Am Donnerstagabend stand das US-Militär unmittelbar vor Luft- und Raketenangriffen auf den Iran. Erst zehn Minuten vor ihrem geplanten Beginn wurde die Offensive abgesagt. Sie hätte einen massiven Krieg mit Hunderttausenden Toten auslösen können.
Der Abbruch ging mit tiefen Meinungsverschiedenheiten auf der höchsten Ebene des Weißen Hauses und des Pentagons einher. Die Folgen der bislang – militärisch, diplomatisch und politisch – wohl gefährlichsten und skrupellosesten Aktion der Trump-Präsidentschaft waren nicht absehbar.
Während Trumps außenpolitisches Team – angeführt vom Nationalen Sicherheitsberater John Bolton und Außenminister Mike Pompeo – den Angriff „einhellig“ unterstützte, hatten die Joint Chiefs of Staff (ein Beratergremium aus den Oberbefehlshabern der Teilstreitkräfte) offenbar Bedenken. Ihr Vorsitzender, General Joseph Dunford, „mahnte zur Zurückhaltung angesichts der Folgen eines Militärschlags und warnte, dass er die amerikanischen Streitkräfte gefährden könne“, schrieb die New York Times.
Laut dem Wall Street Journal hat Trump „seine Meinung geändert, weil er die militärischen und politischen Folgen nicht absehen konnte“. Oder, wie Stratfor es ausdrückte: „Aus Angst vor einer viel größeren Eskalation bekam Trump kalte Füße.“
Die öffentliche Diskussion drehte sich vorwiegend darum, dass der Präsident buchstäblich in letzter Minute entschieden hatte. Doch in Wirklichkeit unterstreicht die Episode insgesamt die Skrupellosigkeit, die alle Aspekte der amerikanischen Außenpolitik durchdringt.
Die Behauptung Trumps, dass er vor dem drohenden Verlust von 150 iranischen Menschenleben zurückgeschreckt sei, ist unglaubwürdig. Fest steht jedoch, dass die Vereinigten Staaten wenige Minuten vor dem Beginn eines Krieges standen, dessen militärische Folgen sie nicht ernsthaft bedacht hatten.
Das geplante Unternehmen basierte, wie frühere auch, auf katastrophalen Fehleinschätzungen: Der Iran werde tatenlos zusehen, wie das US-Militär eine Bombardierungswelle startet.
Aber der Iran überraschte die US-Befehlshaber. Mit dem Abschuss eines Spionageflugzeugs vom Typ RQ-4 Global Hawk (Kosten:130 Millionen Dollar) aus großer Höhe hatten sie eindeutig nicht gerechnet.
Offenbar hat der Abschuss der Drohne Teile des US-Militärs und Trump selbst in letzter Minute davon überzeugt, dass ihr geplanter Angriff auf den Iran viel gravierendere Folgen haben könnte, als sie erwartet hatten. Welche anderen Überraschungen wären wohl noch gefolgt, wenn ein Krieg begonnen hätte?
Der eigentliche Grund für den Rückzieher der Trump-Regierung war schlicht die Angst, dass ihre Kriegsschiffe versenkt und ihre Flugzeuge abgeschossen werden könnten. Der Mythos der militärischen Unbesiegbarkeit Amerikas hätte schweren Schaden genommen.
Die amerikanische Spionagedrohne wurde mithilfe eines Luftverteidigungssystem namens Raad abgeschossen. Diese iranische Boden-Luft-Rakete gilt als weitaus weniger leistungsfähig als die russischen Systeme S-300 und S-400, die dem iranischen Militär ebenfalls zur Verfügung stehen.
Die klare Botschaft war, dass Teheran auch in der Lage wäre, andere Flugzeuge abzuschießen, beispielsweise die F-35-Kampfjets, die Trump immer als „unsichtbar“ lobt, oder sogar den 2 Milliarden Dollar teuren Tarnkappenbomber B-2 Spirit.
Der Iran hat kürzlich eine neue Serie von Anti-Schiffs-Raketen in Betrieb genommen, die seinen Angaben zufolge in der Lage sind, amerikanische Fregatten und Flugzeugträger im Golf von Oman und im Persischen Golf zu versenken. „Wenn ihr die geringste Dummheit begeht, werden wir diese Schiffe samt Besatzung und Flugzeugen auf den Meeresgrund schicken“, warnte der iranische General Morteza Qorbani in RT.
Die geplanten Angriffe gegen den Iran sollten wahrscheinlich von dem Flugzeugträger USS Abraham Lincoln aus durchgeführt und von mindestens drei Zerstörern und einem Kreuzer in seinem Verband unterstützt werden. Aber unter den gegebenen Umständen sah sich das US-Militär gezwungen, diese Schiffe nicht nur auf der Habenseite, sondern auch als Risiko zu verbuchen. Wohin hätte es geführt, wenn der Iran eine 2 Milliarden Dollar teure Fregatte versenkt und einen beträchtlichen Teil ihrer fast 300 Mann starken Besatzung getötet hätte?
Wenn der Iran den zur Niemitz-Klasse gehörenden Flugzeugträger USS Abraham Lincoln mit 5.000 Seeleuten und fliegendem Personal an Bord versenken würde, wären die Folgen unkalkulierbar.
Entsprechend erklärte ein ehemaliges Mitglied der iranischen Revolutionsgarde gegenüber der Times: „Was in den letzten 48 Stunden passiert ist, war äußerst wichtig, um die Stärke des Iran zu zeigen und die USA zu zwingen, ihre Berechnungen zu überdenken... Aus welchem Blickwinkel man es auch betrachten mag, der Iran hat gewonnen.“
Aber die Iraner wären schlecht beraten, sich damit zu brüsten. Die Vereinigten Staaten standen nur wenige Minuten davor, einen Krieg vom Zaun zu brechen, ohne die militärischen Folgen ernsthaft bedacht zu haben. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass der nächste Zwischenfall nicht zu der Katastrophe führen könnte, die diesmal knapp vermieden wurde – sei es gegen den Iran oder ein anderes Ziel. (Man erinnere sich nur daran, dass US-Präsident Reagan 1983 zwei Tage, nachdem fast 250 amerikanische Soldaten bei den Bombenangriffen auf die Kaserne von Beirut getötet worden waren, mit der Invasion in Grenada reagierte.)
Das gesamte außenpolitische Establishment der USA ist zutiefst frustriert über den Verlauf des jüngsten Zwischenfalls, auch wenn einige seiner Vertreter zähneknirschend zugeben, dass die Folgen eines Angriffs auf den Iran nicht ausreichend berücksichtigt wurden.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
„Die Trump-Administration sollte auf diese jüngsten Angriffe mit eigenen Angriffen auf Luftverteidigungsanlagen des Irans und der Huthi, auf offensive Raketensysteme und Stützpunkte der Revolutionsgarden reagieren“, schrieb Michael G. Vickers, der unter Obama im Verteidigungsministerium für den Bereich Nachrichtendienste zuständig war, in der Washington Post. Er fügte hinzu: „Wenn man nicht zurückschlägt, werden sie nur noch dreister.“
Martha Raddatz, Moderatorin des bekannten ABC-Politmagazins This Week, fragte den als „Falken“ bekannten Kongressabgeordneten Mac Thornberry mit dringlichem Unterton, ob „irgendetwas unterhalb eines militärischen Vergeltungsschlags“ angemessen wäre, „nachdem sie grundlos eine 130-Millionen-Dollar-Drohne abgeschossen haben“.
Die Skrupellosigkeit der US-Drohungen gegen den Iran lässt sich nur durch die enorme globale und innenpolitische Krise des amerikanischen Kapitalismus erklären.
Im Grunde verleiht Trump den manischen Impulsen des amerikanischen Imperialismus lediglich einen besonders grotesken Ausdruck. Eben noch wenige Minuten davon entfernt, einen Raketenangriff gegen den Iran zu starten, kündigte er im nächsten Atemzug an, den Iran „wieder groß“ zu machen“, um dann umgehend damit zu drohen, das Land „auszulöschen“.
Eine derartige Instabilität hat ihre Ursache nicht in einem Individuum. Trump wird von Kräften gebeutelt, die sich seinem Verstand entziehen.
In den letzten dreißig Jahren, in denen unaufhörlich Krieg geführt wurde, ist innerhalb der amerikanischen herrschenden Klasse ein regelrechter Militarismuskult entstanden. Sie bildet sich ein, dass Kriege geführt werden könnten, ohne dass dies drastische Folgen hätte, auch für die Vereinigten Staaten selbst.
Es gibt unverkennbare Parallelen zu der Skrupellosigkeit, die sich vor 1914 ausgebreitet hatte, ganz zu schweigen von der Verzweiflung, die Hitler 1939 dazu brachte, den Zweiten Weltkrieg zu beginnen und dann, vor fast auf den Tag genau 78 Jahren, die Sowjetunion zu überfallen.
Die Vereinigten Staaten haben auf jede außenpolitische Katastrophe – von der Invasion in Afghanistan und im Irak bis hin zur Bombardierung Syriens und Libyens – reagiert, indem sie weitere, größere Kriege vorbereiteten.
Es gibt innerhalb der amerikanischen herrschenden Elite oder des politischen Establishments keine Grundlage für den Kampf gegen Krieg, so katastrophal er auch sein mag. Wie die World Socialist Web Site 2003 voraussagte, „steuert der amerikanische Imperialismus auf eine Katastrophe zu“. Nur die Arbeiterklasse kann verhindern, dass Amerikas Kapitalisten, ihre Generäle und ihre Spione die gesamte Menschheit mit sich in den Abgrund reißen.