird sich diesen Plänen nicht widersetzen. Er ist seit vier Jahren mit nichts anderem beschäftigt, als dafür zu sorgen, dass es keinen organisierten politischen Kampf gegen die herrschende Klasse gibt. Heute bietet er sich offen als Anwärter einer „Übergangsregierung“ und als potenzieller Retter des britischen Imperialismus an. Noch bevor er einen Fuß in die Downing Street 10 gesetzt hat, versichert Corbyn dem Bankenzentrum von London bereits, dass er getreulich seinen Interessen dienen wird.
Jetzt ist vor allem eines notwendig: dass die Arbeiterklasse den Kampf um die Staatsmacht, für eine Arbeiterregierung und für den Sozialismus aufnimmt. Die Antwort auf die Brexit-Krise ist nicht Einheit mit der EU, sondern der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse gegen alle europäischen Regierungen und für die Vereinigten Sozialistischen Staaten von Europa.
Die objektiven Bedingungen für einen solchen Kampf reifen täglich weiter heran. In einem Land nach dem anderen nehmen Arbeiter durch Streiks und Proteste den Kampf auf, um der jahrzehntelangen Offensive des Großkapitals ein Ende zu setzen. Beispiele sind der aktuelle Streik der Arbeiter von General Motors in den USA, der massive Streik bei der Bahn und im Bildungswesen in Frankreich gegen den Angriff von Präsident Macron auf die Renten, die Bewegungen gegen die Regierungen im Sudan, Algerien und Hongkong, die globalen Klimaproteste von Millionen und der erneute soziale und politische Protest gegen das Militärregime in Ägypten, nachdem der „arabische Frühling“ von 2011 blutig niedergeschlagen worden war.
Mit den Streiks der British-Airways-Piloten, die 1.700 Flüge betrafen, und den Urabstimmungen unter 120.000 Postangestellten und mehr als 100.000 Beschäftigten an den Hochschulen erreicht diese Mobilisierung nun auch Großbritannien. All diese Bewegungen können sich nur in einer bewussten politischen Rebellion gegen die Labour- und Gewerkschaftsbürokratie entwickeln, die auf der sozialistischen und internationalistischen Perspektive der Partei der Sozialistischen Gleichheit basiert.