Gastbeitrag für die Freiheit von Julian Assange

Der Krieg gegen den Journalismus ist ein Krieg gegen die Geisteswissenschaften

Dr. Monika Eisenhauer ist eine unabhängige Historikerin und Kennerin des Mittelalters. Sie studierte Geschichte und Philosophie an der Fernuniversität Hagen und schrieb ihre Magisterarbeit über die Transformation des Prozessrechts am Ende des Mittelalters. Ihre Doktorarbeit befasst sich mit dem staatsbildenden und politischen Charakter der Klosterreformen des 15. Jahrhunderts. Heute lebt sie in Koblenz. Ihre Forschung umfasst Rechts-, Wirtschafts-, Sozial- und Religionsgeschichte in Verbindung mit Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte.

Eisenhauer sandte der World Socialist Web Site die folgende Erklärung zur Unterstützung der Forderung nach einer weltweiten Kampagne zur Freilassung von Julian Assange. Die WSWS lädt andere ein, ihre Stellungnahmen einzureichen.

Am 14. Juni fand die Anhörung zur Auslieferung von Julian Assange vor dem Westminster Magistrates Court in London statt, die fünftägige Hauptverhandlung wird im Februar 2020 folgen. Assange wird wegen Bedrohung der nationalen Sicherheit der USA durch die Veröffentlichung von Dokumenten zu Afghanistan und Irak angeklagt. Der Prozess findet statt, nachdem der Journalist jahrelang psychologischer Folter ausgesetzt war, wie der UN-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer kürzlich erklärte. Seit Ende des Zweiten Weltkriegs gab es nur noch wenige Fälle von Journalisten, die unter dem Espionage Act of 1917 angeklagt wurden, z. B. Daniel Ellsberg und Anthony Russo. Dafür gibt es einen guten Grund. Die Veröffentlichung geheimer Dokumente wird durch die Pressefreiheit geschützt und durch den ersten Zusatzartikel der Verfassung der Vereinigten Staaten garantiert.

Die Pressefreiheit gilt in der westlichen Welt als ein sehr hohes Gut. Vor diesem Hintergrund stellen die Anklagen der US-Regierung gegen den Journalisten Julian Assange, der derzeit wegen Verletzung der Kautionsbedingungen im Hochsicherheitsgefängnis Belmarsh inhaftiert ist, einen Angriff auf die Pressefreiheit dar, der in der Nachkriegsgeschichte ohne Beispiel ist. Die Anklage der US-Regierung wirft Julian Assange vor,

„Dokumente, Schriften und Notizen im Zusammenhang mit der nationalen Verteidigung (...) entgegenzunehmen und zu beschaffen, um Informationen über die nationale Verteidigung zu beschaffen, im Wissen und in der zum Zeitpunkt ihrer Beschaffung begründeten Überzeugung, dass diese Unterlagen von einer Person [Manning] an sich genommen, beschafft und entsorgt werden würden.“

[„to receive and obtain documents, writings, and notes connected with the national defense (…) for the purpose of obtaining information respecting the national defense, and knowing and with reason to believe at the time such materials are obtained, they had been and would be taken, obtained, and disposed of by a person [Manning]” (Indictment, Count I, B, 2)]

Das entspricht der Definition des Journalismus: Journalismus ist jede Art von publizistischer Tätigkeit mit der Absicht, Öffentlichkeit zu schaffen. Werkzeuge für die Herstellung des öffentlichen Raums sind Printmedien, Online-Medien oder Rundfunk. Aus gutem Grund definieren die Verfassungen der westlichen Welt nicht, wer als Journalist zu betrachten ist und wer nicht, denn eine solche Definition wäre bereits die Einschränkung der Pressefreiheit, die der erste Verfassungszusatz der USA uneingeschränkt garantiert. So ist jeder Versuch, jemanden als Nicht-Journalisten zu diffamieren, der durch Publikationen Öffentlichkeit herstellt, bereits ein Verstoß gegen den ersten Verfassungszusatz. Julian Assange ist zweifelsfrei ein Journalist im Sinne der Verfassung und der Definition von Meinungs- und Pressefreiheit. Anklage gegen ihn zu erheben, weil er Dokumente entgegennahm mit der Absicht, sie zu veröffentlichen, ist der Beginn eines Krieges gegen den Journalismus. In den letzten Wochen kam es bereits zu weiteren Durchsuchungen und Verhaftungen investigativer Journalisten in den USA, Australien und Frankreich.

Der Fall Assange geht über den Versuch hinaus, den investigativen Journalismus zu kriminalisieren: Julian Assange ist australischer Staatsbürger und hat außerhalb des US-Territoriums veröffentlicht. Dieser extraterritoriale Zugriff auf einen Autor würde einen gefährlichen Präzedenzfall für das Völkerrecht schaffen und jede Veröffentlichung von Quellen und Texten unter die Deutungshoheit der Staats- und Regierungschefs der Welt stellen. Assange selbst nannte dieses Verfahren "Lawfare" (ein Wortspiel aus „Law“ (Recht) und „Warfare“ (Kriegsführung)). Als Beispiel für eine solche extraterritoriale Möglichkeit stelle man sich vor, dass der Herrscher von Nordkorea einen Antrag auf Auslieferung stellt, weil ein Autor einen Text über ein geheimes Gefangenenlager in Nordkorea veröffentlicht hat.

Wir sind konfrontiert mit der Kriminalisierung des Lesens, Verarbeitens und Veröffentlichens von Dokumenten der "nationalen Sicherheit" mit der Aussicht auf Strafverfolgung durch die Vereinigten Staaten in einer großen Anzahl der Länder auf der ganzen Welt. Die Deutungshoheit des Begriffs "nationale Sicherheit" liegt dann bei einer kleinen politischen Elite der US-Oligarchie.

Und so sieht es aus: In den Geisteswissenschaften ist die Geschichtswissenschaft besonders betroffen. Denn was sind die Ziele und Aufgaben von Geschichte? Die Zielsetzung der Geschichtswissenschaft ist es, die Geschichte von Menschen und Gesellschaften so objektiv wie möglich zu schreiben. Zu diesem Zweck benötigt sie freien und uneingeschränkten Zugang zu den Quellen. Sie benötigt auch die Möglichkeit, die Quellen frei und objektiv zu bearbeiten. Und am Ende braucht sie die Freiheit, unabhängig zu publizieren.

Einige Historiker veröffentlichen reine Quellensammlungen, damit andere Historiker die Quellen in den Gesamtkontext einordnen können. Nichts anderes hat Julian Assange für den journalistischen Bereich getan. Die Quellen stehen nicht nur Journalisten, sondern, ebenso wie transkribierte Manuskripte der Mittelalterforschung, der Öffentlichkeit und natürlich den Geisteswissenschaften zur Verfügung.

Die Aufgabe der Geschichtswissenschaften ist es, die Wahrnehmung aktueller Probleme durch die Analyse historischer Entwicklungen zu verbessern und die Komplexität ihrer Ursachen herauszufinden. Dies ist jedoch nur möglich, wenn der Zugang zu den relevanten Quellen nicht einer willkürlichen Klassifizierung durch Regierungen der ganzen Welt unterliegt. Dies ist nur möglich, wenn die Veröffentlichung eines Textes keine lebensbedrohliche Situation für den Autor darstellt.

Stellen Sie sich eine Situation vor, in der vor allem die USA definieren, welche Dokumente verwendet werden dürfen und welche nicht. Wie könnten Historiker dann die Geschichte eines Landes in Lateinamerika schreiben, in dem die Aktivitäten der CIA eine große Rolle gespielt haben? Das Gleiche gilt für den Nahen Osten. Stellen Sie sich eine Situation vor, in der die Weltliteratur zur Zeitgeschichte von der US-Elite genehmigt werden muss.

Wir dürfen nicht zulassen, dass Julian Assange an die Vereinigten Staaten ausgeliefert wird! Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu schützen, die Pressefreiheit zu bewahren und darüber hinaus die unabhängigen Geisteswissenschaften zu schützen!

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