Neue Holocaust-Studie: Bis zu 15.000 Juden täglich ermordet

Eine neue Studie des Biomathematikers Lewi Stone hat ergeben, dass von August bis November 1942 täglich bis zu 15.000 Juden ermordet wurden.

Laut der Studie mit dem Titel „Quantifying the Holocaust: Hyperintense kill rates during the Nazi genocide“ (Der Holocaust in Zahlen: Dramatische Tötungsraten beim Völkermord der Nazis) übersteigt diese Zahl der täglichen Tötungen die Todesrate jedes anderen dokumentierten Völkermords im 20. Jahrhundert. In diesen drei Monaten wurden mindestens 1.47 Millionen Juden getötet, das sind mehr als ein Viertel aller Opfer des Völkermords der Nazis an den europäischen Juden.

Stone stützte seine Studie und die grafischen Darstellungen, die er in der wissenschaftlichen Fachzeitschrift Science Advances Anfang 2019 veröffentlichte, auf die Daten über die Deportationszüge zu den Vernichtungslagern Treblinka, Sobibór und Bełżec. Der israelische Historiker Yitzhak Arad hatte sie erhoben und 1987 in seinem Buch über die Aktion Reinhardt veröffentlicht.

Die Aktion Reinhardt begann zwei Monate nach der Wannsee-Konferenz vom Januar 1942. Bei dieser Zusammenkunft berieten 15 führende Beamte des Nazi-Regimes, die Besatzungsbehörden und die Wehrmacht über die konkrete Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“, wie die Nazis die gezielte Vernichtung von Europas Juden schönfärberisch bezeichneten.

Benannt nach dem Nazi-Führer Reinhard Heydrich, der 1942 einem Attentat zum Opfer fiel, war die Aktion Reinhardt „der größte Massenmord des Holocaust“, so Stone. Er richtete sich gegen die annähernd 2 Millionen polnischen Juden, die im so genannten Generalgouvernement lebten, das die Nazis nach ihrem Einmarsch in Polen 1939 errichtet hatten.

Der industriell organisierte Massenmord fand weitgehend in drei Todeslagern statt: Treblinka, Sobibór und Bełżec. 99.9 Prozent der Insassen kamen hier zu Tode. Von Treblinka, wo beinahe 900.000 Juden ermordet wurden, sind nur 50 Überlebende belegt. Etwa genauso viele überlebten Bełżec; über 600.000 starben dort.

Die zentrale Bedeutung der Aktion Reinhardt im Rahmen des Holocaust ist schon länger bekannt, jedoch ist vieles noch unerforscht. Den Nazis war daran gelegen, alle Aufzeichnungen darüber zu vernichteten, und die industriell organisierten Vergasungen fanden unter strenger Geheimhaltung statt.

Die Operation erstreckte sich formal von März bis November 1942. Stone zeigt aber auf, dass das massenhafte Morden von August bis November 1942, d.h. 92 Tage lang, am heftigsten wütete.

Am 19. Juli 1942 erteilte Heinrich Himmler, Chef der Waffen-SS, den Befehl, dass alle Juden im Generalgouvernement Polen bis Ende Dezember 1942 zu liquidieren seien.

Stone betont den direkten Zusammenhang zwischen der nun einsetzenden Intensivierung der Tötungen und einem Befehl Adolf Hitlers. SS-Führer Gerstein berichtete am 15. August 1942, der Führer habe befohlen, alle Maßnahmen „schneller“ durchzuführen. (Ein anderes Buch nennt den 23. Juli 1942 als Datum des Befehls.)

Dieses „Schneller“ machte sich sofort in Massendeportationen bemerkbar. Die Auflösung des Warschauer Ghettos, des größten Ghettos in Europa, begann am 22. Juli 1942 mit Massendeportationen nach Treblinka. Sieben Wochen lang verließ mindestens ein Zug täglich mit durchschnittlich 5000–6000 Opfern das Ghetto. Viele der Deportierten starben auf der Strecke. Alle anderen wurden unmittelbar nach ihrer Ankunft in Treblinka in den Gaskammern getötet. Nach Berechnungen von Stone wurde 105 Tage lang, vom 22. Juli bis 14. November 1942, „schneller“ gemordet.

Die Studie zitiert die Aussage eines der wenigen Überlebenden von Bełżec, Rudolf Beder: „Während dieser drei Monate sah ich jeden Tag einen ‚Transport‘ von 50 Waggons mit jeweils 100 Gefangenen – also 5000 Opfern – nach Bełżec. Ein zweiter identischer ‚Transport‘ kam jeden Abend an. Diese Gefangenen wurden in Waggons ohne Nahrung und Wasser bis um 6 Uhr des folgenden Morgens festgehalten. Mindestens 10.000 Opfer wurden alle 24 Stunden ermordet. Es gab auch Tage, da kamen drei ‚Transporte‘ an. An manchen Tagen bestand ein ‚Transport‘ aus mehr als 50 Waggons. Die ‚Transporte‘ trafen an sieben Tagen die Woche ein.“

In diesen 105 Tagen „wurden mindestens 1.32 Millionen Menschen von den Nazis ermordet. Davon wurden 292.000 erschossen. Die Aktion Reinhardt ist also nicht nur der größte organisierte Massenmord des Holocaust. Er wurde auch sehr viel schneller durchgeführt, als bisher erkannt worden war.“

Ende 1942 gab es im Generalgouvernement nur noch wenige Juden, und die Nazis konzentrierten sich nun darauf, die verbleibenden Juden in Europa nach Auschwitz-Birkenau zu bringen und dort zu ermorden. Hier lag die Tötungsrate 1944 am höchsten. Allein im Sommer 1944 wurden ca. 400.000 Juden aus Budapest in Auschwitz innerhalb weniger Wochen vergast.

Stone weist darauf hin, dass die Tötungsrate des Holocaust während der Aktion Reinhardt um etwa 80 Prozent höher lag als bei den Massakern in Ruanda, die wiederholt als noch mörderischer als der Holocaust bezeichnet worden sind. In einem Interview mit Scientific American sagte Stone, die Tötungsrate des Holocaust wird „um das Sechs- bis Zehnfache zu niedrig eingeschätzt“.

Monatliche Todesrate im Holocaust, 1942–1943 [Graphik: Lewi Stone, Science Advances] [Photo: Lewi Stone in Science Advances]

Stone erklärte in dem Interview auch die Bedeutung seiner Studie: „Die Aktion Reinhardt gilt zwar als das mörderischste Tötungsprogramm des Holocaust, doch das außerordentliche Tempo, in dem sie durchgeführt wurde, um die jüdische Bevölkerung auszulöschen, wurde in der Vergangenheit falsch beurteilt und ist der breiten Öffentlichkeit beinahe vollständig unbekannt. Der kurze Zeitraum der Operation lässt eine gewaltige Koordinationsleistung einer staatlichen Maschinerie erkennen, die dem Willen des Führers, ein Volk zu vernichten, ergeben war. Die Daten über die Zugbewegungen zeigen, wie jüdische Gebiete in organisierter Weise sukzessive entvölkert wurden, und wie die hohen Tötungsraten in selektierten Gebieten erreicht wurden. Die Tötungsraten wurden erst kleiner, als den Nazis die Opfer ausgingen. Die grafischen Darstellungen dieser Daten und ein Film dazu zeigen deutlich die Geschwindigkeit und Raserei dieses Massenmordes.“

In Wolhynien erschossen die Nazis etwa 150.000 Menschen. Im nördlichen Generalkommissariat mindestens 70.000, und in Podolien etwa 10.000. Viele dieser Erschießungen fanden in „improvisierten Todeslagern“ statt, wie Gerlach sich ausdrückte.

Bronnaya Gora war eines dieser Lager, wohin Menschen teilweise in Deportationszügen kamen. SS-Führer Hans-Adolph Prützmann berichtete, dass vom 1. August bis 30. November 1942 über 363.211 Juden ermordet wurden, davon 271.071 im September und Oktober des Jahres. (Christian Gerlach, Krieg, Ernährung, Völkermord. Deutsche Vernichtungspolitik im Zweiten Weltkrieg, Zürich 2002, S. 222-223.)

Mit anderen Worten, Stones geschätzte Tötungsrate für diesen 3-Monats-Zeitraum müsste nach oben korrigiert werden, wenn man die gleichzeitig mit der Aktion Reinhardt durchgeführten Tötungsoperationen berücksichtigt.

Insgesamt wurden von den geschätzten 6 Millionen der von den Nazis getöteten Juden mehr als die Hälfte zwischen März 1942 und März 1943 ermordet, und, wie Stone zeigt, mehr als ein Viertel in nur 3 Monaten.

Die Nazis und sämtliche rechtsextremen Bewegungen in Europa sahen in den Juden die Hauptstütze und die Führung der sozialistischen und marxistischen Bewegung. Die Juden wurden in Deutschland erstmals nach 1933 und dann in den Ländern unter Nazi-Besatzung systematisch verfolgt. Völkermordähnliche Massaker an Juden (Kinder, Frauen und ältere Menschen eingeschlossen) begannen mit dem Angriff der Nazi-Truppen gegen die Sowjetunion am 22. Juni 1941. Ende 1941 waren durch Massaker der SS-Einsatzgruppen und der Wehrmacht etwa 1 Million sowjetischer Juden umgekommen.

Darüber hinaus starben Hunderttausende an Krankheiten und Hunger, ein Resultat der Politik der Vernichtung durch Aushungern, die die deutschen Besatzungsbehörden im besetzten Polen verfolgten. Allein im Warschauer Ghetto, das einen Höchststand von 400.000 Bewohnern erreichte, starben etwa 100.000 an Hunger und Krankheiten wie Typhus, bevor die Massentransporte zu den Vernichtungslagern begannen.

Trotz dieser grausamen Verbrechen war bis Frühjahr 1942 die größte einzelne Gruppe, die Opfer der Nazis wurde, nicht die Juden, sondern die sowjetischen Kriegsgefangenen, die man im Herbst1941 bis zum Frühjahr 1942 in Lagern und auf Todesmärschen geplant verhungern ließ. Jeden Monat starben so etwa 300.000 Menschen. 85–90 Prozent aller sowjetischen Kriegsgefangenen wurden getötet. Die Nazis ermordeten bis Kriegsende insgesamt über 3 Millionen sowjetische Kriegsgefangene, davon über 2 Millionen bis zum Frühjahr 1942.

Gerlach hat überzeugend nachgewiesen, dass die Lebensmittelkrise im Deutschen Reich, die sich auf Wehrmacht und deutsche Zivilbevölkerung auszuwirken drohte, ein wesentlicher Grund für die enorme Eskalation und Beschleunigung des bereits geplanten Massenmordes an den polnischen Juden 1942 im Generalgouvernement und in Wolhynien und Podolien war.

Die Vermeidung einer Hungersnot im Deutschen Reich stand für die Nazi-Führung an oberster Stelle, denn im Ersten Weltkrieg hatte die Hungersnot von 1917/1918, zusammen mit der russischen Oktoberrevolution, direkt zur Radikalisierung der deutschen Arbeiterklasse und zum Ausbruch revolutionärer Kämpfe beigetragen, die 1918 ausbrachen und bis 1919 anhielten.

Die nationalsozialistische Besatzung traf auch immer mehr auf massenhaften Widerstand in ganz Europa, so in Frankreich, Jugoslawien, den besetzten Ländern und auf sowjetischem Territorium in Osteuropa. So erklärt es sich, dass die Nazis unter Bedingungen einer scharfen Krise des deutschen Imperialismus, und von materiellen wie ideologischen Motiven angetrieben, völkermörderische Massaker in einem Ausmaß und in einem Tempo verübten, wie es die Welt weder vorher noch nachher je erlebt hat.

Stones Studie ist sehr wichtig, weil sie das Ausmaß der Nazi-Verbrechen ins Zentrum rückt. Sie gewinnt in der heutigen Situation noch an Bedeutung, weil Deutschland und bürgerliche Staaten die Faschisten wieder weltweit aktiv fördern.

Der Aufbau der extremen Rechten gegen die Arbeiterklasse geht mit systematischer Geschichtsfälschung und Versuchen staatlicher Akademiker einher, die Verbrechen des Faschismus im 20. Jahrhundert zu verharmlosen. Jörg Baberowski von der Berliner Humboldt-Universität personifiziert diese internationale Tendenz am deutlichsten. Er erklärte, dass „Hitler nicht grausam“ war; angeblich habe er nicht gewoll, dass an seinem Tisch über die Judenvernichtung gesprochen wurde.

Stones Berechnungen und grafische Aufbereitungen tragen dazu bei, den kriminellen Charakter dieser Politik und der Geschichtslügen offenzulegen.

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