Stahlindustrie: IG Metall vereinbart Reallohnkürzungen

Die IG Metall hat am Wochenende für die Beschäftigten der nordwestdeutschen Stahlindustrie eine Senkung des Reallohns sowie einen 26-monatigen Streikverzicht vereinbart.

Die Gewerkschaft hat sich in der Nacht zum Sonntag mit den Vertretern der nordwestdeutschen Eisen- und Stahlindustrie auf einen neuen Tarifvertrag geeinigt. Danach steigen die Löhne für die rund 72.000 Beschäftigten ab März 2019 um 3,7 Prozent und bleiben anschließend bis Ende Februar 2021 konstant. Für die beiden ersten Monate des Jahres 2019 gibt es eine Einmalzahlung in Höhe von 100 Euro. Auszubildende erhalten in zwei Stufen je nach Ausbildungsjahr eine Erhöhung ihrer Vergütung von 88 Euro bis 188 Euro.

Das Ergebnis bedeutet auf das Jahr umgerechnet – ohne das einmalige Almosen von 100 Euro für die Monate Januar und Februar – eine Steigerung von gerade einmal 1,7 Prozent. Das liegt unter der Inflationsrate (1,9 Prozent im letzten Jahr). In die Verhandlungen war die IG Metall mit der Forderung von 6 Prozent gegangen, bei einer Laufzeit von 12, nicht wie jetzt vereinbart 26 Monaten.

Die IG Metall rechtfertigt die Reallohnkürzung mit der Einführung eines Urlaubsgeldes von 1000 Euro, das ab Sommer 2020 ausgezahlt werden soll. Gefordert hatte die IG Metall 1600 Euro.

Der IG Metall-Bezirksleiter in Nordrhein-Westfalen Knut Giesler erklärte: „Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wir haben eine ordentliche Entgelterhöhung erreicht.“ Die 1000 Euro Urlaubsgeld bezeichnete er als „starke soziale Komponente“, weil davon vor allem untere Lohngruppen profitierten.

Dieses Geld kann wahlweise auch in freie Zeit umgewandelt werden. Nach dem Abschluss in der Metall- und Elektroindustrie hat die IG Metall diese Regelung nun auch in der Stahlindustrie vereinbart. Viele Arbeiter brauchen mehr Urlaub, weil die Arbeitsbelastung gestiegen ist. Das ist eine direkte Folge des Arbeitsplatzabbaus in der Stahlindustrie, den die IG Metall in den letzten Jahrzehnten mit organisiert hat.

1980 waren in der Eisen- und Stahlindustrie noch 288.000 Arbeiter beschäftigt, im Jahr 2017 waren es nur noch 96.000. Unter jeder Vereinbarung zum Arbeitsplatzabbau stand die Unterschrift der IG Metall. Die Produktion ist dabei gesunken, die Produktivität wurde auf Kosten der Gesundheit der Beschäftigten gewaltig gesteigert.

Die Gewerkschaft bezeichnet die Möglichkeit, Geld in Urlaub umzuwandeln, beschönigend als „Arbeitszeitsouveränität“. Damit trage sie „dem Wunsch der Beschäftigten nach mehr Selbstbestimmung, Entlastung und mehr Freiräumen für das Private Rechnung“.

Ganz so souverän ist der einzelne Stahlarbeiter dann aber doch nicht. Es seien beim jetzigen Ergebnis bis zu fünf freie Tage möglich, schreibt die Gewerkschaft. „Die tatsächliche Anzahl der umwandelbaren freien Tage bestimmt sich nach der Gesamtmenge der Anträge in einem Betrieb“, so die IGM. „Bei vielen Anträgen reduzieren sich die freien Tage für den Einzelnen. Können nicht alle gewünschten freien Tage realisiert werden, werden diese ausgezahlt.“

Was „viele Anträge“ sind, ist bislang unklar, hier steckt womöglich noch der Teufel im Detail.

Der Tarifabschluss ist ein Schlag ins Gesicht der Stahlarbeiter, die aufgrund der niedrigen Lohnabschlüsse der letzten Jahre und der sich verschärfenden Arbeitshetze dringend mehr Lohn und mehr Urlaub brauchen. Sie haben in den Betrieben und mit Warnstreiks bewiesen, dass sie kampfbereit sind.

Der Dank von Giesler wird ihnen bitter aufstoßen. Der IGM-Funktionär erklärte, der „Kompromiss“ sei nur möglich gewesen, weil 26.000 Stahlarbeiter die Forderungen der IGM durch ihre Teilnahme an Warnstreiks unterstützt hätten. „Dafür möchte ich allen herzlich danken. Ohne diesen großen Rückhalt hätten wir dieses große Tarifpaket nicht schnüren können“, behauptete Giesler.

In Wirklichkeit liegt das Ergebnis nur geringfügig über dem ersten Angebot, das die Stahlkonzerne am 18. Februar vorgelegt hatten: eine Entgelterhöhung von 2,5 Prozent zum 1. April 2019 sowie ab Juli 2020 eine jährliche Urlaubsvergütung in Höhe von 600 Euro. Die Laufzeit des Vertrags sollte nach den Wünschen der Unternehmen 27 Monate betragen.

Die Arbeiter waren damals über diese „Provokation“ empört. Beim größten deutschen Stahlhersteller, Thyssenkrupp in Duisburg, sprachen sich zwei Schichten für die Ablehnung des Angebotes aus und forderten die Tarifkommission auf, einen 24-Stunden-Streik vorzubereiten.

Viele Thyssenkrupp-Arbeitern lehnen den nun vereinbarten Abschlusses daher ab. In Facebook-Gruppen äußerten sie ihren Unmut und ihre Enttäuschung. „Einfach die Laufzeit so lange strecken, bis wir deutlich über 3 % kommen, ist schon ein billiger Trick“, schreibt ein Arbeiter. „Lächerlich“ und „Armutszeugnis“ lauten die diplomatischsten Reaktionen.

„Unsere Vertreter haben uns verkauft, selbst die VKL [Vertrauenskörperleitung] lobt diesen Abschluss“, beschwert sich ein Arbeiter. „Alles Luschen, wenn ich an die Parolen denke, die Lieske, dieser IGM-Dinosaurier, bei uns am Tor 9 losgelassen hat, könnte ich kotzen.“ Andere Kommentare lauten: „Die Frechheit ist doch dabei, dass die sich für das Ergebnis auch noch feiern ...“ und: „Ein Mitglied weniger.“

Ein Stahlarbeiter verweist darauf, dass die IG Metall seit Jahrzehnten keinen Streik organisiert habe und die Streikkasse voll sei. Dieses Ergebnis sei nicht „die Forderung der Belegschaft“. Mehrere treten dafür ein, „weiter zu kämpfen“ und den Tarifvertrag abzulehnen. Ob die IG Metall überhaupt darüber abstimmen lässt, ist bislang nicht bekannt.

Die Gewerkschaft war von Anfang darauf erpicht, die Tarifrunde möglichst schnell zu Ende zu bringen. Als die fünfte Verhandlungsrunde am 11. März wegen der Krankheit des Chefs von Thyssenkrupp-Stahl, Andreas Goss, ausfiel, drängte Giesler von der IG Metall, die Gewerkschaft wolle „jetzt schnellstmöglich am Verhandlungstisch zu einem vernünftigen Ergebnis kommen“.

Die Eile der Gewerkschaft hatte zwei Gründe. Zum einen wollte sie nicht, dass die Stahltarifrunde in NRW mit der in der ostdeutschen Stahlindustrie zusammenkommt, die derzeit noch läuft. Vor allem aber wollte sie, dass die von ihr befürwortete Fusion der Stahlbereiche von Thyssenkrupp und Tata reibungslos über die Bühne geht.

Bereits nach der ursprünglichen Planung kostet diese Fusion mindestens 4000 Arbeitsplätze, je zur Hälfte bei ThyssenKrupp und bei Tata Steel. Doch nun hat die Kartellbehörde der Europäischen Kommission Auflagen gemacht. Sie fordert den Verkauf von Unternehmensteilen, die Auto-, Elektro- und Verpackungsstahl produzieren. „Beim Verpackungsstahl wollen sich die Konzerne wegen der starken Marktposition von Teilen trennen“, berichtet die Website Der Aktionär.

Verpackungsstahl – Weißblech – wird bei Thyssenkrupp vor allem im Werk Rasselstein hergestellt. Dort arbeiten 2400 Menschen. Was sie zu erwarten haben, wird sich spätestens bis April zeigen, wenn die beiden Konzerne ihre Pläne der EU-Behörde vorlegen müssen.

Mit dem vereinbarten Abschluss hat die IG Metall Tarifstreiks für die nächsten 26 Monate unterbunden. Sie verschafft damit den Stahlkonzernen die nötige Ruhe, um die Umstrukturierung gegen die Belegschaft durchzusetzen.

Der Tarifvertrag erfasst zudem nur einen Teil der Stahlarbeiter. In den Betrieben arbeiten inzwischen auch zahlreiche Leiharbeiter zu Hungerlöhnen. Die Leih- und Werkvertragsarbeiter werden von der IG Metall benutzt, um die Belegschaften zu spalten, damit die Konzerne die Personalkosten senken können.

Bei Thyssenkrupp in Duisburg sagte ein Leiharbeiter der WSWS, es wäre wichtig, „bei den Leiharbeitern hinzuschauen, die immer bei ihrem Mindestlohn von 9,49 Euro pro Stunde stehen bleiben“. Er selbst bekomme im Monat weniger als 1100 Euro ausbezahlt. Dabei verrichte ein Leiharbeiter die selbe Tätigkeit wie ein Festangestellter. Zudem verlören die Leiharbeiter als erste ihren Job, wenn Arbeitsplätze abgebaut würden.

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